1. Was ist „islamistischer Terror“?
„Islamismus“ beruht auf einer radikalen Auslegung des Islams, die zum Teil Gewalt als legitimes politisches Mittel akzeptiert. Islamisten wollen eine Ordnung durchsetzen, die ihrer Auslegung der heiligen Schrift des Islams, des Korans, entspricht. Darin regiert das „Gesetz Gottes“ (Scharia) in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Bildungswesen. Die politischen Vorstellungen von Islamisten sind unvereinbar mit der Demokratie und Rechtsstaat. Um ihr Ziel zu erreichen, greifen Islamisten unter anderem zu terroristischen Anschlägen.
Was „Terror“ ist, ist nicht eindeutig definiert. Sicher sind allerdings zwei Dinge: Erstens, das Wort „Terrorist“ ist keine neutrale Beschreibung. Ihm wohnt ein (negatives) moralisches Urteil inne. Zweitens, Terroristen wollen mit ihrer unvorhersehbaren Gewalt Schrecken erzeugen. Terrorismus wirkt also nicht direkt, wie ein klassischer militärischer Angriff, sondern indirekt, auf psychologischer Ebene. Deswegen greifen Terroristen oft symbolisch bedeutende oder für Zivilisten wichtige Orte wie Flughäfen, Konzertsäle oder Cafés an.
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- Wenn die Nutzer von sozialen Medien die Propaganda-Bilder von Terrorgruppen teilen, arbeiten sie diesen zu. Wie Sie das verhindern können, beschreibt Friedemann Karig hier: „Teile und herrsche“
2. Wie viele radikale Islamisten leben in Europa?
Der Antwort auf diese Fragen können wir uns naturgemäß nur annähern. Insgesamt leben in Europa bis zu 53 Millionen Muslime, von ihnen folgt nur ein Bruchteil radikaleren Auslegungen des Islam. Von diesem Bruchteil wiederum sind nicht alle gewaltbereit.
Der US-Politologe Angel Rabasa hat mit verschiedenen westlichen Geheimdiensten gesprochen, die davon ausgehen, dass weniger als ein Prozent der muslimischen Bevölkerung in ihren Ländern gefährdet ist, sich zu radikalisieren. Mit anderen Worten: 530.000 europäische Muslime könnten sich radikalisieren, müssen es aber nicht zwangsläufig tun.
Um ein noch besseres Gefühl für die Größenordnungen zu bekommen, hilft es, sich anzuschauen, wie viele Europäer nach Syrien und in den Irak aufgebrochen sind, um für die dortige Extremistengruppe des Islamischen Staates zu kämpfen. Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass es gut 5.000 sind.
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- Der sogenannte „Islamische Staat“ wäre undenkbar ohne den Bürgerkrieg in Syrien. Wer den einen verstehen will, muss den anderen verstehen. Hier erkläre ich verständlich, was in Syrien los ist und wie es dazu kam: „Der Syrien-Krieg, verständlich erklärt.“
3. Wie viele Deutsche sind darunter?
Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählt 30 aktive islamistische Organisationen in Deutschland. Die salafistischen Gruppen unter ihnen verfügten 2014 über ein Potenzial von 43.890 Personen. Von denen seien wiederum 1.100 gewaltbereit. Wie viele Menschen, die in Deutschland leben, sich Al-Qaida oder ISIS zugehörig fühlen, kann die Sicherheitsbehörde nicht mit Sicherheit sagen. Laut Innenministerium kämpfen circa 700 Deutsche für ISIS im Irak und in Syrien.
4. Warum schließen sich junge Europäer diesen Gruppen an?
Die kurze Antwort: Islamismus ist der neue Punk. Wer heute gegen die Gesellschaft rebellieren und seine Eltern schocken will, lässt sich einen Bart wachsen und zitiert Koran-Verse. „Viele glauben, es zögen nur perspektivlose Gangster aus der Vorstadt in den IS. Was Deutschland und Frankreich anbelangt, stimmt das größtenteils auch. Aber in England sind sehr viele Studenten dabei. Einer war sogar Arzt und hat in Cambridge studiert“, sagt Terrorismusforscher Peter Neumann Zeit Campus. Der gängigste Weg in den Heiligen Krieg seien die eigenen Freunde und Verwandten. Sie radikalisierten sich gegenseitig und zögen sogar oft gemeinsam in den Kampf. Andere wiederum werden von Rekrutierern gezielt angesprochen. Die nutzen etwa aus, dass sich manche junge Muslime isoliert fühlen.
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- Wie Islamisten Jugendliche anlocken, erklärt dieser Text anhand des berühmtesten deutschen Salafisten, Pierre Vogel (oben abgebildet): „Der deutsche Superstar unter den Salafismus-Predigern.“
- Aber eine offene Gesellschaft ist nicht wehrlos. Sie kann mit gezielten Projekten und Angeboten schon früher verhindern, dass sich muslimische Jugendliche radikalisieren. Das hat meine Kollegin Theresa Bäuerlein in diesem Text gezeigt: „Dschihad ist mein Cousin.“
5. Warum greifen die Islamisten Europa an?
Sehr viele europäische Länder bekämpfen ISIS im Irak und Syrien, darunter zum Beispiel Frankreich, Deutschland und Großbritannien. In den Augen von ISIS sind die Anschläge Rache für diese Luftangriffe. Ihnen liegt aber noch ein anderes Kalkül zugrunde: „Das Ziel der Attacken [ist] es, Angst zu schüren und die [Europäer] zu entfremden, also Hass gegenüber dem Islam und Muslimen zu wecken. Das dient der ISIS-Vision, Grauzonen zu beseitigen. ISIS will, dass rechtsextreme, anti-muslimische Parteien überall in Europa an Popularität gewinnen, so dass die Europäer schließlich ihre Außenpolitik daran ausrichten müssen.“ Das schreibt Youseff Osman, nachdem er das ISIS-Propaganda-Heftchen „Dabiq“ analysiert hatte.
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- Wenn Sie nur einen Text zum Thema Islamismus in Europa lesen wollen, sollte es dieser sein. Er ist sehr kurz, verdeutlicht aber den wichtigsten Zusammenhang: „Warum ISIS ein anti-muslimisches Europa will.“
6. Wie viele Menschen sind seit dem 11. September 2001 islamistischen Anschlägen in Europa zum Opfer gefallen?
Mehr als 500.
7. Sterben mehr Menschen bei islamistischen Attentaten oder bei anderen Anschlägen?
Bei islamistischen Anschlägen. Allerdings gibt es viel mehr Anschläge mit nicht-islamistischen Hintergrund. Nur etwas mehr als jeder dritte tödliche Terroranschlag in Europa (seit 2001) hatte einen islamistischen Hintergrund. Geht man noch weiter zurück, sinkt diese Zahl noch viel stärker.
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- Dass islamistischer Terrorismus in Europa nicht so weit verbreitet ist, wie viele denken, hat auch damit zu tun, wie wir Europäer über Muslime und den Islam berichten. In den Medien sind Muslime sehr oft Terroristen oder Verbrecher. Dabei sind sie in Wirklichkeit genauso durchschnittlich wie der Rest der deutschen Gesellschaft. Sie sind „total normal“, wie Amina Rayan in ihrem minutiös recherchierten Bericht zeigt: „Total normal“.
8. Gab es vergleichbare Anschlagsserien in Europa, bevor der „War on Terror“ von den USA und Verbündeten gestartet wurde? (Frage von Moni Wilkowski, Facebook)
Es gab keine vergleichbaren, islamistischen Anschlagsserien vor 2001. Was es aber gab: nationalistischen, links- wie rechtsextremistischen Terror in ganz Europa. Die 1970er-Jahre waren blutiger als das vergangene Jahrzehnt.
9. Wie hat Europa auf die Anschläge reagiert?
Die Regierungen haben schon immer mit neuen Sicherheitsgesetzen auf neue Bedrohungen reagiert. Das ist in gewisser Weise verständlich – schließlich macht der technische Fortschritt Dinge möglich, die auch legal sein müssen. In Deutschland sorgte etwa die sogenannte Rasterfahndung, eine datenbankgestützte Ermittlungsmethode, für sehr große Aufregung, als das Bundeskriminalamt sie Ende der 1970er Jahre zum ersten Mal anwandte, um Mitglieder der Roten-Armee-Fraktion zu finden. Auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und den Doppelattacken in Madrid und London erließen die europäischen Regierungen neue Sicherheitsgesetze.
Nachdem Attentäter 141 Menschen 2015 in Frankreich ermordet hatten, verstärkten viele europäische Nationen ihren Kampf gegen ISIS im Nahen Osten. So entsandte etwa Frankreich zusätzliche und Deutschland zum ersten Mal Flugzeuge in das Gebiet.
Dass eine Gesellschaft aber anders auf Terror reagieren kann, haben die Norweger 2011 gezeigt als der rechtsextreme Anders Breivik 69 Menschen erschoss. Sie verschärften ihre Gesetze nicht.
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- In Norwegen handelte es sich zwar nicht um Islamisten. Aber Terror ist Terror. Deswegen ist der Text meines Kollegen Dominik Wurnig wichtig: „Was die Welt von Norwegens Reaktion auf das Utoya-Massaker lernen kann“
10. Wie oft ereignen sich vergleichbare Anschläge in Afghanistan, Irak oder Pakistan?
Auch wenn es auf einen Europäer anders wirken kann: Die meisten Terroranschläge finden außerhalb Europas (und Nordamerikas) statt, im Nahen Osten selbst. Dort sterben auch die meisten Menschen. Weniger als 3 Prozent aller Terrorismus-Opfer kommen aus westlichen Ländern.
11. Wenn ich noch mehr wissen will, welche Bücher sollte ich lesen?
Ich kann ihnen zwei Bücher empfehlen:
Das Buch ist schmal, aber nicht substanzlos. Auf 127 Seiten erklärter der Jenaer Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker, wie der Islamismus begann (er ist ein recht junges Phänomen) und welche Unterschiede es zwischen den Gruppen gibt. Ideale Einstiegslektüre.
Peter Neumann ist ein deutscher Terrorismusforscher, der am King’s College in London arbeitet. Zusammen mit seinen Mitarbeitern untersucht er, wie sich Terroristen in den sozialen Netzwerken bewegen – und hält engen Kontakt zu gut 100 von ihnen. Es gibt nur wenige, die so nah an die Menschen herankommen, die den Westen hassen. Deswegen dürfte es auch nur wenige geben, von denen man so viel über die selbst ernannten Gotteskrieger lernen kann.