Dr. Seltsams Kinder
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Den Begriff „nukleares Wettrüsten” hatte die Welt zu den Akten gelegt. Doch pünktlich zu dem Hiroshima-Besuch von US-Präsident Barack Obama taucht er wieder auf. Das klingt abwegig, ist aber berechtigt.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Als die „Air Force One“ am Freitagabend japanischer Zeit auf einem Flugfeld nahe Hiroshima aufsetzte, war der Schatten des US-Präsidenten wie immer dabei: Jener Soldat, der den Koffer trägt, in dem alles Nötige ist, damit der Präsident von jedem Ort der Welt aus einen Atomschlag befehlen kann. Er war auch dabei, als Barack Obama 2009 einer überraschten Weltöffentlichkeit in Prag verkündete, sich für eine atomwaffenfreie Welt einzusetzen. Er dürfte nicht weit entfernt vom Nobel-Friedenszentrum gewartet haben, in dem Obama den Friedensnobelpreis entgegennahm und nicht weit entfernt vom Repräsentantenhaus in Washington, dessen Abgeordnete nur ein Jahr später für eine billionenschwere Modernisierung der US-Atomwaffen stimmten.

Als Barack Obama US-Präsident wurde, begleiteten ihn die Hoffnungen von Millionen Menschen. Ein paar konnte er erfüllen: Er stabilisierte die US-Wirtschaft nach der Finanzkrise, führte eine Krankenversicherung ein und schloss einen Atom-Deal mit dem Iran. Ein paar musste er enttäuschen: Das Gefangenenlager Guantanamo ist immer noch in Betrieb – und für die Vernichtung der US-Atomwaffen hat er nicht viel getan. Im Gegenteil.

Menschen, die die Entwicklung der „strategischen Arsenale“ (so heißen Atomwaffen im Militärsprech) verfolgen, warnen: „Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen nuklearen Wettrüsten“, behauptet etwa William J. Perry, ein ehemaliger Verteidigungsminister der USA. Ähnliches sagen Außenpolitikexperten und Abrüstungsaktivisten.

Aber was ist dran?

Was gegen die These eines neuen Wettrüstens spricht:

1. Der Kalte Krieg ist vorbei

Auch wenn sich manche angesichts des Ukraine- und Syrien-Konflikts an den Kalten Krieg erinnert fühlen: Die Zeit der frontalen Konfrontation zwischen USA und der Sowjetunion ist vorbei. Und mit ihr ist der Tunnelblick gewichen. „Die Beschaffung und Modernisierung der amerikanischen und russischen Atomwaffen ist nicht mehr zuerst am nuklearen Potential des jeweils anderen ausgerichtet”, sagt Oliver Meier, Rüstungsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Während zwischen 1945 und 1991 jede militär- und außenpolitische Bewegung mit Blick auf den Gegner vollzogen wurde, bewegen sich heute beide Mächte freier. Es gibt kein „mad momentum“ mehr, keine sich schnell drehende Aufrüstungsspirale.

2. Die Zahl der Atomwaffen steigt nicht

Gäbe es diese Spirale, würde die Zahl der Atomwaffen steigen. Das tut sie aber nicht. Die USA bleiben derzeit sogar unter der Grenze, die ihnen der Abrüstungsvertrag „New Start“ setzt.

3. Es gibt kaum neue Nuklear-Technologien

Das Wettrüsten im Kalten Krieg begann mit einer einfachen Freifall-Atombombe. Aber in nur zwei Jahrzehnten entwickelten Techniker im Osten wie Westen immer neue Trägersysteme und nukleare Technologien. Auf die Atombombe folgte die Wasserstoffbombe. Darauf die ersten Raketen mit nuklearen Sprengköpfen, noch landgestützt, später auch von U-Booten abfeuerbar, immer weiter fliegend, immer präziser. Interkontinentalraketen, mit mehreren Sprengköpfen.

Auch wenn die USA und China an Raumgleitern arbeiten, die mit Nuklearwaffen bestückt werden können, gibt es heute keine vergleichbare Dynamik. „In der aktuellen Konkurrenz zwischen den USA und Russland geht es darum, die alten Sachen mit neuen zu ersetzen“, schreibt Nuklearwaffen-Experte Michael Krepon im Fachblog Arms Control Wonk. „Die Zahl der Sprengköpfe ist limitiert und die interessantesten neuen Technologien gibt es im konventionellen, nicht im nuklearen Bereich.“

4. Niemand testet mehr – außer Nordkorea

Obwohl die USA, Indien und China den Kernwaffen-Teststopp-Vertrag noch nicht ratifiziert und mehrere andere Staaten noch nicht einmal unterschrieben haben, ist das Atompilz-Tabu stark wie nie. Der letzte oberirdische Test liegt 36 Jahre zurück, der letzte unterirdische nur wenige Monate. Dieser wurde allerdings von Nordkorea ausgeführt, einem Pariah-Staat, der sich internationalen Normen grundsätzlich nicht beugt. Ohne Tests ist es fast unmöglich, neue Waffen zu entwickeln, und es ist schwieriger, die alten einsatzfähig zu halten.

Eine US-Soldatin arbeitet auf einer Basis in Rumänien mit einem Kameraden an einem Generator. Im Hintergrund ist ein Raketenabwehrsystem zu sehen, das vor wenigen Wochen scharfgeschaltet wurde.

Eine US-Soldatin arbeitet auf einer Basis in Rumänien mit einem Kameraden an einem Generator. Im Hintergrund ist ein Raketenabwehrsystem zu sehen, das vor wenigen Wochen scharfgeschaltet wurde. Foto: U.S. Navy/Lt. Cmdr. Mike Billips

Was für die These spricht

1. Es gibt neue Waffensysteme, die die nukleare Balance beeinflussen

Eine der „interessanten neuen Technologien“, von denen Experte Krepon in seinem Kommentar spricht, ist unter anderen das Raketenabwehrsystem der NATO (aber betrieben nur von den USA), das vor wenigen Wochen aktiv wurde. Von Stützpunkten in Rumänien und später Polen aus soll das System in der Lage sein, iranische Raketen abzufangen und so Europa zu schützen. Russland allerdings behauptet, mit einigem Recht, dass der Abwehrschirm auch dem Zweck diene, sich vor russischen Raketen zu schützen und er deswegen das nukleare Gleichgewicht in Europa verändere. Russland hatte den USA angeboten, das System gemeinsam zu betreiben. Die aber lehnten ab, weil das technisch nicht möglich sei. Um weiterhin auch Europa bedrohen zu können, hat Russland wohl Iskender-Raketen in seine Enklave in Kaliningrad verlegt.

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Gleichzeitig arbeiten Russland und China an Waffen, mit denen sie die Satelliten der USA ausschalten können, die wiederum dringend nötig sind, um Raketen ins Ziel zu steuern.

2. Die Drohungen und militärischen Übungen Russlands sind Anzeichen, dass sich die Nukleardoktrin des Landes geändert hat

Außerdem hat sich die Rhetorik Russlands in den vergangenen Jahren, insbesondere seit Beginn der Ukraine-Krise, verändert. Der russische Botschafter in Dänemark meinte im März 2015, dass dänische Schiffe Ziele von Atomschlägen werden könnten, sollte sich das Land dem Raketenabwehr-Programm anschließen. Nur zehn Tage später drohten hochrangige russische Generäle US-amerikanischen Generälen den Einsatz von Atomwaffen an, falls versucht werden sollte, die Halbinsel Krim wieder der Ukraine anzuschließen. Parallel dazu hielt die russische Armee mehrere Übungen ab, in denen laut NATO-Militärs auch der Einsatz von Atomwaffen trainiert wurde. Zwar hat sich Russlands offizielle Haltung zum Einsatz von Nuklearwaffen laut der 2014 veröffentlichten Nuklear-Doktrin nicht geändert, aber Übungen und Drohungen deuten darauf hin, dass es Verschiebungen gab, die nicht lautstark verkündet wurden.

3. Die USA und Russland stecken Hunderte Milliarden in die Modernisierung ihrer nuklearen Waffensysteme

Das stärkste Argument für einen neuen nuklearen Rüstungswettlauf sind die bekanntgewordenen Pläne der USA und Russlands, ihre Atomwaffen zu modernisieren. Vor sieben Jahren beschloss Russland, seine veralteten SS-18-Raketen durch die neueren SS-30-Raketen zu ersetzen. Zwar sind diese kaum leistungsfähiger, aber allein die Entscheidung, neue Raketen anzuschaffen, hat Signalwirkung. Auch die USA haben begonnen, ihre Atomwaffensysteme zu modernisieren – die zum Teil noch mit Diskettenlaufwerken arbeiten. Insgesamt eine Billion Dollar, gestreckt über mehrere Jahrzehnte, haben Senat und Repräsentantenhaus 2010 genehmigt, um die komplette „Triade der Trägersysteme“, also landgestützte Raketen, U-Boote und Bomber, zu modernisieren. Dieses Modernisierungsprogramm war der politische Preis, den Barack Obama zahlen musste, damit die Abgeordneten den Abrüstungsvertrag „New Start“ ratifizieren.

Besonderes Augenmerk verdient dabei die B-61-Atombombe, die am weitesten verbreitete Kernwaffe der USA, die nach einem Einsatzbefehl auch von deutschen Tornado-Jets abgeworfen wird. Diese Waffe wird generalüberholt – und nach Ansicht von Militärs und Abrüstungsaktivisten auch verbessert. Denn die alte Version der B-61 war eine Freifall-Bombe, die neue bekommt eine Präzisionssteuerung. Noch wichtiger: die Militärs haben dann die Möglichkeit, die Sprengkraft der Waffe anzupassen. Dadurch wird die Waffe leichter benutzbar, wie auch James Cartwright, ehemaliger Vorsitzender des US-Generalstabes, zugibt.

Das Fazit

Gibt es ein Wettrüsten wie im Kalten Krieg heute wieder? Nein. Weder entwickeln die Atommächte beständig neue Trägersysteme, noch füllen sie ihre Arsenale mit Tausenden neuen Bomben. Gibt es ein anderes, neuartiges Wettrüsten zwischen den USA und Russland? Das schon eher. Ausgelöst durch neue, konventionelle Technologien könnte sich die eine oder andere Seite gedrängt fühlen, in Maßen aufzurüsten.

Allerdings führt der Fokus auf den USA-Russland-Gegensatz auch in die Irre. „Es gibt neue Rüstungswettläufe, sie sind aber vor allem regional bestimmt“, sagt Oliver Meier. „Schauen Sie mal nach Asien mit dem Dreieck Indien-Pakistan-China. Dort gibt es kein Rüstungsdilemma mehr, sondern ein Rüstungstrilemma. Die Welt ist heute komplizierter als im Kalten Krieg.“


Aufmacher-Grafik: Thomas Weyres und Sibylle Jazra für Krautreporter.

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