Warum immer wieder Belgien? Warum Brüssel?
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Warum immer wieder Belgien? Warum Brüssel?

Auch die Attentäter von Paris kamen aus einem Brüsseler Problemviertel. Warum ist Belgien besonders terrorgefährdet? Wir beantworten Fragen von Krautreporter-Mitgliedern.

Profilbild von Esther Göbel
Reporterin für Feminismus

Belgien hat tatsächlich ein Problem mit radikalisierten Islamisten: Das kleine Land, in dem gerade einmal elf Millionen Menschen leben, weist pro Kopf der Bevölkerung gerechnet die höchste Dschihadisten-Dichte innerhalb der gesamten EU auf: Rund 400 Kämpfer sollen von Belgien aus nach Syrien emigriert sein, um sich dort am Krieg zu beteiligen. Zum Vergleich: Aus Deutschland gingen etwa 800 Kämpfer nach Syrien – bei einer Bevölkerung von rund 81 Millionen Menschen.

Allzu verwunderlich ist die hohe Zahl an Rekruten aus Belgien nicht: Erst vor knapp einem Jahr wurde in Antwerpen der 32-jährige Fouad Belkacem zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Er soll als Anführer der terroristischen Gruppe „Scharia4Belgium“ gezielt junge Menschen für den Dschihad angeworben haben.

Eine Rolle spielt auch der seit dem 19. Jahrhundert bestehende regionale Konflikt Belgiens, nämlich der zwischen Wallonen und Flamen. Das Land befindet sich in einem spannungsreichen Dauerzustand: Seit Jahren streiten Flamen und frankophone Brüsseler darum, wie die Region der Hauptstadt regiert werden soll. Nicht selten arbeiten beide Gruppen nicht miteinander – sondern gegeneinander. So hatte der flämische Innenminister Jan Jambon nach den Anschlägen von Paris verkündet, er werde in Brüssel „Ordnung schaffen“. Der französischsprachige Brüsseler Ministerpräsident Rudi Vervoort hatte daraufhin mitgeteilt, er verspreche sich rein gar nichts von diesem Vorschlag. Die 19 verschiedenen Bürgermeister Brüssels sind nicht selten politische Konkurrenten – diese Umstände begünstigen ein Verwaltungschaos, das es Radikalen erleichtert, in Brüssel Unterschlupf zu finden.

Vor allem ein Ort hat sich im Zusammenhang mit terroristischen Attentaten in den vergangenen Jahren einen schlechten Ruf erarbeitet: Molenbeek. Zu diesem Ort lassen sich mittlerweile mehrere Verbindungen zu Terror-Attentaten ziehen:

  • 2014 erfolgte ein Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel, bei dem vier Menschen getötet wurden – der Attentäter stammte aus Molenbeek.
  • Im Januar 2015 wurden bei einem Anschlag auf die Satirezeitung Charlie Hebdo zwölf Menschen getötet – zwei der Terroristen hatten Beziehungen nach Molenbeek.
  • Im August 2015 ereignete sich eine Attacke auf einen Thalys-Zug Paris-Amsterdam. Auch hier hatte der mutmaßliche Täter zumindest zeitweise in Molenbeek gelebt.
  • Der mutmaßliche Hauptverdächtige der Terroranschläge von Paris aus dem vergangenen November, Salah Abdeslam, ist erst vor vier Tagen festgenommen worden. Seine Familie lebt in Molenbeek. Der jüngere Bruder Ibrahim sprengte sich als Selbstmordattentäter bei den Pariser Anschlägen in die Luft. Der ältere Bruder, Mohamed Abdeslam, hatte sich nach dem Attentat öffentlich geäußert und in die Fernsehkameras gesprochen: „Wir wussten es nicht, keiner in der Familie von uns wusste es … sie sind hier aufgewachsen, sie sind hier zur Schule gegangen. Er (Salah] war ein ganz normaler Junge.“

Was ist los in Molenbeek?

In der ärmsten der 19 Brüsseler Gemeinden leben rund 95.000 Menschen, der Migrantenanteil ist hoch. Die meisten Einwanderer stammen aus dem Maghreb, vor allem Muslime leben in Molenbeek. Ebenfalls hoch ist der Anteil an Menschen ohne Job: Die Arbeitslosenquote liegt bei über 30 Prozent, für Jugendliche sogar bei knapp 41 Prozent. Dabei leben vor allem junge Menschen in Molenbeek: Das Durchschnittsalter liegt bei knapp 34 Jahren. Diese Ausgangslage in dem ehemaligen Industriestandort bildet einen fruchtbaren Nährboden für radikale Gesinnungen und Seelenfänger aller Art. Das Viertel kämpft zudem mit einer Budgetkürzung für Polizei und Sozialeinrichtungen.

Im November 2015 sagte der belgische Abgeordnete Hans Bonte, er sei „überhaupt nicht überrascht“, dass die Ermittlungen nach Molenbeek führten. Bonte nannte die Kleinstaaterei in Belgiens Polizeiwesen und einen Mangel an Überwachung als Gründe, warum der Radikalismus sich in Molenbeek so gut fortpflanzen könne. Probleme mit Drogenhandel, Diebstähle sowie Messerstechereien und Rangeleien mit der Polizei sind seit längerem aus Molenbeek bekannt.

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Was ist los mit den Sicherheitsbehörden?

Molenbeek trägt also längst das Label „sozialer Brennpunkt“. Offenbar aber ignorierte die Politik den Ernst der Lage lange, auch die örtliche Polizei hat die Bedrohung offenbar zu lax genommen. So sagte der Terrorexperte Peter Neumann vom Londoner King’s College am Tag von Salah Abdeslams Verhaftung am 18.03.16 in einem ARD-Brennpunkt, in Molenbeek habe sehr lange eine „sehr sehr dichte salafistische und islamistische Szene bestanden“, für die sich die Sicherheitsbehörden lange Zeit nicht interessiert hätten. Es gebe, so Neumann, nach wie vor in Europa keine übergeordnete Zusammenarbeit, in der beispielsweise alle Ermittlungsergebnisse der unterschiedlichen Behörden zusammengetragen werden. „Die Sicherheitsbehörden arbeiten immer noch nicht nahtlos zusammen. Das ist meiner Meinung nach ein Skandal, der sich wahrscheinlich wieder rächen wird leider“, lautete Neumanns Einschätzung. Wie wahr und gleichzeitig ungewollt zynisch die Bemerkung des Experten ist, wissen wir seit heute Morgen.

Allein steht Neumann mit seiner Kritik nicht. Immer wieder wurden Pannen der Brüsseler Polizei bekannt: Bereits im Juli 2014 soll die Polizei vor Ort Hinweise zu einer möglichen Radikalisierung der an den Pariser Attentaten beteiligten Brüder bekommen haben – die beiden wurden im Februar 2015 sogar verhört. Vier Monate später wurde der Fall allerdings eingestellt. Das Online-Politikmagazin politico berichtet, dass am Morgen nach den Anschlägen von Paris die französische Polizei ein Auto nahe der belgischen Grenze festgehalten habe – darin: Salah Abdeslam. Dessen Papiere und die Dokumente seiner Begleitung seien gecheckt worden, allerdings sei Abdeslams Name zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der digitalen Datenbank angezeigt worden. Erst 15 Minuten später seien die nötigen Information von der belgischen an die französischen Kollegen übermittelt worden.

Wie naheliegend ist, dass Abdeslams Festnahme die Terroristen zur Eile angetrieben hat?

Diese Frage ist nur schwer zu beantworten, weil es bislang keine offizielle Stellungnahme der Attentäter zu diesem Punkt gibt. Es bleibt also fraglich, ob die Geschehnisse in Brüssel eine Reaktion auf Abdeslams Festnahme waren – oder ob es sich um einen sowieso geplanten Anschlag handelt. Bundesinnenminister Thomas de Maizière ließ in einer Pressemitteilung verlauten: „Möglicherweise führen
auch erfolgreiche exekutive Maßnahmen wie Festnahmen dazu, dass der Terrorismus Gewalt noch stärker ausübt und als Reaktion darauf extra Anschläge begehen könnte.“

Und Terror-Experte Peter Neumann sagte im Interview der Tagesschau vom 18. März 2016, Abdeslams Verhaftung „könnte möglicherweise auch eine negative Auswirkung haben, denn dadurch wird Belgien jetzt noch mehr zum Fokus des Islamischen Staates und … an diesem Moment kann man nicht ausschließen, dass es möglicherweise auch Befreiungsaktionen geben kann.“