Wie Teile einer gigantischen Säge haben sich die Fronten im syrischen Bürgerkrieg seit 2011 bewegt: vor, zurück, vor, zurück. Zu Beginn sah es so aus als würden die Rebellen gewinnen. Dann stieß die Regierung unter Baschar al-Assad vor, nur um im vergangenen Sommer so weit in die Küstenprovinzen zurückgedrängt zu werden, dass plötzlich ihr Überleben auf dem Spiel stand. Mit dem Rücken zum Mittelmeer rief die Regierung ihren Verbündeten Russland um Hilfe, dessen Kampfjets seit September Assads Gegner bombardiert, die „Terroristen“, wie sie im Moskauer und Damaszener Außenministerium heißen.
Im vergangenen Oktober habe ich versucht, verständlich und trotzdem genau zu erklären, warum der Syrien-Krieg begann, wer dort kämpft und wer was erreichen will. Viele hatten mich gebeten, das Thema im Auge zu behalten. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für einen neuen Text. Denn während im Oktober noch nicht sicher war, was Russlands Eingreifen bewirken würde, zeigt sich nun deutlich: Es hat die Lage an der militärischen wie diplomatischen Front geändert. Der Krieg könnte in seine entscheidende Phase eintreten.
Die wichtigsten Entwicklungen seit Oktober:
Russland und die USA haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt - der wohl wertlos ist
Am Anfang dieser Woche verkündet US-Außenminister John Kerry, dass am Samstag, den 27. Februar, die „Feindseligkeiten“ in Syrien ruhen werden. Anders als bei den Versuchen vorher stimmten syrische Regierung und die Rebellengruppen der Waffenruhe zu. Theoretisch steht ihrer Durchsetzung nichts mehr im Weg. Doch die Einigung hat einen großen Nachteil: Sie bezieht sich nicht auf die Islamistenmiliz ISIS und die Rebellen-Gruppen, die Al-Qaida nahestehen. Weder haben sie der Waffenruhe zugestimmt noch schützt diese sie. Sie können weiterhin bombardiert werden, ebenso wie alle anderen Gruppen, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als terroristisch einstuft. In den vergangenen Monaten hatte Russland mehrfach behauptet, dass seine Luftangriffe vor allem ISIS gelten würden, während es die Rebellen bombardierte. Die Vereinten Nationen haben bereits klargemacht, dass sie nicht in der Lage sind, nach Beginn der Waffenruhe zu kontrollieren, wem die Angriffe wirklich gelten. Die Pro-Assad-Allianz könnte einfach weiter bomben – wie vor zwei Wochen.
John Kerry hatte damals eine Waffenruhe verkündet, deren Frist ohne Effekt verstrich. Truppen der Pro-Assad-Allianz zogen stattdessen, flankiert von starken russischen Luftangriffen, einen Gürtel um die wichtige nordsyrische Stadt Aleppo. Sie stehen heute kurz davor, den Belagerungsring zuzuziehen.
Russland, Iran und Assad haben die militärische Initiative - aber nicht die Oberhand
Vor dem Beginn des Krieges lebten in Aleppo 2,5 Millionen Menschen, die Stadt war und ist das wirtschaftliche Herz Syriens. Ab Juli 2012 eroberten Rebellen große Teile der Stadt, die sich neben den Städten Idlib und Deraa zu einer wichtigen Säule der Anti-Assad-Truppen entwickelte. Von Aleppo aus ist die türkische Grenze nur 60 Kilometer entfernt und damit der Nachschub an Waffen und Material gesichert. Aber dieser Nachschubweg ist seit Anfang Februar, seit den Angriffen der Pro-Assad-Allianz, für die Rebellen nicht mehr passierbar.
Fällt Aleppo, könnte das laut Dmitri Trenin vom Carnegie-Center in Moskau drei Folgen haben: Erstens, es könnte zu einem echten Waffenstillstand führen, nicht nur zu einem „Ende der Feindseligkeiten“. Zweitens, es könnte einen Sieg Assads wahrscheinlicher machen oder, drittens, die Situation eskalieren, weil die Türkei und Saudi-Arabien - beides Länder, die die Rebellen unterstützen – eingreifen. Eine direkte Folge ist bereits sichtbar: Unter den Kämpfen um Aleppo leiden Hunderttausende Zivilisten. Viele von ihnen sind in Richtung Türkei geflohen und harren dort an der Grenze aus.
Dass Aleppo fällt, ist nicht sicher. In der Stadt sollen bis zu 40.000 kampferfahrene Rebellen stationiert sein. Um sie zu erobern, bräuchte es nicht nur russische Luftschläge, sondern auch Bodentruppen. Diese hat die Assad-Regierung nach fünf Jahren Bürgerkrieg nicht mehr.
Kurden greifen jetzt auch Anti-Assad-Rebellen an – aber nur in der Region Aleppo
Allerdings haben Kämpfer Baschar al-Assad unterstützt, die in den Jahren vorher zu den Lieblingen des Westens wurden: die syrischen Kurden. Im Schatten russischer Angriffe haben sie Stellungen der Rebellen überrannt und eingenommen und so den wichtigen Nachschubkorridor geschlossen. Das Kalkül der Kurden: Sie sehen die Zeit gekommen, ihren Traum von einem eigenen Staat zu verwirklichen. Sie hatten zunächst nur gegen ISIS gekämpft, aber nun zum ersten Mal auch die anderen Rebellengruppen attackiert, weil sie Gebiete gehalten haben, die sie brauchen, um ihre eigenen Territorien miteinander zu verbinden. Dass Kurden, russische Luftwaffe und die Regierung Assad so offen und in so einem Ausmaß zusammenarbeiten, ist neu.
Die Türkei kämpft mit – aus der Ferne
Das Vorrücken der Kurden hatte Erzfeind Türkei zunächst argwöhnisch beobachtet, aber später offensiv bekämpft. Vom ihrem Hoheitsgebiet feuerten Artillerieeinheiten mehr als einhundert Granaten auf kurdische Truppen. Die Türkei ist Mitglied der Militärallianz NATO, die klarstellte, dass sie nicht helfen werde, sollte die Türkei noch stärker in den Syrien-Konflikt eingreifen. Fast zeitgleich verkündete Saudi-Arabien, dass es Bodentruppen nach Syrien entsenden werde, wenn die „Zeit dafür reif sei“. Zudem drohte es vergangene Woche, die Rebellen mit Boden-Luft-Raketen auszurüsten, mit denen diese die Kampfjets Russlands und der Regierung abschießen könnten. Bisher hatten die USA die Lieferung verhindert, weil sie fürchten, dass die Waffen in die Hände von terroristischen Gruppen wie ISIS geraten, die sie gegen zivile Flugzeuge verwenden könnten.
Weil die Kurden jetzt auch Rebellen angreifen und die Türkei wiederum mit Artillerieschlägen antwortet, ist die Schlachtsituation seit Oktober nochmal deutlich unübersichtlicher geworden:
ISIS verliert Land und Rekruten – jedenfalls in Syrien und Irak
ISIS hatte vor allem im Sommer 2014 viele Fahrzeuge und Waffen der irakischen Armee erobert. Immer wieder tauchen auch westliche Kleinwaffen in den Videos der Miliz auf. Seit ihren größten Erfolgen hat ISIS aber an Boden verloren: US-Militärs schätzen den Landverlust auf 40 Prozent im Irak und 20 Prozent in Syrien. Viele Öl-Quellen, aus denen ISIS seine Fahrzeugflotte versorgte, hat die Miliz verloren. Außerdem gibt es Indizien dafür, dass sie nicht mehr so attraktiv für neue und alte Rekruten ist. Die Aktivistengruppe „Raqqa Is Slaughtered Silently“ berichtet, dass bei ihr in letzter Zeit immer mehr ISIS-Kämpfer um Hilfe bitten, weil sie fliehen wollen. Aber ISIS ist nicht besiegt. In Ländern wie Libyen und Nigeria breitet sich die Miliz aus. In Syrien könnten ihre Rückzüge taktischer Natur sein.
Aber eine Sache hat sich seit Oktober nicht geändert: Jedes Mal, wenn sich die Front bewegt, zerreißen die scharfen Sägeblätter des Krieges Familien und Freundschaften. Aktuellen Zahlen zufolge soll seit 2011 jeder zehnte Syrer verletzt oder gestorben sein. 470.000 Menschen sind tot. 10 Millionen auf der Flucht.
Aufmacher-Foto: Der russische Präsident Wladimir Putin begrüßt den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. (Kremlin.ru)