Der Tod eines Fußballspielers
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Der Tod eines Fußballspielers

Ein Spieler von Dinamo Bukarest stirbt an Herzversagen, weil lebensrettende Maßnahmen zu spät eingeleitet wurden. Das katastrophale Gesundheitssystem Rumäniens kostete den 26 Jahre alten Fußballer das Leben.

Profilbild von Valentina Nicolae und Christian Gesellmann

„Korruption tötet!“, rufen sie auf dem Platz der Universität in die Kameras. Nebenan fließt ein pixeliger Blechstrom gelber Dacia-Taxis über den sechsspurigen Boulevard in den Bukarester Freitagfeierabend.

Es sind die jungen Gebildeten, die Hipster, die Angehörigen der Opfer der Krankenhausmafia, es sind Ärzte und Krankenschwestern, die hier protestieren, sie tragen OP-Masken, auf denen steht: „Klagt sie an und desinfiziert!”

Mit Megaphonen fachen sie den Sprechchor an, der die ganze Nacht durchs Zentrum der rumänischen Hauptstadt schallt: „Solidaritate pentru Sănătate!” – Solidarität mit unserer Gesundheit!

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„Na, bist du in Revolutionsstimmung?“, fragt mich Stefania. Sie arbeitet in einer Werbeagentur, ihre pink gefärbten Locken umrahmen ein Engelsgesicht.

„Wollt ihr nicht erstmal abwarten, bis ihr wieder eine gewählte Regierung habt, bevor ihr sie stürzt?“, frage ich zurück.

Ich bin nicht in Revolutionsstimmung, und während sich der Protest gegen den Zustand des Gesundheitssystems noch formiert, hüpfe ich der Empörung davon, auf die andere Seite des Boulevards, um ein Taxi zum Fußballstadion zu nehmen. Es ist das letzte Heimspiel der Saison für Dinamo Bukarest, und Clemens, ein Freund aus Berlin, der zu Besuch ist, will unbedingt ein bisschen rumänische Stadionluft schnuppern.

Die Meisterschaft ist gelaufen, mehr als Platz 4 ist nicht mehr drin für den 18-maligen Meister und ehemaligen Securitate-Club. Der Eintritt in das von Plattenbauten und einem Krankenhaus umstellte, marode Stadion „Stefan Cel Mare“ (Stefan der Große), in dem die Rumänen früher für Diktator Ceausescu tanzen und Fahnen schwenken mussten, ist frei. Viele kommen an diesem kühlen Abend vor allem, um den Trainer des Gegners aus Constanta zu sehen: Rumäniens Pelé Gheorghe Hagi.

Es geht um nichts mehr, denken alle. Bis zur 70. Minute. Bis der Spieler mit der Nummer 14, Patrick Ekeng, zusammenbricht. Eine Stunde später ist er tot. Vom Strafraum in die Notaufnahme des Krankenhauses sind es fünf Minuten zu Fuß. Das Spiel kostet den 26-jährigen Profisportler aus Kamerun das Leben, quasi vor den Augen der Zuschauer. Als wäre er ein Gladiator im Kolosseum.

Am Tag nach dem Tod von Patrick Ekeng: Fans trauern vor dem Stadion von Dinamo.

Am Tag nach dem Tod von Patrick Ekeng: Fans trauern vor dem Stadion von Dinamo. Foto: Christian Gesellmann

Man kann vor dem Protest gegen das korrupte Gesundheitssystem davonlaufen. Aber nicht vor den Metastasen, die dieses System in Rumänien ausgebildet hat.

Der Sportkanal Digisport 4 überträgt live, wie Dinamo-Trainer Mircea Rednic noch auf dem Rasen den Anruf bekommt, dass die Wiederbelebungsversuche eingestellt wurden. Die Kamera geht mit dem Trainer in die Hocke, der das Gesicht nun in seinen Händen vergräbt, nicht um seine Tränen zu verbergen, sondern um sich festzuhalten, so sieht es aus, sich selbst zusammenzuhalten, damit das Beben, das seine Brust und seine Flanken durchschüttelt, ihn nicht auseinanderreißt. Alles wackelt. Alles live. Und dazwischen immer wieder die Sekunde, in der Ekeng zusammenbricht, sechs Minuten nach seiner Einwechslung, Minute 69:45.

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Ekeng steht breitbeinig, am äußersten Rand des Kamerabildes, im Mittelkreis und wartet darauf, dass der Ball hinten raus geschlagen wird. Plötzlich fällt er um. Er kippt nach hinten, sein Kopf schlägt auf den Rasen, der Reflex der Arme, den Aufprall zu bremsen, setzt nicht ein.

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Die Zuschauer im Stadion bemerken das alles nicht, Ekeng ist zu weit vom Spielgeschehen entfernt. Erst als andere Spieler zu ihm eilen und der Schiedsrichter das Spiel unterbricht, sehen sie ihn am Boden liegen, flach auf dem Rücken, breitbeinig, die Arme zur Seite ausgestreckt.

Später, als die Szene im Sportkanal in Dauerschleife wiederholt wird, kann man erkennen, dass ein kurzes Zucken durch Ekeng fährt, bevor er kollabiert. Es sieht aus, als habe er sich vor etwas erschrocken. Sekunden später sind die Mannschaftsärzte bei ihm. Sie drehen ihn in die stabile Seitenlage. Ob sein Herz noch schlägt, überprüfen sie nicht.

Patrick Ekeng 2014 im Einsatz für Lausanne Sport

Patrick Ekeng 2014 im Einsatz für Lausanne Sport Foto: Ludovic Péron, CC BY-SA 3.0, Wikimedia

Der Krankenwagen rollt wenig später aufs Feld, ohne die dazugehörige Ärztin. Fans berichten später der Nachrichtenagentur Mediafax, sie habe auf der Tribüne gesessen und Sonnenblumenkerne genascht.

Am Tag danach: Hunderte kommen ins Stadion, stellen Kerzen im Mittelkreis auf.

Am Tag danach: Hunderte kommen ins Stadion, stellen Kerzen im Mittelkreis auf. Foto: Christian Gesellmann

Im Haus eines Fotografen, der Dinamo-Fan ist, aber bei der Demo statt beim Spiel war, sitzen wir später vor dem Laptop und sehen die Szene noch mehrmals an. “Herzmassage! Herzmassage!” will man den Mannschaftsärzten und Sanis zurufen. Aber sie wiederholen ihren Fehler immer wieder. Und Ekeng stirbt immer wieder.

Während er in den Krankenwagen getragen wird, der entgegen der Vorschrift, entgegen Standards, keinen Defibrillator hat, filmen andere Kamerateams die rund 2.000 Demonstranten, die vom Platz der Universität inzwischen vor den Regierungssitz gezogen sind, eine U-Bahn-Station vom Stadion entfernt.

„Korruption tötet!“, rufen sie.

„In einer Stadt, in der minütlich die Krankenwagen-Sirenen heulen, sind wir immer zu weit von der Rettung entfernt, und immer zu nah am Tod.”
Adrian Georgescu, Autor

Der aktuelle Anlass für die Demo ist die Enthüllung eines Pharma-Skandals durch den Journalisten Cătălin Tolontan. Er fand heraus, dass die Firma Hexi Pharma seit Jahren Desinfektionsmittel an rumänische Krankenhäuser liefert, die bis zu zehnmal gestreckt sind. Die Ärzte haben praktisch mit Mineralwasser desinfiziert.

Das hat zur Folge, dass Bakterien und Keime nicht nur nicht entfernt werden – dadurch, dass noch eine geringe Menge Desinfektionsmittel enthalten ist, werden die Krankheitserreger praktisch gegen die Desinfizierung geimpft und dadurch zunehmend immun.

Es gilt als wahrscheinlich, dass sich Zehntausende Patienten im Krankenhaus Bakterien und Infektionen einfingen, die mitunter tödliche Folgen hatten. Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht.

Hexi Pharma ist Marktführer in Rumänien. Wie Tolontan beweist, sind die Aufträge für die Belieferung der Krankenhäuser mit Desinfektionsmitteln in einigen Fällen gar nicht erst ausgeschrieben worden, in anderen Fällen half Hexi Pharma mit Schmiergeld nach, um die Konkurrenz auszubooten.

Eine Schwesterfirma des Konzerns hat die Qualitätskontrollen für das Desinfektionsmittel durchgeführt, die Beamten der Gesundheitsbehörde haben für ein paar Scheinchen weggeschaut.

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In einem Interview sagte Tolontan, ein Mann Ende 40 mit dicken Tränensäcken im runden Gesicht und raspelkurzen Haaren, es gebe da diesen Begriff, der ihm immer wieder in den Kopf kommt, aber er scheue sich, ihn zu benutzen – aus Angst, für verrückt erklärt zu werden. Er tut es dann auch nicht. Verstanden wird er trotzdem.

Das Wort, das Tolontan nicht aussprechen will, ist „Genozid“.

Wenn die Demonstranten auf dem Platz der Universität „Solidarität für Gesundheit” skandieren, verlangen sie das Recht, nicht willkürlich in einem Krankenhaus sterben zu müssen, weil ein Pharmakonzern und korrupte Beamte mit ihrem Leben spielen. Auch Ärzte und Krankenschwestern erkranken immer häufiger an den Keimen an ihrem Arbeitsplatz. Sie feiern den Journalisten mit Sprechchören für seine Enthüllungen.

In Scharen verließen 2011 und 2012 die Ärzte das Land. Rund 7.000 – ein Drittel aller Ärzte in Rumänien – ging, in Deutschland arbeiten rund 2.700 von ihnen. Als die Arbeitnehmerfreizügigkeit – das Recht, in jedem Land der EU arbeiten zu dürfen – Anfang 2014 auch für Rumänien eingeführt wurde, standen sich die Reporter an westeuropäischen Flughäfen die Beine in den Bauch, um die erwartete Flut der Arbeitsmigranten zu empfangen. Sie warteten vergeblich. Die Rumänen waren längst da. Mehr als 200.000 leben in Deutschland. Und sie belasten die deutschen Sozialkassen nicht – sie zahlen ein.

In Rumänien verdient ein Arzt durchschnittlich rund 320 Euro, das liegt sogar noch unter dem allgemeinen Durchschnittslohn. In einer Eurobarometer-Studie aus dem Jahr 2013 gaben 28 Prozent der Rumänen an, schon mal Schmiergeld an einen Arzt gezahlt zu haben – im Vergleich zu durchschnittlich fünf Prozent der Patienten in den 27 anderen EU-Staaten.

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Die Ärzte gehen aber nicht nur aus finanziellen Beweggründen. Viele gehen auch, weil sie die Zustände in ihren Krankenhäusern nicht mehr aushalten. Es fehlt an Impfstoffen für Kinder, es kommt vor, dass Patienten Verbandsmaterial, Medikamente oder Spritzen selbst mitbringen müssen.

Ende vergangenen Jahres brach während eines Konzerts im Bukarester Nachtclub Colectiv ein Feuer aus, das insgesamt 64 Menschen das Leben kostete. Mal abgesehen davon, dass der Club niemals eine Betriebserlaubnis hätte erhalten dürfen, weil die Dämmmaterialen leicht entzündlich und die Notausgänge nicht ausreichend waren, starben viele der Konzertbesucher, weil ihre schweren Brandverletzungen nicht behandelt werden konnten.

Nur ein einziges Krankenhaus in Rumänien hat überhaupt eine Spezialstation für solche Fälle: Es ist das Krankenhaus, in dem auch Patrick Ekeng starb. Die Station wurde sechs Monate vor der Colectiv-Tragödie eröffnet. 15 Jahre lang wurde an ihr gebaut. Allein die medizinischen Geräte kosteten vier Millionen Euro. Doch als die Verletzten eingeliefert wurden, war die Station nicht betriebsbereit.

Bukarest war im Schockzustand. Zehntausende nahmen an dem Trauermarsch teil, der sich schnell in verzweifelte Proteste gegen Korruption entlud und zum Rücktritt der Regierung um Ministerpräsident Victor Ponta führte. Im September wird wieder gewählt, bis dahin ist eine Expertenregierung im Amt.

Am Tag nachdem Patrick Ekeng gestorben ist, gehe ich noch einmal zum Stadion. Ich bin gegen zehn Uhr abends dort und gehe zuerst zur Notaufnahme. Dort sind an einem kniehohen Drahtzaun Kerzen aufgestellt, drei Schals und ein handbeschriebenes T-Shirt mit der Nummer 14 und dem Namen des Spielers hängen darüber.

Ich gehe weiter, um die Ecke, zum Haupteingang des Stadions. Dort lodert das Logo von Dinamo blutrot. Ich mache Fotos von den Dutzenden Grablichtern, bis mir zwei Männer auffallen, die aus dem Stadion kommen, mit rot-weißer Fahne und Fanschal.

Haupteingang des Dinamo-Stadions. Im Hintergrund das Krankenhaus.

Haupteingang des Dinamo-Stadions. Im Hintergrund das Krankenhaus. Foto: Christian Gesellmann

Ich laufe ins Stadion hinein, die einzigen Lichtquellen sind Hunderte Kerzen, die im Mittelkreis brennen - dort, wo Ekeng kollabierte - und das schwarz-weiße Porträt des Spielers, das auf der Anzeigetafel leuchtet.

Wie ein Wasserzeichen ist am oberen linken Rand das Bild eines anderen Dinamo-Spielers zu erkennen, Cătălin Hîldan. Es ist auch auf den Eintrittskarten für die Dinamo-Spiele abgedruckt. Hîldan starb vor 16 Jahren in der 74. Spielminute eines Freundschaftsspiels an einer Herzattacke.

„Es ist, als wären wir verflucht.”
Dinamo Bukarest-Boss Ionel Dănciulescu


Aufmacherfoto: Fernsehbilder zeigen den Fußballer Patrick Ekeng kurz nach seinem Zusammenbruch.

Am 09. Mai 2016 ist Gesundheitsminister Patriciu Achimaș Cadariu zurückgetreten, nachdem bekannt wurde, dass das Ministerium bereits vor fünf Jahren durch den rumänischen Nachrichtendienst SRI über die verdünnten Desinfektionsmittel informiert war. Die Polizei ermittelt zudem gegen die Ärztin im Stadion, die Sanitäter und die Verantwortlichen von Dinamo wegen des Todes von Patrick Ekeng.