Nein, die „uralte Feindschaft“ zwischen Schiiten und Sunniten erklärt nicht alles, was im Nahen Osten schiefläuft

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Nein, die „uralte Feindschaft“ zwischen Schiiten und Sunniten erklärt nicht alles, was im Nahen Osten schiefläuft

Im Islam gibt es Schiiten und Sunniten. Viele Menschen im Westen glauben, dass diese beiden Gruppen so etwas wie die Konfessionen des Islams darstellen – die noch dazu seit Jahrtausenden tief verfeindet sind. Das ist falsch. Krautreporter fasst die wichtigsten Punkte zusammen.

Profilbild von Iman Al Nassre

Sunniten, Schiiten - was war das noch gleich?

„Sunniten“ und „Schiiten“ sind die Bezeichnungen für die beiden größten Gruppierungen innerhalb der muslimischen Ummah (Gemeinschaft). Von etwa 1,5 Milliarden Muslimen weltweit sind 10 bis 13 Prozent schiitisch und 87 bis 90 Prozent sunnitisch. Die meisten Schiiten leben im Iran, in Pakistan, Indien und im Irak. Die Spaltung zwischen den beiden Gruppen erfolgte bereits wenige Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten Mohammed.

Ach so. Konfessionen.

Nein. Die Unterscheidung innerreligiöser Strömungen durch den Begriff der Konfession ist stark mit der im Christentum institutionell organisierten Kirche verbunden. In dieser Hinsicht gibt es im Islam nur wenig vergleichbare Strukturen. Daher ist diese Einordnung eher unpassend.

Wie kam es zur Spaltung?

Nach dem Tod Mohammeds wählten seine engsten Gefährten Abu Bakr zum ersten Kalifen, das heißt zum Nachfolger als religiöser und politischer Anführer der Muslime (nicht aber als Prophet). Manche hielten diese Wahl für eine Fehlentscheidung. Stattdessen sei Ali ibn Abu Talib, Mohammeds Vetter und Schwiegersohn, als Verwandter Mohammeds der rechtmäßige Nachfolger. Dieser Konflikt führte zur späteren Spaltung innerhalb des Islams: die Shia, von Shiatu Ali (Partei Alis) und die Sunniten, deren Bezeichnung sich auf die Sunna, die überlieferte Handlungsweise des Propheten Mohammeds, bezieht. An vierter Stelle wurde Ali 656 zum Kalifen und herrschte nur fünf Jahre bis zu seiner Ermordung. Mit seinem Tod ging die islamische Herrschaft vom heutigen Saudi-Arabien an die ummayadische Dynastie in Damaskus und später zu den Abbasiden nach Bagdad über. Schiiten lehnten diese Autoritäten ab. Im Jahr 680 töteten Soldaten des zweiten Ummayadischen Kalifen Hussein, den Sohn Alis und viele seiner Anhänger in Karbala (heute Irak). Bis heute spielen die Ereignisse von Karbala für Schiiten eine zentrale Rolle. Auf die Schlacht von Karbala folgten weitere Verfolgung und Marginalisierung der Schiiten durch die sunnitischen Ummayaden, da diese weitere Aufstände fürchteten.

Trotz der politischen Machtergreifung durch die sunnitisch geprägte Herrschaft etablierten die Schiiten religiöse Autoritäten. Im Gegensatz zu Sunniten, bei denen der Begriff Imam nur die Funktion als Leitung eines gemeinsamen Gebets bezeichnet, glauben die meisten Schiiten, die sogenannten Zwölfer-Schiiten, an zwölf rechtmäßige Imame, die für sie religiöse Autoritäten verkörpern. Sie erwarten die Rückkehr des letzten dieser Imame, der sich 939 zurückgezogen haben soll. Inzwischen verkörpern sogenannte Ayatollahs die religiöse Autorität. Da diese von den sunnitischen Gelehrten abweichen, haben sich in Theologie und Ritus Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten entwickelt; Glaubensgrundsätze und viele Praktiken sind jedoch identisch oder ähnlich.

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Die innerislamische Vorherrschaft lag in den ersten neun Jahrhunderten islamischer Geschichte überwiegend bei den Sunniten, bis zur Safawidischen Dynastie in Persien 1501 bis 1722. Das Safawidische (schiitische Führung) und das Osmanische Reich (sunnitische Führung) ist in der heutigen Verteilung innerhalb muslimischer Bevölkerungen noch erkennbar. Schiiten bilden damit die Mehrheit im Iran, im Irak, in Aserbaidschan und Bahrain, wohingegen über 40 Staaten mehrheitlich sunnitisch geprägt sind.

In den dunkelgrünen Gebieten leben Schiiten, in den hellgrünen leben Sunniten

In den dunkelgrünen Gebieten leben Schiiten, in den hellgrünen leben Sunniten Gulf2000 Iniative

Also sind die heutigen Konflikte die Fortführung eines jahrhundertelangen Religionskrieges?

Nein.

Soll das heißen, die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten spielen keine Rolle?

Doch. Sie spielen eine große Rolle. Aber diese Spannungen sind a) nicht historisch über Jahrhunderte gewachsen, b) keine religiöse Auseinandersetzung und c) nicht die Non-plus-ultra-Erklärung für alles, was „da unten schiefläuft“.

Aber selbst der US-Präsident Barack Obama hat in seiner Rede zur Lage der Nation gesagt, dass der Nahe Osten gerade einen Wandel erlebe, der „in Konflikten wurzelt, die Jahrtausende alt sind“.

Obama hat eine rhetorische Keule wiederholt, die sich auf wenige Fakten stützt. Für diese Annahme gibt es wenig Anhaltspunkte und vieles widerspricht ihr (zum Beispiel alle anderen Argumente in Obamas Rede selbst).

Was hat es also mit diesem Konflikt auf sich?

Wissenschaftler datieren den Beginn des heutigen Konflikts auf die späten 1970er, das heißt 40 Jahre, nicht 14 Jahrhunderte. Noch in den 1950er und 1960er Jahren war die vorherrschende Ideologie im Nahen Osten arabischer Nationalismus. Die Machthaber wollten etwaige religiöse Unterschiede nicht erwähnen, um die Nation nicht zu spalten. Extremistische Gruppierungen wie wir sie heute sehen sind ein Resultat verschiedener gewalttätiger Auseinandersetzungen im Gebiet, so wie die sowjetische Invasion Afghanistans 1979, Arabisch-Israelische Kriege, die Invasion Iraks durch die USA 2003 und aktuell die Eskalation des Kriegs in Syrien.

Die sunnitisch-schiitischen Auseinandersetzungen wiederum rühren aus einer forcierten Identitätspolitik.

Identitätspolitik, was soll das sein?

Religiöse Strömungen bieten sich an, um politische Interessen durchzusetzen und Machtverhältnisse zu (de)stabilisieren. Insbesondere der Iran und Saudi-Arabien nutzen religiöse Rhetorik, nicht etwa aus religiösem Hass, sondern als politisches Instrument. Es ist vergleichbar mit der ethnischen und religiösen Polarisierung des ehemaligen Jugoslawien in den frühen 90ern. So wie in Ägypten und Tunesien die politische Rhetorik für eine Spaltung zwischen islamistischem und säkularem Lager sorgte, wurde in Bahrain und Syrien das gesellschaftliche Spektrum entlang der Linien religiöser Demografie geteilt. Dass diese Identitäten vor allem durch Politik und nicht auf unversöhnlicher innerreligiöser Differenzen basieren, zeigen folgende Beispiele:

  • 1950 konnten sich bei einer Bevölkerungszählung im Irak viele nicht als sunnitisch oder schiitisch einordnen, da sie aus gemischten Familien kamen.
  • 1958 entschied der ägyptische Großmufti, dass schiitischer Islam an der renommierten theologischen Fakultät, der al-Azhar Universität, unterrichtet werden soll.
  • In den 1980ern kämpften viele schiitische Iraker im Krieg gegen den ebenfalls schiitischen Iran.
  • Im Jemen kämpft die sunnitische Regierung gegen die Houthi-Rebellen. Die Houthis sind jedoch Teil der schiitischen Zaydi-Minderheit, die in ihrer Auslegung des Islams dem sunnitischen sehr ähneln. In jemenitischen Moscheen war es üblich, gemeinsam zu beten; die religiösen Praktiken haben sich kaum unterschieden. Es gibt also keine klare Trennung im alltäglichen Miteinander.
  • Die Alawiten Syriens, die Minderheit, der das Assad-Regime entspringt, identifizieren sich selbst erst seit 40 Jahren als Ableger der Schiiten.

Hingegen erlauben politische Bündnisse Toleranz gegenüber angeblich untolerierbarer Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten:

  • In den 1960ern unterstützte Saudi-Arabien Zaydi-Schiiten im Bürgerkrieg gegen Ägypten.
  • Der schiitische Iran unterstützte sowohl die schiitisch-geprägte Hisbollah als auch die sunnitisch- geprägte Hamas.

Was ist (nicht) die Lösung?

Das gefährliche am Mythos vom uralten Religionskrieg sind die Trugschlüsse, die aus ihm gezogen werden. Was muss her, damit endlich Ruhe ist zwischen Sunniten und Schiiten? Die Antwort lautet meist: autoritäre Regime, denn nur sie können beide Gruppen kontrollieren und einen sicheren Status quo schaffen. Dabei wird vergessen, dass es autoritäre Regime sind und waren, die diese Spaltung und andere gesellschaftliche Polarisierungen forciert haben. Das Mubarak-Regime in Ägypten tolerierte viele Angriffe auf die koptische Minderheit, während Präsident Sisi momentan islamistische Feindbilder schürt, um die Bevölkerung von der Neuetablierung eines Militärstaats zu überzeugen. In der Regierungszeit des irakischen Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki wurden im Irak zahlreiche Repressionen gegen sunnitische Oppositionelle verübt, um schiitische Privilegien sicherzustellen. Autoritäre Regime sind das Problem, nicht die Lösung.

Der Krieg in Syrien hat Machthabern im Nahen Osten einen weiteren akuten Anlass gegeben, unter dem Deckmantel sunnitischer Solidarität die Polarisierung zu verstärken. Es ist nicht abzusehen, dass diese Zuspitzung bald abebbt. Der Ruf nach starken Regime, Intervention durch religiöse Autoritäten, Exegese oder gar Reformation des Islams, um die Kluft zu schließen, verfehlen daher die Ursache des Problems, das kein religiöses, sondern an erster Stelle ein politisches ist.


Aufmacherbild: Wikipedia,_ Mansuri, CC BY-SA 2.5