Oberflächlich betrachtet mag es einfach sein, über die US-Wahlen zu lächeln: Alles ist ein großes Spektakel, das Zwei-Parteien-System bietet längst nicht genug Auswahl und es siegt ohnehin, wer das meiste Geld sammelt, um dauer-gelangweilte Wähler auf seine Seite zu holen.
Auf den zweiten Blick ist die Sache aber doch komplizierter (Überraschung!). Von der ersten Kandidatensuche bis zum Wahltag passiert manches, was mir transparenter erscheint als die Bundestagswahlen bei uns. Ich will das anhand der gängigsten Vorurteile aufdröseln, die mir zu den US-Wahlen immer wieder begegnen – sortiert von leise fragend bis offen entrüstet.
Vorurteil: Die US-Wahlen sind nicht demokratisch, weil nicht jeder wählen darf, der wählen will.
Seitdem ich wegen meines Artikels Mein Freund Bernie in der Datenbank von Bernie Sanders stehe, bekomme ich regelmäßig Nachrichten von dessen Wahlkämpfern. In den letzten Wochen wiesen sie mich häufiger auf den 25. März als Stichtag für meine Registrierung als Wähler in New York hin – zumindest bis die Telefon-Freiwilligen im System mit großer Enttäuschung hinterlegt hatten, dass ich gar nicht wählen kann, sondern stets nur an Bernies kämpferischen Mails interessiert sei.
Wer in den USA wählen will, muss sich vorher registrieren. Anders als bei uns darf nicht jeder Volljährige mit einem Personalausweis ins Wahlbüro gehen und seine Stimme abgeben. Um sich registrieren zu können, brauchen die Menschen in manchen Staaten eine ID, also den Ausweis einer staatlichen Ausgabestelle. Ebenfalls ausgeschlossen: rund 3,3 Millionen Menschen, die in Gefängnissen sitzen oder zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden. Wer sich registrieren kann, gibt auch eine Parteipräferenz an: Republikaner, Demokrat oder Unabhängiger? Dadurch werden taktische Spielchen möglich.
Die New Yorker Vorwahlen sind eine „Closed Primary“, geschlossene Veranstaltungen für die Anhänger der Partei, für die man sich zuvor registriert hat. Wähler, die an früheren Abstimmungen teilgenommen haben, hatten bis Mitte Oktober Zeit, ihre Präferenz zu ändern. Schon damals wurde deshalb in meinem Freundeskreis wild diskutiert, wie man als „gefälschter“ Republikaner Donald Trump verhindern könne, indem man in der Vorwahl gegen ihn stimmt.
Auf Basis der Wählerverzeichnisse planen die Wahlkämpfer ihre Kampagnen. Beim sogenannten Canvassing, dem Gang von Tür zu Tür, wird beispielsweise ausschließlich bei Leuten geklopft, die als Demokraten registriert sind, aber nur bei einer der letzten drei landesweiten Wahlen die Stimme abgegeben haben. „Im Prinzip ein einfacher Trick, so machen wir das seit Jahren“, sagte mir kürzlich der Mitarbeiter einer Wahlkampfberatung. Heutzutage seien viele Firmen aber schon weiter. „Verhaltensprognosen“ seien jetzt das große Ding: die Möglichkeit, Adressdaten meines Straßenzuges mit Konsumerhebungen abzugleichen. Mehr als tausend Variablen seien hinterlegt, erklärte er mir. Bis hin zu der Frage, ob die registrierten Demokraten vielleicht überproportional häufig Vollmilch statt Milch mit reduziertem Fettgehalt auf ihre Cornflakes kippen – Wahlwerbung auf einer Milchpackung fiel mir bisher noch keine auf, da ist sicher noch Potenzial. Auch das klingt in unseren Ohren sicherlich nicht sehr demokratisch.
Erstes Fazit: Die komplizierte Registrierung erschwert es tatsächlich, dass alle Stimmberechtigten ein „gleiches“ Wahlrecht besitzen – eine der Grundregeln für wirklich demokratische Wahlen
Vorurteil: Die US-Wahlen sind nicht demokratisch, weil das undurchsichtige System der Wahlmänner gerechte Repräsentation verhindert.
An keinem anderen Thema haben US-Journalisten im Moment so viel Freude wie an der Spekulation über eine „Contested Convention“. Sie hoffen darauf, dass bis zum Nominierungsparteitag der Republikaner keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit der Wahlmänner bekommt. Ihre These: Wenn Donald Trump in den Vorwahlen nicht 1.237 Delegierte hinter sich versammeln kann, kommt es zu einer Kampfabstimmung. Möglicherweise versammelt sich dann das Anti-Trump-Lager geschlossen hinter einem anderen Kandidaten. Trump könnte dann als dritter Kandidat ins Rennen gehen und den Medien wäre ein monatelanges Spektakel sicher.
Dass solche Gedankenspiele überhaupt möglich sind, liegt an der sogenannten Invisible Primary, der „unsichtbaren“ Vorwahl mit ihren Absprachen in Hinterzimmern. Bei den Vorwahlen werden nicht tatsächliche Stimmanteile für den Nominierungsparteitag vergeben, sondern es werden die erwähnten Delegierte bestimmt. Formal sind diese teils nicht einmal an das Ergebnis der Vorwahl gebunden, doch spätestens, wenn der Kandidat ausscheidet, dem sie ursprünglich zugeschrieben waren, beginnt die Mauschelei. Wer erhält bei der Versammlung in Cleveland nun die 164 Delegierten des ausgeschiedenen Marco Rubio? Antwort: Es ist kompliziert.
Bei den Demokraten verzerren die sogenannten Super-Delegates das Bild. Das sind Ungebundene, die sich gewöhnlich für den Führenden entscheiden. Etwa 720 der knapp 4.770 Stimmberechtigten zählen zu dieser Gruppe. Der Gedanke dahinter: Es soll verhindert werden, dass ein Kandidat zwar die meisten Delegierten bekommt, aber trotzdem keine absolute Mehrheit.
Fazit hier: Ja, das komplizierte Delegierten-System ist intransparent. Normalerweise ist das nicht so wichtig, weil sich nach den ersten Vorwahlen ein Favorit herauskristallisiert – aber dieses Jahr hat das System einige fragwürdige Auswirkungen.
Vorurteil: Die US-Wahlen sind nicht demokratisch, weil es nur zwei Parteien gibt – wie vor 100 Jahren.
Noch bevor ein Kandidat sich auch nur aufstellen lässt, fällt unsereins ja oft das festgefahrene Parteiensystem auf: Es gibt die konservativen Republikaner und die etwas weniger konservativen Demokraten. Ins deutsche Parteienspektrum lassen sie sich nicht so recht übertragen. Ansichten beider Parteien in Militär-, Bildungs- und Gesundheitspolitik (Härte! Studiengebühren! Private Krankenkassen!) sind hierzulande längst nicht mehr mehrheitsfähig. Analysten beschreiben immer wieder, dass vor jeder Wahl 90 Prozent der Wähler bereits wüssten, für wen sie später abstimmen werden, und lediglich um die 10 Prozent der Mitte gekämpft werden solle.
Andererseits ist es ja auch in Deutschland so, dass seit Jahrzehnten nur Kandidaten der beiden großen Parteien eine Chance hatten, ins Kanzleramt einzuziehen. Dabei ist die Fraktionsdisziplin in den USA deutlich geringer. Deshalb gibt es dort so genannte „Whips“, bekannt durch den fiktiven Frank Underwood in „House of Cards“. Diese Mehrheitsbeschaffer versuchen vor Abstimmungen, die Abgeordneten auf Linie zu bringen. Das ist auch nötig, denn es gibt Parlamentarier, die in fast 40 Prozent aller Abstimmungen gegen die Mehrheit ihrer Partei stimmten.
Nächstes Fazit: Ja, die beiden Parteien stehen für lediglich zwei politische Konzepte, aber das ist in groben Zügen in Deutschland auch so - und das System ist durch geringere Parteidisziplin in beide Richtungen durchlässiger als bei uns.
Vorurteil: Die US-Wahlen sind nicht demokratisch, weil sich durch die Personalisierung die komplette Aufmerksamkeit auf zwei Personen konzentriert. So entsteht ein zugespitzter Show-Konflikt und Sachdebatten werden unmöglich.
Zugegeben: Bei US-Wahlen ist alles eine Nummer größer als bei uns. Selbst wer in Umfragen bei jämmerlichen zwei oder drei Prozent steht, wird als „next President of the United States“ angekündigt und spätestens ab den Nominierungsparteitagen mit Feuerwerk und jeder Menge Tralala regiert die Mega-Show. Danach blicken alle nur auf die beiden Kandidaten, X gegen Y, inszeniert als Western-Showdown zweier Einzelkämpfer. Schon jetzt gehen Schätzungen davon aus, dass Donald Trump bereits Sendezeit im Gegenwert von rund zwei Milliarden Dollar eingeräumt wurde.
Aber es lohnt, einen Schritt zurück zu treten. Bevor sich zwischen Vorwahlen und Abstimmung im November alles auf den republikanischen und den demokratischen Kandidaten konzentriert, ist das Feld weit offener als bei uns: Die Republikaner sind mit 17 Kandidaten in den Wahlkampf gestartet, bei den Demokraten zählt die New York Times sechs ernsthafte Vertreter. Hinzu kommen Dutzende, die eine Kandidatur erklären und bestenfalls mit einigen zehntausend Stimmen nach Hause gehen.
Häufiges Ziel der extremeren Kandidaten ist es, auf die eigenen Positionen aufmerksam zu machen, in der Hoffnung, dass die späteren Sieger ihre Ansichten verschieben. Das funktioniert auf Republikaner-Seite mit extrem religiösen Kandidaten wie Mike Huckabee, aber zu sehen ist das selbst bei Hillary Clinton, die durch Bernie Sanders’ Erfolge deutlich häufiger über stärkere Einschränkungen für Reiche spricht als noch vor einem Jahr.
Ebenfalls transparenter als bei uns sind die vielen Fernsehdebatten und Town Halls während des Wahlkampfs. Ende Februar gab es kaum einen Tag, an dem die Kandidaten nicht auf irgendeinem Fernsehsender in irgendeiner Stadthalle diskutierten, bei den Republikanern auch Anfang Februar verbunden mit herrlichen Problemen beim Einmarsch.
Durch die Debatten können wir tatsächlich mal einen deutlichen Strich in der „sehr demokratisch“-Spalte machen. Diese öffentlichen Runden schärfen die Profile der Kandidaten und haben Millionen Zuschauer. Die erste republikanische Debatte sahen 24 Millionen Menschen, immerhin entspricht das grob einem Fünftel der vor vier Jahren bei der Präsidentschaftswahl abgegebenen Stimmen. Es folgten bis dato elf weitere Debatten, im trumplosen Wahlkampf der Demokraten sind es bisher fünf gewesen.
Fazit also hier: Ja, es gibt eine größere Personalisierung und viel mehr Show – bis zum „Finale“ sorgt aber ein extrem langer, extrem öffentlicher Auswahlprozess für mehr Transparenz und Beteiligung in der Suche nach geeigneten Kandidaten.
Vorurteil: Die US-Wahlen sind nicht demokratisch, weil viel weniger Menschen ihre Stimme abgeben als bei uns.
Kritiker der US-Wahlen bemängeln immer wieder, dass die Wahlbeteiligung so furchtbar niedrig sei. Bei der letzten Wahl 2012 waren es 55 Prozent. Anders lässt sich bei den Vorwahlen argumentieren. Obwohl es dabei noch nicht um den tatsächlichen Sieger geht, nehmen oft überraschend viele Menschen teil. In diesem Jahr sind es vielerorts rund 30 Prozent der Wahlberechtigten, in New Hampshire sogar 53 Prozent.
Das hat einen guten Grund, schließlich haben die Anhänger bestimmter Parteien in manchen Staaten bei den Vorwahlen ein gewichtigeres Wort mitzureden als bei der eigentlichen Präsidentenwahl: Wenn ich als Demokrat in Texas wohne, weiß ich seit Jahrzehnten, dass mein Kandidat niemals den Republikaner besiegen wird. Doch in der Vorwahl kann ich wenigstens über Bernie oder Hillary entscheiden.
Fazit: Die Wahlbeteiligung liegt oft deutlich unter den Werten europäischer Demokratien. Zum einen, weil in vielen Bundesstaaten die Parteipräferenzen sehr festgefahren sind. Zum anderen aber auch, weil genau wegen dieser Präferenzen viele Wähler zuhause bleiben; wer aus einem erzreligiösen Staat kommt, aber trotzdem die Demokraten mag, bleibt am Wahltag eher daheim.
Vorurteil: Die US-Wahlen sind nicht demokratisch, weil nur wenige Familien die Macht unter sich aufteilen und sich Superreiche ihren Wunschsieger an die Macht kaufen können.
Es ist kaum zu glauben: Seit 1928 hat kein republikanisches Ticket (die Kombination aus Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten) die Wahl gewonnen, auf dem nicht entweder Richard Nixon oder ein Bush stand. Bei den Demokraten gibt es die einflussreichen Clinton- und Kennedy-Dynastien – ein großer Unterschied zu Deutschland, wo mir in dieser Hinsicht nur Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen einfällt, Tochter eines ehemaligen Ministerpräsidenten in Niedersachsen.
Unterstützt werden die verschiedenen Kandidaten von einer kleinen Gruppe Superreicher, die ihre Freunde mit Tausenden Fernsehspots an die Macht kaufen können – heißt es oft. Zumindest in diesem Punkt gibt es genügend gescheiterte Gegenbeispiele. Jeb Bush haben in diesem Jahr seine 157,6 Millionen Dollar genauso wenig genützt wie die geschätzt 992 Millionen, die Republikaner Mitt Romney vor vier Jahren für seine gescheiterte Kandidatur ausgab.
Barack Obama und Bernie Sanders hingegen sind dafür berühmt, Wahlkampagnen mit Millionen Einzelspendern aufgebaut zu haben. Sanders durchschnittliche Spendenhöhe war sogar Teil eines Sketches in der Comedysendung Saturday Night Live. Solche Einzelspenden sind im Präsidentschaftswahlkampf auf 5.000 Dollar beschränkt.
Über Umwege können Superreiche jedoch mehr spenden. Dafür gibt es die sogenannten „Political Action Committees“ – kurz PACs –, Lobbygruppen, die sich dem Kampf für oder gegen einzelne Kandidaten verschreiben. Sie dürfen Spenden in unbegrenzter Höhe annehmen. Doch auch hier gilt, dass deren Erfolg unklar ist: Das mit Jeb Bush verbundene SuperPAC „Right to Rise“ hatte in seinem Namen fast 124 Millionen Dollar gesammelt, Bernie Sanders ist stolz darauf, keine PAC-Spenden anzunehmen. Es führt keiner von beiden.
Die großen Spenden kaufen aber nicht nur Werbezeit, sondern oft auch Zugang. Mit Erfolg, schreiben Forscher der Universität Princeton. Ihr Fazit: Die USA sind eine Oligarchie, eine kleine Wirtschaftselite hat unverhältnismäßig großen Einfluss. Ähnlich äußerte sich auch Ex-Präsident Jimmy Carter. Die Wissenschaftler haben sich dazu 1.800 Gesetzgebungsverfahren angesehen und die Meinungen von durchschnittlich verdienenden Amerikanern mit denen der bestverdienenden zehn Prozent und denen von Lobbygruppen verglichen. Das tatsächliche Gesetz lag häufiger auf Linie mit der Elitenansicht als mit derjenigen der breiten Mehrheit.
Das bringt uns zum letzten Fazit: Spender und reiche Interessengruppen versuchen, massiv Einfluss auf US-Wahlen auszuüben. Das hat selten direkten Erfolg an der Wahlurne, funktioniert dafür aber besser hinter den Kulissen – zumindest bis zur Abwahl des Kandidaten.
Und was bleibt insgesamt?
Nun, natürlich wie immer im Leben ein graues Bild, das wir lieber in Schwarz oder Weiß sehen würden. Wir halten fest: Das US-Wahlsystem bietet mehr Show, der Einfluss einiger Reicher ist größer als der von „Joe the Plumber“, dem Durchschnittbürger-Klempner aus dem letzten Wahlkampf. Und ja, auch die komplizierte Registrierung sorgt dafür, dass ärmere Wähler benachteiligt werden, überproportional oft also Afro-Amerikaner und Latinos. Aber hier vor Ort erscheinen mir die sehr ausgiebige öffentliche Prüfung aller Kandidaten und überhaupt deren hohe Zahl doch als ein deutlicher Vorteil.
Unterm Strich: Die US-Wahlen sind revolutionsbedürftig – aber aus anderen Gründen als Deutsche oft denken.
Illustration: Thomas Weyres, Sibylle Jazra für Krautreporter.
Eine kurze Nachricht vom Autor dieses Textes, Christian Fahrenbach.
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