Das Märchen von Europas Unschuld
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Das Märchen von Europas Unschuld

Viele Menschen fliehen, weil Europa ihre Heimatländer ausbeutet und in Abhängigkeit hält.

Profilbild von Von Rico Grimm, Houssam Hamade und Christoph Sorg

Warum fliehen Menschen? Welche Schuld trägt Europa? Und was kann der Kontinent tun, um die Lebensumstände in den Heimatländern der Fliehenden zu verbessern? Als ich vor ein paar Wochen von euch wissen wollte, welche Fragen zu Migration und Flucht noch offen sind, schrieben viele zurück: Was ist mit den Fluchtursachen? Das traf sich gut: Nur kurze Zeit später schickten mir auch der Journalist Houssam Hamade und der Wissenschaftler Christoph Sorg eine Mail: „Lieber Herr Grimm, gerade habe ich mit einem Kollegen gemeinsam einen Artikel fertiggestellt, in dem wir über Europas Schuld sprechen, in direktem Bezug auf einige aus unserer Sicht problematische Stellen in Ihrem Artikel.”

Die beiden antworteten auf einen Text aus dem September, in dem ich die These aufstelle, dass Europa erstens nur wenig Schuld an den Fluchtbewegungen trage und zweitens kaum etwas tun könne, um die Menschen von der Flucht abzuhalten – Rico Grimm.


„Die Mär von Europas Schuld“ überschrieb Krautreporter Rico Grimm einen Artikel, in dem er im vergangenen Herbst diskutierte, welche Schuld Europa an den Flüchtlingsbewegungen trägt. Er stellt darin zu Recht die Konzeption der „Entwicklungshilfe“ und verschiedene Mittel der außenpolitischen Einflussnahme infrage. Das ist sinnvoll. Es ist auch sinnvoll zu betonen, dass Europa nicht verantwortlich für alles Elend dieser Welt ist. Es irritiert aber, dass Grimm „kaum“ eine Schuld Europas sieht, und beispielsweise lediglich in einem Nebensatz die globalen Ausbeutungsverhältnisse andeutet, die Abermillionen Menschen überall auf der Welt ins Elend treiben. Und die verhindern, dass sie daraus emporwachsen können.

Eine solche Darstellung ist deshalb ein Problem, da die Öffentlichkeit das Ausmaß der Ausbeutung oft nicht auf angemessene Weise wahrnimmt. Immer wieder werden wichtige Zusammenhänge sogar ausgeblendet. Die Ursache für Armut und Elend wird oft ausschließlich in der „rückständigen“ Kultur der jeweiligen Länder gesucht. Dieser Blick ignoriert beispielsweise den von den reichen Industriestaaten maßgeblich mit verursachten Klimawandel, der in Zukunft für Kriege und riesige Migrationsströme sorgen wird. Er ignoriert auch die Folgen des Irakkriegs und die Konsequenzen der darauf aufbauenden katastrophalen Besatzungspolitik. Auch dass europäische und deutsche Waffen überall auf der Welt mitmorden, blendet eine solche Haltung aus. Es ist aber wichtig, die eigene Verstrickung in diese Zustände anzuerkennen, um sie tatsächlich auch ändern zu können.

Das System globaler Ausbeutung erzeugt Instabilität – und Europa profitiert davon

Da hier nicht alle Punkte abgearbeitet werden können, wollen wir uns auf das System globaler Ausbeutung konzentrieren, von dem Europa profitiert und das in vielen Fällen Armut und Instabilität erhält oder sogar erzeugt. Das einfachste Beispiel dafür ist vielleicht Kolumbien: Hier sind sechs Millionen Menschen auf der Flucht vor einem mörderischen Drogenkrieg. Dieser Krieg wird wesentlich durch die Drogennachfrage aus Europa und den USA verursacht sowie durch den gleichzeitig von den USA ausgerufenen „War on Drugs“. Selbstverständlich sind dabei auch lokale, mafiöse Eliten beteiligt. Die Schuld liegt also nicht alleine beim „Westen“, aber sehr wesentlich.

Nun betrifft diese Flüchtlingssituation Europa nicht, darum wandern wir mit dem Blick in Richtung Afrika. Westliche Interpreten sehen das Problem gerne nur darin, dass die dortigen Gesellschaften undemokratisch, die Staatsdiener korrupt, die Volkswirtschaften ineffizient seien. Diese Vorstellung folgt dem uralten Märchen der europäischen Überlegenheit, die quasi eine self made Superpower sei, die sich im eigenen Schopf nach oben gezogen hat. Auch Grimm folgt mehr oder weniger dieser einseitigen Sichtweise, indem er auf Acemoglus und James Robinsons Buch „Warum Nationen scheitern“ verweist. Deren Hauptthese: Demokratische Institutionen eines Landes entscheiden über das wirtschaftliche Wohl und Wehe der jeweiligen Nationen.

Das Buch ist hilfreich, will man den Sinn dieser Institutionen nachvollziehen. Aber der Anspruch, damit alleine zu erklären, was den Zustand von Volkswirtschaften bestimmt, geht zu weit. Denn die Rolle globaler Interaktion zwischen Staaten und Regionen samt den sehr offensichtlichen Machtgefällen lassen Acemoglu und Robinson aus dem Blick. Politische Institutionen entwickeln sich unter dem Einfluss lokaler Akteure „von unten“ sowie mächtiger Staaten und globaler Prozesse „von oben“. Die politischen und wirtschaftlichen Institutionen vieler Staaten im globalen Süden sind durch Koalitionen aus lokalen Eliten und kolonialen Mächten entstanden. Nachlesen lässt sich das beispielsweise bei Samir Amin.


Houssam Hamade ist freier Journalist und Autor sowie im „zweiten Bildungsweg“ Masterstudent der Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität. Neben Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitungen finden sich seine Texte auf seiner Homepage: Houssam Hamade

Foto: privat

Christoph Sorg promoviert in Soziologie und Politikwissenschaft in Berlin und Tunis. Er forscht zu sozialen Bewegungen, sozialer Ungleichheit und Globalisierung mit dem Fokus auf Nord Afrika und Europa: Christoph Sorg


Die historische „Schuld“ Europas beginnt schon mit der Industrialisierung, die wesentlich durch die Ausbeutung der Kolonien mitfinanziert wurde. Zum Erbe der Europäer gehört auch, dass sie die Grenzen Afrikas ungeachtet aller religiösen, ethnischen und historischen Gegebenheiten gezogen haben. Bestimmte ethnische Gruppen wurden privilegiert, andere benachteiligt, Klassenstrukturen entlang ethnischer Linien teils erzeugt, teils verfestigt, wie beispielsweise in Ruanda. Das verursacht und begünstigt bis heute ungeheure soziale Spannungen in vielen afrikanischen Ländern.

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Mit Hilfe der auch dadurch erhaltenen Machtasymmetrie hat der Internationale Währungsfond (IWF) beispielsweise in den achtziger und neunziger Jahren vielen afrikanischen Staaten weitreichende Strukturanpassungsprogramme aufgezwungen. Der IWF ist ein supranationales Organ, in dem die europäischen Länder die meisten Stimmen halten. So wurden Importrestriktionen abgeschafft und Importzölle reduziert. Zwar stiegen die Exporte der afrikanischen Länder in der Regel, aber die Importe stiegen noch stärker, was zu großen Handels- und Zahlungsdefiziten und damit zu höherer Verschuldung führte. Ein Großteil des Exportwachstums konzentrierte sich zudem auf wenige Ressourcen und auf Waren, die mit gering qualifizierter Arbeitskraft produziert wurden. Das alles führte insgesamt zu höherer Verschuldung, steigender Ungleichheit, abnehmender Effizienz und zunehmender Instabilität der Staaten.

Erzwungene Marktöffnungen ruinieren schwache Volkswirtschaften

Auch in den letzten Jahren haben die mächtigen europäischen Staaten Marktöffnungen erzwungen, die für schwache Volkswirtschaften desaströs sind. Welche falschen Grundannahmen dahinterstehen, lässt sich hier nachlesen. Aktuell ist die europäische Agrarpolitik dafür mitverantwortlich, dass lokale Industrien einbrechen, Menschen Arbeit und Einkommen verlieren und so weiteres Elend entsteht. Hochsubventionierte EU-Agrarprodukte werden auf afrikanische Märkte geworfen und zerstören den dortigen Agrarsektor, was wiederum mittel- und langfristig die Ernährungssicherheit bedroht und Perspektiven für die Zukunft gefährdet. Der Stärkere, in diesem Fall die EU, bestimmt die Regeln zu seinen Gunsten.

Es gibt unendlich viele Beispiele: Die westafrikanische Küstenfischerei wird ruiniert durch schwimmende Fischfabriken, unter anderem aus Europa. Diese Praxis ist für Senegals Wirtschaft und Ernährungssicherheit fatal, da sie stark von der Fischerei abhängen. In Somalia, aus dem hunderttausende Flüchtlinge stammen, führt das dazu, dass viele ehemalige Fischer zu Piraten werden. Selbstverständlich ist das nicht die eine Ursache, die die massenhafte Flucht dort auslöst. Aber sie trägt wesentlich dazu bei.

Durch das „Land-Grabbing“ (die Landnahme durch ausländische Investoren zum Anbau u. a. von Biokraftstoffen) geht in ungeheurem Maße Anbaufläche verloren, die für die lokale Bevölkerung nötig wäre. Im westafrikanischen Liberia sind laut Oxfam binnen fünf Jahren mehr als 30 Prozent des Staatsgebiets an Investoren gegangen. Das treibt Teile der Bevölkerung vieler afrikanischer Staaten in existentielle Notsituationen.

Verantwortung für die Welt zu übernehmen bedeutet, Mitschuld einzugestehen

Rico Grimm kritisiert die mangelhafte Effektivität der „Entwicklungshilfe“ („Entwicklungszusammenarbeit“ genannt). Gleichzeitig sollte aber auch erwähnt werden, dass die Regierungen sie oft dazu benutzen, ihre eigenen Profite zu erhöhen und bestimmte Richtlinien durchzusetzen. In Tunesien besteht beispielsweise der Großteil der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, etwa 600 Millionen Euro von insgesamt 1 Milliarde, daraus, dass die KfW-Entwicklungsbank Kredite an tunesische Unternehmen vergibt, deren Zinssätze etwas unter den Sätzen der globalen Finanzmärkte liegen. Die tunesischen Unternehmen sparen, die KfW macht dadurch etwas kleinere Profite; im Gegenzug fordert die deutsche Regierung Unterstützung in der mörderischen Abschottung der Grenzen.

Die rund 160 deutschen Unternehmen in Tunesien agieren in „Export Processing Zones“. Ausländische Unternehmen müssen in diesen Zonen kaum Steuern zahlen und können trotzdem gleichzeitig den Pool billiger Arbeitskräfte im globalen Süden anzapfen. Eine tunesische Näherin schuftet unter härtesten Arbeitsbedingungen und verdient in etwa 180 Euro pro Monat - kaum mehr als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Genauso viel kostet ein einzelnes schickes T-Shirt von „van Laack“, einem Textilunternehmen aus Mönchengladbach. „Tunesische Arbeitskräfte seien sehr teuer“, hört man immer wieder; aber immerhin spart das Unternehmen wieder bei den im Vergleich zu Ostasien geringeren Transportkosten nach Europa. „Van Laack“ besitzt neben seinen vier tunesischen Fabriken noch eine vietnamesische und indonesische und produziert Millionen Kleidungsstücke. Etwa neun Prozent der tunesischen Lohnabhängigen sind in solchen Zonen angestellt.

Zusammengefasst: Es geht nicht darum, eine Alleinschuld „Europas“ zu konstatieren. Fast in allen Fällen bereichern sich auch lokale Eliten und arbeiten mit europäischen Eliten zusammen. Korruption und fehlende demokratische Institutionen sind ein ernsthaftes Problem, aber auch das hängt nicht unwesentlich mit westlichen Einflüssen zusammen. Auch die reichen Golfstaaten, die USA und andere Länder beteiligen sich am globalen Ausbeutungssystem. Dennoch heißt das nicht, dass Europa „kaum Schuld“ trägt, wie hier an einigen Beispielen gezeigt wurde. Wer Verantwortung für diese Welt übernehmen möchte, der muss auch die eigene Beteiligung an ihrer Misere anerkennen.


Aufmacher-Foto: Marina Militare.