Wer sich anschaut, was in den letzten zwölf Monaten auf der Welt passiert ist, kann sich nur sehr schwer des Gefühls erwehren, dass etwas sehr Großes, etwas sehr Weitreichendes in Europa geschieht. Die Mega-Krisen reihten sich aneinander wie schwarze Perlen: Paris-Anschläge, Griechenland-Krise, ISIS, Flüchtlinge, AfD, die neue Polen-Regierung. Zum ersten Mal seit ihrem Amtsantritt sprachen Menschen davon, dass Merkel vielleicht zurücktreten müsse. Selbst ein Kanzler Schäuble war im Gespräch – oder hat sich jedenfalls selbst ins Gespräch gebracht.
Die ganze Rhetorik von der Alternativlosigkeit, sowohl von denen, die sie propagieren, als auch von denen, die sie schon immer angegriffen haben, ist in diesem Jahr ein Stück weit bedeutungslos geworden. Denn viele sind verwirrt - gerade, weil es plötzlich wieder so viele Fragen auf der Welt gibt und damit auch mögliche Antworten und Alternativen. Haben die Rechten nicht recht, wenn sie die Flüchtlingspolitik kritisieren? Bin ich damit auch rechts? Wieso kann einer wie Viktor Orban in Ungarn seine Regierung nach Gutdünken umbauen, ohne dass die EU einschreitet? Wäre der Grexit nicht besser? Und wieso kann Deutschland nicht einfach Nein sagen zu einem transatlantischen Handelsabkommen? Wer braucht es denn wirklich?
Die Ära der Alternativlosigkeit scheint zu Ende zu gehen
Die Verwirrung der Menschen speiste sich bisher aus einem Gefühl der Sprachlosigkeit. Ihnen waren die Worte abhandengekommen, die Diskussionen im ideologisch aufgeladenen 20. Jahrhundert so viel einfacher gemacht haben. Das aber änderte sich 2015 vollkommen. Die Republik ist wieder politisiert worden. Es gibt Vokabeln, die jeder eindeutig einem bestimmten Spektrum zuordnen kann und mit denen sich ganz konkrete, politische Vorhaben verknüpfen lassen. Sei es nun „Lügenpresse“ oder „Willkommenskultur“.
Das Politische kehrte 2015 zurück. In Form der schärfsten Auseinandersetzungen seit den Hartz-Reformen – und nicht die Politiker der Großen Koalition haben sie geführt, sondern die Bürger selbst. Montags auf den Straßen bei den Pegida-Demonstrationen und Gegendemonstrationen. In den Kommentarspalten von Facebook. In den Notunterkünften, auf der Balkanroute, an den Bahnhöfen, an denen manche dieser Bürger klatschend standen.
Als der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 im Angesicht des Wandels der Sowjetunion das „Ende der Geschichte“ voraussagte, meinte er damit nicht, dass nichts mehr passieren werde auf der Erde. So dumm wollten ihn immer nur seine Gegner dastehen lassen. Er meinte, dass der Wettbewerb der Ideologien zu Ende sei. Die liberale, marktwirtschaftliche Demokratie sei ohne echten Gegner und werde sich deswegen unaufhaltsam ausbreiten. „Der Triumph des Westens, der westlichen Idee, zeigt sich in der völligen Erschöpfung praktikabler systemischer Alternativen zum westlichen Liberalismus“, schrieb er. Diese These war schon immer eine These, die bisher nur für den westlichen Bürger stimmen konnte. Das gab Fukuyama in seinem Aufsatz auch freimütig zu. Denn in anderen Teilen der Erde gebe es noch ideologische Gefechte um Nationalismus und Ethnie und Kultur. Gerade China und Russland hob er in diesem Zusammenhang hervor.
In den westlichen Demokratien wird wieder um Fragen von Nation und Ethnie gerungen
Diese Gefechte wurden allerdings auch in Europa gekämpft, an den Rändern der Europäischen Union. In Georgien, der Ukraine, in manchen Balkan-Staaten. In diesem Jahr aber hat sich der Schwerpunkt dieser Gefechte verlagert. In Frankreich kann eine große Koalition der alten Parteien nur gemeinsam den Wahlsieg des rechtsgerichteten Front National verhindern, in Polen baut die neue Regierung einen Staat auf, der autoritärer ist als alles, was das Land seit dem Fall der Mauer gesehen hat. Und Deutschland? Hier will die Alternative für Deutschland und mit ihr Pegida dieses Gefecht auf die ganz große Bühne tragen.
Überall in Europa wird im Moment ein Kampf ausgetragen, den Fukuyama für beendet erklärt hatte. Er ist manchmal dringend und laut und unmittelbar erfahrbar wie in Frankreich, manchmal wirkt er aber auch, wie in Deutschland, nur größer als er angesichts der Wahlprognosen und tatsächlichen Einstellungen der Bevölkerung ist. Wichtig aber ist, dass dieser Kampf wieder da ist, mit aller Macht. Und nicht nur in Europa. Auch die USA haben mit Donald Trump einen Möchtegern-Präsidentschaftskandidaten, der die ganze Sehnsucht einer bestimmten nationalistischen, ethnisch weißen Bevölkerungsschicht zu bündeln vermag.
Im Kern sind diese Auseinandersetzungen wie alle guten, politischen Fragen ein Ringen um die Identität eines Landes – und Identität wiederum kann nicht erklärbar werden ohne über das Innere und das Äußere zu sprechen, über die Konstruktionen des „Nahen“ und des „Fernen“, des „Heimischen“ und des „Fremden“. Die Flüchtlingskrise spülte diese Fragen wie kaum ein anderes Ereignis nach oben. Das ist offensichtlich.
Wer sich nicht repräsentiert fühlt, steht außerhalb des Systems
Aber wenn man tiefer gräbt, etwa auf die Auseinandersetzung um das Freihandelsabkommen schaut, dann ist der Widerstand dagegen in seinen einfachen, von der Kampagnen-Plattform Campact popularisierten Parolen eben auch die Frage nach dem eigenen Wesen. Die technischen Feinheiten eines Handelsabkommens sind nur den Experten bei den Unternehmen und den NGOs geläufig, die Vertragstexte werden kaum gelesen. Die Politiker glauben, dass sie bei TTIP um neue Normen für Auto-Seitenspiegel ringen. Die demonstrierenden Bürger sehen darin einen weiteren, völlig unnötigen Anwurf der hyperkomplexen Postmoderne auf ihr schutzloses Leben. TTIP ist da wie ein leerer Raum, in dem jeder seine Wut herausschreien kann. Das Gefühl der Wut, dieses innere Beben ist gut nachvollziehbar. Die Politik wird übergriffig, sagen die Demonstranten, sie ignorieren, was die Bevölkerung will. Montags in Dresden sagen die Pegidisten auch genau das. Es geht nicht darum, Pegida und Anti-TTIP-Protest über einen Kamm zu scheren. Aber diese eine Gemeinsamkeit ist sehr deutlich.
Es ist dabei übrigens egal, ob das stimmt, ob die ganze Kritik an TTIP gerechtfertigt ist oder nicht. Denn jede liberale, demokratische Staatsform beruht auf einem unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag, der nur von der Mehrheit der Bürger durchgesetzt und getragen werden kann. Eine diktatorische Demokratie ist ein Widerspruch in sich. Wer sich nicht repräsentiert fühlt, steht außerhalb des Systems und wird von diesem Standpunkt aus auf die Welt schauen und das System sezieren, als wäre es eine Leiche auf dem Tisch des Gerichtsmediziners. Der Gegensatz zwischen innen und außen ist auch hier wieder prägend. Der Bürger, der außen vor bleibt, beginnt nach einer Alternative zu suchen, mehr noch: Er kann durch seine bloße Existenz in den Augen vieler ebenso Enttäuschter die Alternative sein. Nochmal: Wichtig ist nicht, ob der Bürger tatsächlich außen vor bleibt. Wichtig ist, wie er sich fühlt. Deswegen sind auch vermeintlich sachliche, vermeintlich rationale Austausche mit solchen Menschen kaum möglich. Sie sprechen das Hirn an, wo eigentlich das Herz gefragt wäre.
Im Jahr 2015 gab es mehr Menschen als sonst, in Deutschland, Europa, im ganzen Westen, die das Gefühl hatten, nicht mehr Teil des Systems zu sein. Und da für Fukuyama der Triumph der westlichen Idee im Westen die eine absolute Bedingung für seine Theorie vom Ende der Geschichte war, ist eine naheliegende Schlussfolgerung, dass seine Theorie in diesem Jahr zu wackeln begonnen hat. Oder anders formuliert: 2015 war das Jahr, in dem die Geschichte wieder begann.
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