1. Viele sagen Angela Merkel in diesen Tagen, dass es auch ein Leben vor Schengen gab. Aber was meinen sie damit? Zum Beispiel Niall Ferguson in diesem Interview mit Zeit Online: „Viele Dinge können eine Zeit lang gut laufen, trotzdem können sie einen Fehler darstellen. Die EU-Mitgliedsländer haben mit Schengen eine zentrale staatliche Aufgabe aufgegeben: die Sicherung der Grenzen. Europa hat vergessen, dass Grenzen wichtig sind”, sagt der britische Historiker. Damit drückt er das Unbehagen mancher Konservativer mit der Idee eines postnationalen Europas aus, in dem die Staaten nicht mehr in allem das letzte Wort haben. Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy fasst zusammen: „Schengen ist tot.” Und wenn Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, ein Europa-Enthusiast in der Tradition Helmut Kohls, sagt: „Wer Schengen killt, wird den Binnenmarkt zu Grabe tragen“, sammeln sich darunter Kommentare wie diese: „Auch vor Schengen, Binnenmarkt und all dem Zeug haben wir gelebt und das nicht schlecht.” Oder: „Schengen ist die Lösung eines Problems, das nie existiert hat.”
Merkel würde widersprechen, so wie dieser Kommentator: „Man konnte auch schon leben, als Briefe noch mit der Schreibmaschine geschrieben werden mussten, als Kommunikation nur per Post oder Telefon möglich war und es nur drei Fernsehprogramme gab. Und selbst zu Zeiten, in denen man noch mit der Postkutsche reiste und an der Grenze zwischen Hannover und Schaumburg-Lippe den Pass vorzuzeigen hatte, haben Menschen gelebt. Und manche nicht schlecht. Aber dahin zurück will kaum jemand.” Die Ironie ist: Der Reisepass ist eine Erfindung des 20., die nationale Grenze eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Pass und Grenze sind die Ausnahme, nicht die Regel in der Geschichte Europas.
2. Man muss nicht allzu alt sein, um zu wissen, wie es war: Man reichte Zöllnern in unterschiedlich farbigen Uniformen seinen damals noch dunkelgrünen deutschen Reisepass. Und sie fragten: „Haben Sie etwas zu verzollen?” Schlagbäume, Grenzanlagen, grimmige Schäferhunde sind erst seit 1995 in fast ganz Europa abgeschafft. Schengen, ein Ort in Luxemburg, in dem das entsprechende Abkommen unterzeichnet wurde, steht damit für eine praktische europäische Errungenschaft.
Es geht aber um mehr. Treibende Kraft des Schengener Abkommens ist die Überzeugung, dass alle profitieren, wenn Staaten die Hürden beseitigen, die einen möglichst flüssigen Strom von Waren und Menschen über Grenzen hinweg erschweren: der Freihandel. Dieses Prinzip ist auch die Ursprungsidee der Europäischen Union, die einmal als Freihandelsabkommen angefangen hat.
Mit: „Es gab ein Leben vor Schengen”, erinnert Merkel also weniger daran, wie es war, als Zöllner noch Stempel in Dokumente knallten. Sie warnt vielmehr davor, den Binnenmarkt der EU leichtfertig zu gefährden. Fast jeder vierte Arbeitsplatz hängt in Deutschland vom Export ab. 57,7 Prozent aller deutschen Exporte gingen 2014 in EU-Länder. Die französische Denkfabrik France Stratégie schätzt die Gesamtkosten auf „langfristig mehr als 100 Milliarden Euro” im Jahr, sollten die Grenzkontrollen wieder eingeführt werden.
Als deutsche Kanzlerin muss Merkel also alles tun, um die Grenzen so offen wie möglich zu halten, um erfolgreich zu sein. Darum geht Merkels Satz folgendermaßen weiter: „Aber ob uns so etwas heute im weltweiten Wettbewerb stärken würde und ob wir unsere Vorteile einer Europäischen Union und eines Binnenmarktes kräftigen könnten, diese Frage steht im Raum. Ich beantworte sie ganz klar mit Nein.”
3. Der Satz: „Es gab auch ein Leben vor der Deutschen Einheit” klingt relativierend, aber Merkel meint das genaue Gegenteil. Leben gibt es überall, auch in den schlimmsten Konfliktregionen. Die Frage, die man sich stellen muss, lautet: Welche Qualität hat dieses Leben? In diesem Satzteil des Zitats steckt ihre ganze Ablehnung der allgemein menschlichen Tendenz gegenüber, die Vergangenheit nostalgisch zu verfärben. Aus der kognitiven Forschung weiß man, dass das Gehirn Erinnerungen idealisiert, je weiter sie zurückliegen. „Rosy retrospection“ nennen Psychologen diesen Effekt. In Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen neigen Menschen eher zur rosa Vergangenheitsbrille als in Zeiten der Stabilität, weil sie sich unsicher fühlen. Wenn dann Sätze wie: „War doch alles halb so schlimm” oder eben: „Es gab auch ein Leben vor XY” kommen, hat das mit vernünftigen Argumenten wenig zu tun. Es ist eine Angst, die rationalisiert wird.
Für Merkel hat die Frage nach offenen und geschlossenen Grenzen und die Relativierung dessen, was Öffnung bedeutet, einen Wiedererkennungseffekt, der unmittelbar mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat. Denn eine deutsche Nostalgie-Besonderheit ist die Ostalgie – die Sehnsucht nach dem Leben oder bestimmten Lebensweisen in der DDR. Merkel hat 35 Jahre lang in der DDR gelebt und sie ist eine Gegnerin dieser Verklärung. Bei einer Gedenkveranstaltung zur „friedlichen Revolution”, die zum Mauerfall geführt hat, wählte sie scharfe Worte: Die DDR, sagte sie, war ein „Unrechtsstaat, auf Unrecht gegründet, ohne legale Opposition, ohne freie Wahlen, ohne unabhängige Justiz, ohne Meinungsfreiheit”. Klar gab es auch in diesem Staat Normalität und einen Alltag, in dem Menschen ihr Leben lebten. Aber man kann sich nicht danach zurücksehnen, ohne irgendwie den Rahmen dafür zu akzeptieren.
4. Vor der Wiedervereinigung schlängelte sich ein Grenzzaun auf 870 Kilometer Länge durch Deutschland. Auf knapp der Hälfte davon standen scharfe Selbstschussanlagen. Lösten sie aus, explodierten 110 Gramm TNT, die 110 würfelförmige Metallsplitter in einem weiten Kegel durch die Luft schleuderten, die verletzten, töteten. Zwischen den Grenzzäunen hatte die DDR auf 230 Kilometer Minen vergraben, die den Flüchtling nicht töten, sondern nur verletzen sollten. So konnte er noch festgenommen werden von den 44.000 Soldaten, die in den Grenztruppen dienten und von ihren 434 Beobachtungstürmen alles überwachten.
Merkel rief diese Grenze in ihrer Rede in Erinnerung, weil diese wie keine andere der deutschen und der Weltgeschichte den zwiespältigen Charakter solcher Anlagen klar macht: „Schutz” derjenigen, die drinnen sitzen und nicht raus wollen, wird mit Gewalt gegen jene erkauft, die hinein- oder hinauswollen. Die DDR-Propaganda verkaufte die Grenze als „antifaschistischen Schutzwall” und leugnete gleichzeitig dessen gewalttätigen Charakter. Wenn Merkel von dem „noch besseren” Schutz der damaligen Grenzen spricht, macht sie sich die Wortwahl der DDR auf den ersten Blick zu eigen, kann aber darauf vertrauen, dass jeder weiß, wer diesen „Schutz” bezahlt hat: 872 Menschen, mit ihrem Leben. Die Mauertoten.