Etwas schien seltsam an den beiden Männern, die in Pierres Büro kamen und nach Hilfe fragten. Sie hätten im Frühjahr an den Demonstrationen gegen die Regierung teilgenommen, und nun seien sie in Schwierigkeiten. Einer von ihnen zeigte eine Wunde an seinem Bein. Die Verletzung habe er sich zugezogen, als er von der Polizei verhaftet worden sei. Gab es einen sicheren Ort, wo sie sich verstecken konnten, wollte er gerne wissen.
Zunächst war nichts Ungewöhnliches daran. Im Mai waren Tausende in derselben Lage. Oppositionelle wurden entweder ermordet oder verhaftet oder flüchteten in einem nicht enden wollenden Strom. Die beiden Männer behaupteten, sie kämen aus der gleichen Gegend wie Pierre. Aber so sehr sich Pierre auch sein Hirn zermarterte, er konnte sie nicht einordnen.
„Wer hat die Proteste in eurer Gegend organisiert“, fragte er vorsichtig. Die beiden Besucher murmelten etwas Unverständliches. Sie konnten sich an keine Namen erinnern. “Was ist mit der Frau, die für euch gekocht hat, wisst ihr deren Namen?“ Auch diese Frage konnten sie nicht beantworten.
Pierre ist einer der wenigen verbliebenen Menschenrechtsaktivisten in Burundi. Wer ihn reinlegen will, braucht viel Fingerspitzengefühl. Und jetzt weiß er, dass sie ihm auf der Spur sind. Seit dem Besuch der beiden Männer parkt ein gelbes Motorrad-Taxi ein kleines Stück weiter oben in der der Straße, mit Blick auf den Eingang zu Pierres Büro. Jeden Tag. Der Taxifahrer hat nie irgendwelche Kunden.
Pierre musste die Büros wechseln und trägt neuerdings eine Baseball-Mütze. Jeden Tag nimmt er einen anderen Weg ins Büro. Und am Ende eines jeden Arbeitstages löscht er die Fotos und Nummern aus seinem Mobiltelefon und wirft seine Notizen weg.
In der Nacht ruft jemand an und schreit Obszönitäten ins Telefon. Pierre antwortet: „Falsche Nummer.“
Seit sechs Monaten waren wir nicht mehr in der Hauptstadt von Burundi, der Heimat von etwa 500.000 Menschen. Zumindest der letzten Volkszählung von 2008 zufolge. Die aktuelle Zahl kennt niemand. Heute sind wir auf den belebten Straßen von Bujumbura unterwegs. Es ist Regenzeit, und über dem Tanganjikasee tauchen bedrohliche Wolken auf, aber es ist immer noch sehr heiß. Frauen und Tiere sind auf dem Asphalt unterwegs. Junge Männer fahren auf überladenen Rädern oder hängen hinten an Lastwagen in den Auspuffgasen. Glänzend polierte Jeeps hupen, weil ihnen Kinder ohne Schuhe die Straße versperren. Frauen verkaufen Mangos aus den Körben auf ihren Köpfen.
Es gibt keine Spur mehr von den brennenden Autoreifen vom Mai. Oberflächlich gesehen, scheint alles wieder normal zu sein. Aber nichts ist normal. Nach Einbruch der Dunkelheit um sechs Uhr sind die Straßen leer. Und dann gehen die Explosionen und Schießereien los. Wenn die Bewohner am nächsten Tag aufwachen, ist der Sohn des Nachbarn verschwunden. Vielleicht findet man eine Leiche in der Gosse.
Wann fing die Fassade an zu bröckeln? Wahrscheinlich viel früher als man es bemerkte – eine von Gewalt überschattete Wahl im Jahr 2010; eine zunehmend diktatorische Regierungspartei; die Schikane, unter der Journalisten und Aktivisten leiden; eine gnadenlose Armut ohne Aussicht auf Besserung; lähmende Korruption.
Zu Beginn des Jahres 2015 waren die bedrohlichen Probleme nicht mehr zu übersehen. Der Sprecher von Präsident Pierre Nkurunziza bestätigte, was alle befürchtet hatten - dass er für eine Wiederwahl antreten wird, obwohl es seine dritte Amtszeit ist. Das Friedensabkommen und die Verfassung von Burundi erlauben nur zwei.
Das Lager des Präsidenten hatte eine schlampige Formulierung in der Verfassung genutzt, wonach ein Präsident nur einmal bei öffentlichen, freien Wahlen wiedergewählt werden kann. Aber das Parlament hatte Nkurunziza im Jahr 2005 nach der ersten demokratischen Wahl ernannt, seit der Bürgerkrieg im Jahr 1993 begonnen hatte. Technisch gesehen, zähle seine erste Amtszeit somit nicht, schlussfolgerten sie.
Diese Interpretation fand selbst in der eigenen Partei wenig Unterstützung. Die meisten Leute dachten, es gebe keinen Zweifel daran, was der Gesetzgeber mit dieser Regelung beabsichtigt hatte. Politiker setzten sich ab, wurden entlassen oder flohen. Die Zivilgesellschaft begann sich zu mobilisieren. Unterstützung kam von der katholischen Kirche. Und die Außenwelt warnte vor den Folgen, sollte sich der Präsident nicht zurückziehen.
Bei unserem ersten Besuch im Mai hatte die Polizei bereits damit begonnen, auf die Proteste mit Tränengas und scharfer Munition zu reagieren. Die Demonstranten errichteten Barrikaden um ihre Viertel, setzten Reifen in Brand und warfen Steine. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits 50.000 Burunder das Land verlassen, Menschen starben in den Straßen, und die Risse innerhalb des Polizei und des Militärs waren für jeden offensichtlich.
Daher war es keine Überraschung, dass der ehemalige Leiter des Geheimdienstes von Burundi, Godefroid Niyombare, am 13. Mai einen Staatsstreich machte, als der Präsident auf einer Konferenz im Nachbarland Tansania war.
Während all dies geschah, waren wir in einem burundischen Flüchtlingslager nahe der Grenze in Ruanda. Plötzlich eröffneten verschieden Divisionen des Militärs und der Sicherheitskräfte das Feuer. Flughäfen und Grenzen wurden geschlossen, Zivilisten hockten in ihren Häusern, und niemand wusste, wer eigentlich auf wen schoss.
Es dauerte nicht einmal 48 Stunden. Dann wurden die Putschisten zur Aufgabe gezwungen, und der Präsident kehrte zurück. Zu diesem Zeitpunkt waren alle unabhängigen Radiosender abgeschaltet oder in die Luft gesprengt. Und alle Menschen, die den Präsidenten und seine Regierung kritisiert hatten, waren plötzlich akzeptable Ziele.
Zweites Kapitel
Es ist heiß. Der Ventilator in unserem Zimmer klingt wie eine Schlagbohrmaschine. Wir gehen ein Stockwerk tiefer. Der Aufzug ist außer Betrieb, und der Kühlschrank ist kaputt. Strom kommt und geht. Abends wird das Zirpen der Grillen vom Dröhnen des Dieselgenerators verschluckt.
Es ist nur ein paar Monate später, aber man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Damals im Mai war dies ein funktionierendes Hotel. Die Rezeption war mit Satellitenmodems und Ladegeräten bestückt, der Frühstücksraum summte voller Journalisten in kugelsicheren Westen und Bademänteln. Jetzt sind nur noch wir da. Es ist Oktober, und alles fällt auseinander.
Pierre wirft einen Blick über seine Schulter, bevor er die quietschende blaue Tür öffnet und hineingeht. Innen wartet ein Mann in den 50ern auf ihn. Er hat einen rasierten Kopf und trägt ein vergilbtes, aber sorgfältig gebügeltes Hemd zu der grauen, mit Flusen bedeckten Hose. Er bewegt sich langsam die Treppe hinauf und geht in ein abgenutztes Büros, vorbei an Plakaten mit Werbung für freie Wahlen, und setzt sich auf einen Stuhl, als ob dieser zerbrechlich wie Glas sei.
Das erste Mal war er im Sommer hierhergekommen. Damals war er in einem schlechten Zustand. Pierre und dessen Kollegen von einer Partnerorganisation brachten ihn mit einem Arzt zusammen, der nicht mit der Polizei kooperierte.
Joseph ist aus Mutakura - einem der Stadtteile mit den gewalttätigsten Protesten gegen den Präsidenten im Frühjahr. Früher verdiente er seinen Lebensunterhalt damit, dass er Altmetall in ländlichen Gebieten sammelte und es in der Stadt als Recycling-Material verkaufte. In einem der ärmsten Länder der Erde ging es Joseph besser als vielen anderen.
Der 25. Juni war ein Tag wie jeder andere. Mit seinem Auto voll mit Metall und zwei Anhaltern auf dem Dach fuhr Joseph von der Provinz Kayanza im Norden Burundis zurück nach Hause. Am Gard du Nord, einem Kreuzungspunkt etwas außerhalb der Stadt, hielt er an, damit seine Passagiere absteigen konnten. Er wollte gerade wieder in sein Auto einsteigen, als ihn jemand so heftig in den Rücken stieß, dass er sein Gleichgewicht verlor. Vier in Zivil gekleidete Männer kamen aus dem Nichts, packten ihn an Armen und Beinen und warfen ihn in einen Jeep ohne Nummernschild. Sie brachten ihn in das alte Hauptquartier der Sicherheitskräfte, wo acht Männer in blauen Tarnanzügen warteten.
Joseph sagt, das Verhör habe sofort begonnen. Die Männer schrien ihn an, immer und immer wieder. Er soll gestehen, dass er Jugendliche darauf trainiert, auf Polizisten zu schießen.
„Ich protestierte und sagte ihnen die Wahrheit: Fragen Sie jemanden - meine einzige Aufgabe ist, Schrott zu sammeln! Da nahmen sie ein Eisenrohr und begannen, mich zu schlagen“, sagt er.
Zwei Polizisten führten das Verhör, die anderen schlugen ihn. Kräftig. Auf seine Fußsohlen, auf den Rücken und auf den Po. Dann nahmen sie ihm alle seine Kleider weg und zwangen ihn, auf einem Nagelbrett zu stehen. Sie füllten einen Wasserkrug mit Sand und hängten ihn mit einem Strick an seinen Penis.
Der Tisch in Pierres Büro hat einen langen tiefen Kratzer. Joseph fährt ihn langsam mit dem Finger nach, während er spricht.
„An diesem Punkt war es egal, was sie machten. Ich konnte überhaupt nicht mehr sprechen.“
Als Joseph nach dem Trauma erwachte, war er nackt und allein. Er konnte nicht aufstehen und verbrachte die Nacht auf dem eiskalten Boden. In den folgenden Tagen schlugen sie ihn immer ein paar Minuten. Aber die meiste Zeit war er allein.
“Am dritten Tag kam einer der Wächter mit einem Haufen zerfetzter Kleider. Er war nett, nannte mich ‚Mein Ältester‘, um Respekt zu zeigen. ‚Bitte, ich weiß, die Kleider sind schmutzig, aber ziehe sie trotzdem an. Du wirst sterben, wenn du weiter so nackt auf dem Boden liegst‘, sagte er.“
Am vierten Tag wurden acht Jugendliche in Josephs Zelle geworfen. Auch sie kamen aus Mutakura und waren brutal geschlagen worden. Bei Einbruch der Nacht kamen die Wachen und nahmen sie zu zweit mit.
“Aber die Wärter hatten vergessen, die Tür zu schließen, und ich wollte sehen, wo sie hingebracht wurden. Ich habe es geschafft, auf allen Vieren aus der Zelle raus zu kriechen“, sagt Joseph.
In diesem Moment gab es einen Stromausfall, alles wurde schwarz. Joseph konnte auf dem Flur niemanden sehen oder hören. Er zögerte eine Weile, dann kroch er weiter.
“Ich wusste, sie würde mich umbringen, wenn sie mich finden, aber zumindest würde ich bei einem Fluchtversuch sterben, dachte ich.“
Ein gutherziger Taxifahrer sah, wie ein schwer misshandelter Mann aus einem Gebäude kroch, trug ihn in sein Auto und fuhr los.
Joseph lebt nicht mehr in Mutakura. Als er in sein Haus zurückkehrte, war jedes Fenster zerbrochen, und sein Heim war geplündert. Ein Nachbar erzählte ihm, die Polizei sei dagewesen und habe gesagt, sie werde wiederkommen.
Jetzt lebt Joseph in einem Versteck, nimmt Antibiotika und denkt an seine erwachsenen Kinder, die er nicht mehr besuchen kann. Der ganze Schrott, den er an jenem Tag gesammelt hatte, ist zusammen mit seinem Auto verschwunden. Ende des Monats wird er erfahren, ob er operiert werden muss oder nicht.
Ich gehe hinaus in den sonnigen Garten. Joseph braucht genügend Privatsphäre, um seine Hose aufzuknöpfen und den Männern vor Ort zu zeigen, warum es für ihn so schmerzhaft ist, sich zu setzen. Die Töne, die er dabei von sich gibt, verheißen nichts Gutes.
Die erste Explosion ist wegen der Musik in der Bar kaum zu hören. Die zweite fühlt sich ziemlich nahe an. Dann hören wir ein rhythmisches Knattern. Uns vergeht der Appetit. Wir werfen dem Barkeeper fragende Blicke zu, der hinter der Bar Gläser poliert.
„Ist es immer so?“
„Es ist immer so.“
„Also ist das normal?“
„Nein, daran ist nichts normal.“
Drittes Kapitel
Der Motor des Autos heult laut auf am steilen Hügel, und wir verlangsamen unser Tempo. Draußen zeigt sich die Welt in einem satten Grün unter einem blaugrauen Himmel, mit Tränen aus Gold. Der Fahrer nimmt konsequent jede Kurve auf der falschen Seite der Straße. Wir sind auf dem Weg nach Gitega, der zweitgrößten Stadt in Burundi. Dort soll ein Festakt mit Präsident Nkurunziza stattfinden. Obwohl die Sicherheitslage in Bujumbura ziemlich gut ist, wie der Sprecher der Polizei sagt, finden aus unbekannten Gründen alle Auftritte der Staatsführung außerhalb der Hauptstadt statt. Botschafter, Parteimitglieder und andere VIPs sehen sich deshalb plötzlich gezwungen, ihre glänzenden Jeeps zu besteigen und sich auf eine zweistündige verrückte Fahrt auf kurvenreichen bergigen Straßen zu begeben.
Kurz vor Gitega werden wir an einem Kontrollpunkt angehalten.
Alle Zivilisten im Radius von einem Kilometer vom Treffpunkt entfernt wurden aus ihren Häusern und Geschäfte evakuiert – für die Zeit vor, während und unmittelbar nach der Veranstaltung. Als wir endlich den Checkpoint passieren dürfen, kommen wir in eine Geisterstadt, bewacht von Hundertschaften an Polizeibeamten und Soldaten. Die Teilnehmer müssen ein paar hundert Meter von dem Gebäude entfernt parken, wo das Treffen stattfindet. Die amerikanische Botschafterin sieht nicht glücklich aus, als ihre High Heels im rote Schlammboden steckenbleiben.
Die EU, die USA und mehrere Organisationen haben immer und immer wieder gefordert, dass sich Präsident Nkurunziza mit der Opposition zusammensetzt und verhandelt. Er weigert sich. Stattdessen hat er die „Nationale Kommission für interburundischen Dialog“ ins Leben gerufen. Deren Mitglieder sollen jetzt mit großem Pomp vereidigt werden. Eine Dachorganisation der Opposition gibt es nicht.
Ein schepperndes Blasorchester und eine Gruppe junger Männer mit Trommeln warten am roten Teppich, um den Präsidenten willkommen zu heißen. Er kommt eine Stunde später als alle anderen, und dann auch erst, nachdem etwa 30 Polizisten und Soldaten den Bereich gesichert haben.
Der Veranstaltungsort ist mit weißen, roten und grünen Luftballons geschmückt, den Farben der Fahne von Burundi. Ich versuche, mich in den hinteren Teil des Raumes zu setzen, falle aber auf den Boden, weil dem Kunststoff-Stuhl ein Bein fehlt.
Burundi ist eines der wenigen afrikanischen Länder, dessen Grenzen heute in etwa so wie vor der Kolonialzeit verlaufen. Genau wie das benachbarte Ruanda, war Burundi eine Monarchie, regiert von einem König, dem Mwami. Die Bevölkerung setzte sich aus drei Hauptgruppen zusammen: Hutu (85 Prozent), Tutsi (14 Prozent) und Twa (ein Prozent). Historiker tun sich schwer damit, den Unterschied zwischen Hutu und Tutsi zu beschreiben, da sie sich ethnisch nicht wirklich unterscheiden. Traditionell waren die Hutu Bauern, und die Tutsi waren Hirten. Letztere waren oft reicher, sie bildeten den Machtapparat um den Mwami herum. Sie teilten die gleiche Sprache und Kultur. Die Strukturen waren nicht in Stein gemeißelt, und Ehen zwischen Hutu und Tutsi waren üblich. Ein Hutu konnte Tutsi werden und umgekehrt. Es war ein komplexes System, das auf Leistung, natürlichen Ressourcen, Familienbande und Loyalität beruhte.
Als Belgien nach dem Ersten Weltkrieg die Macht über das Gebiet (damals Ruanda-Urundi genannt) von den Deutschen übernahm, war es offensichtlich auch mit dieser Flexibilität vorbei. Beeinflusst von den Ideen der rassischen Überlegenheit der Zeit, wurden die Tutsi bevorzugt, weil man annahm, sie und nicht die Hutu seien mehr wie die Europäer. In den 1930er Jahren bekamen die Bürger Identifikationskarten, auf denen ein für alle Mal die ethnische Zugehörigkeit festgelegt wurde. Wenn es irgendeine Unsicherheit gab, wurden Schädel und Nasen vermessen. Alle Positionen in der Verwaltung, bei Polizei und Militär waren Tutsi vorbehalten. Hutu wurden von der Bildung und den Führungsetagen ausgeschlossen. Damit wurde die Grundlage für die Katastrophe viele Jahrzehnte später gelegt: die Völkermorde in Ruanda und Burundi.
Die Eröffnungsrede des Präsidenten dort oben auf dem Podium hat eine klare Botschaft in Richtung Nordwesten. Nur ein paar Wochen zuvor hatte Belgien seine Finanzhilfen ausgesetzt, wegen der alarmierenden Entwicklung in Burundi. Kurz darauf durfte der belgische Botschafter seine Koffer packen.
Jetzt spricht Nkurunziza über die glorreiche vorkoloniale Geschichte Burundis, als die Menschen unter einem König vereint waren und ihre Probleme im Gespräch lösten. Er spricht auch über die Zeit, als Burundi von den Belgiern regiert wurde, und zieht Parallelen zur aktuellen Situation, die die Nachricht enthält, dass dies ein künstlich herbeigeführter Konflikt ist.
“Wir brauchen diesmal keine Außenstehende, die unser Land destabilisieren.“
Auf der Fahrt zurück nach Bujumbura regnet es so stark, dass wir nicht weiterkönnen. Wir halten am Straßenrand neben einem hastig verlassenen Gemüsestand an. Große Wassertropfen finden ihren Weg durch das Autodach und bilden kleine Rinnsale auf den Plastiksitzen. Wir schlafen abwechselnd. Wir haben beide eine Magenverstimmung.
Viertes Kapitel
Das Wasser im Kinyankonge läuft schmutzig braun das Flussbett hinunter. Ein paar junge Männer haben eine behelfsmäßige Bar am Hang aufgebaut. Exzentrischer Afrobeat tönt aus rissigen Lautsprechern. Es ist heiß.
Dieses Viertel entlang des Flusses heißt Mutakura und ist der Bereich, wo im Frühjahr die größten Proteste gegen die Regierung tobten. Viele junge Männer wurden während der Zusammenstöße hier getötet. Mutakura ist für Polizei und Regierung der Sitz der Opposition.
“Dieser Ort war früher voller Menschen, die hier den Lehm holten, um daraus Bausteine zu machen“, sagt der 22-jährige Alain und balanciert auf dem löchrigen Flussufer.
Heutzutage traut sich niemand mehr zu bauen. Der Dauerkonflikt hat den Fluss in einen anonymen Friedhof verwandelt. Am Morgen finden die Leute, die hier leben, Leichen, die im Schutz der Dunkelheit abgeladen wurden.
„Es sind in der Regel keine Menschen von hier. Ich glaube, es sind Menschen, die aus anderen Teilen der Stadt ‚verschwunden‘ sind“, sagt Alain.
Die Leichen sind überwiegend Männer, aber einmal war eine Frau dabei. Jemand hatte sie mit einem Stock zu Tode geprügelt.
Belize, 27 Jahre alt, fand vor zwei Wochen hier auch eine Leiche. „Es war unmöglich zu sehen, wer es war; er hatte die Hände auf den Rücken gebunden und einen Reissack über dem Kopf“, sagt sie.
Wir stehen da und betrachten Plastiktüten, Müll und alte Schuhe, die der Fluss umherwirbelt und dann auf den Grund legt. Belize legt ihren Arm um ein kleines Mädchen, das sich uns angeschlossen hat, und macht dann eine verärgerte Handbewegung in Richtung Fluss.
“Das wirkt sich sehr auf unsere Kinder aus. Wie sollen sie sich auf ihre Ausbildung konzentrieren, wenn sie Leichen auf ihrem Weg zur Schule finden?“
Mutakura wird von zwei belebten asphaltierten Straßen eingerahmt, dazwischen gibt es Straßen mit Kopfsteinpflaster und Gassen aus rotem Lehm. Hinter Backsteinmauern und einfachen Eisentüren teilen sich mehrere Familien gemeinsam Hinterhöfe, oftmals mit nur einem Wasserhahn, mit Feuerstellen und Obstbäumen. Die Menschen hier sind sehr arm, aber nicht die Ärmsten. In Burundi findet man alle Nuancen von Armut.
Die Polizei sucht in dieser Gegend ständig nach Waffen und nach Menschen. Die Explosionen und Schießereien, die wir in der Nacht zuvor gehört hatten, kamen aus Mutakura.
Als Reaktion auf die ständigen Razzien haben junge Männer in diesem Viertel begonnen, in der Nacht die Straßen zu patrouillieren, bewaffnet mit Granaten und Gewehren.
Alain kennt sie alle. Vielleicht ist er einer von ihnen. Während wir mit ihm durch die Gassen gehen, hält er mehrmals an und schüttelt die Hände junger Männer, die trotz der Hitze unförmige Jacken und Stiefel tragen.
“Da die Polizei hier die Leute tötet, müssen die Menschen einen Weg finden, um sich zu verteidigen. Das ist nur natürlich“, sagt er ruhig.
Aber die Gewalt eskaliert ständig, es wird immer brutaler.
Polizeiposten werden mit Granaten angegriffen, die Einwohner haben unter den Vergeltungsmaßnahmen zu leiden. Jeder in Mutakura steht im Verdacht, ein Mitglied der Opposition zu sein. Leute werden festgenommen und verschwinden oft.
Es ist schwer, die Situation zu erfassen. Uniformen gehen verloren. In der Dunkelheit kann man nicht sicher sein, wer gerade schießt. Aber so weit ist es friedlich. Auf einer Kreuzung spielen Kinder im ausgebrannten Wrack eines Autos, während sein Besitzer kopfschüttelnd die Haube hebt. Er behauptet, die Polizei sei an diesem Morgen gekommen, habe an die Türen geklopft und dann auf alles geschossen.
„Ich habe mich im Bad versteckt und mich geweigert zu öffnen, aber dann haben sie mein Auto in Brand gesteckt“, sagt er niedergeschlagen.
Weiter unten auf der Straße sitzt eine Frau, die sich Eugenie nennt, in einem mit Kronkorken dekorierten Kiosk und wartet auf Kundschaft. Sie lebt hinten im Hof und war gestern nach Hause gegangen, um das Abendessen vorzubereiten, als die erste Granate explodierte. Von ihrem Fenster aus sah sie, wie der Fahrer eines Motorrad-Taxis in ihrem Kiosk Schutz suchte, zusammen mit dem kleinen Jungen ihrer Nachbarin.
Plötzlich liefen ein paar Polizisten auf die beiden zu und schrien sie an: „Zeigt uns, wo sich die Verbrecher verstecken!“ Die Polizisten versuchten, durch die Gitterstäbe von vorn in den Kiosk zu gelangen. Als dies nicht gelang, traten sie die Hintertür ein, erzählt sie uns.
Der Mann und der kleine Junge wurden mitgenommen, und niemand hat seitdem etwas von ihnen gehört.
Dennoch eröffnet Eugenie ihr Geschäft an diesem Morgen. Es gibt nichts anderes, was sie tun könnte.
„Das ist unsere Alltagssituation in diesen Tagen. Wir müssen unseren Lebensunterhalt verdienen“, sagt sie.
Überall finden sich Hinweise auf Krieg, wenn man genau hinschaut. Die jungen Männer, die sich uns anzuschließen, stoßen eine Metalltür auf, die von Einschusslöchern durchsiebt ist. Dahinter liegt ein leerer Innenhof mit zerstörten Häusern. In einem Gebäude ist das Dach eingestürzt, an einem anderen wurde eine Wand weggesprengt.
Alain sagt uns, dass ein Vater und seine Zwillingssöhne hier gelebt haben.
„Es war am 1. Juli. In der Nähe war ein Polizist erschossen worden, viele seiner Kollegen kamen, um Rache zu nehmen. Sie warfen den Vater und seine beiden Söhne auf den Boden und schossen sie in den Kopf. Dann feuerten sie Raketen in das Haus und versuchten, es abzufackeln.“
In den Trümmern wächst bereits grünes Gras. Mango-Früchte verfaulen auf dem Boden. Alain bewegt vorsichtig eine große Glasscherbe mit dem Fuß.
“Ihre Mutter lebt in Belgien. Der Vater und die Jungs wollten am nächsten Tag zu ihr reisen.“
Belize lebt in einem kleinen Zimmer mit einem Bett, einem Hocker und einem Regal. Sie verkauft Holzkohle auf der anderen Straßenseite. Das hat sie auch vergangene Woche gemacht, als plötzlich eine Menge Polizisten in die Nachbarschaft strömte.
„Sobald wir sie sehen, laufen wir um unser Leben, aber ich habe nicht aufgepasst und es nicht geschafft zu entkommen“, sagt sie.
Sie richteten Waffen auf sie und zwangen sie, auf einem Stuhl sitzen zu bleiben, während sie ihre Sachen durchstöberten.
“Ich war wie versteinert. Sie nahmen die hundert Dollar, die ich gespart hatte, und gossen Reis und Mehl auf den Boden. Dann befahlen sie mir, eine Schaufel zu holen“, sagt sie und zeigt uns den leeren Reisbehälter und vier Taschen.
Aber die große, drahtige Belize ist dafür bekannt, dass sie schnell wie der Blitz ist, bescheinigen ihr die Jungs aus der Nachbarschaft. Sie sagen, sie ist die schnellste Frau in Mutakura. Als die Polizisten in die andere Richtung schauten, warf sie sich über die Mauer hinter dem Haus und rannte, so schnell ihre Beine sie tragen konnten.
“Sie haben mich nicht gefangen, aber als ich später zurückkam, waren alle Zimmer durchwühlt worden. Sie nahmen sogar die Matratzen von unseren Betten mit“, sagt sie.
Viele Häuser in der Gegend sind leer. Diejenigen, die dazu in der Lage waren, zogen zu Verwandten in andere Gegenden oder schafften es sogar in Nachbarländer. Von den zehn Personen, die mit Belize den Hof teilten, sind nur noch sie und zwei andere Frauen übrig.
“Alle anderen sind geflohen, und wir haben die ganze Zeit Angst.“
Auf dem Weg zurück zum Auto schreibt Alain unsere Telefonnummern auf. Er verspricht, uns anzurufen, wenn das nächste Mal eine Leiche auftaucht.
Wir wussten damals noch nicht, dass sein toter Körper in Kürze in den staatlichen Fernsehnachrichten gezeigt werden wird.
Fünftes Kapitel
Abdoul war 20 Jahre alt, als er wieder eine Familie bekam. Er war alleine als Waise nach Bujumbura gekommen, aus Burundis vom Krieg heimgesuchten Nachbarn Kongo-Kinshasa. Er besaß nichts, aber eine Familie hier nahm ihn auf. Da er nie lesen und schreiben gelernt hatte, brachte ihm die Mutter der Familie bei, wie man näht. Gemeinsam betrieben sie eine kleine Schneiderwerkstatt ein paar hundert Meter von ihrem Haus entfernt auf der anderen Straßenseite
Nun steht die Familie im Hof und gibt dem Sperrholzsarg mit dem purpurroten Leichentuch den letzten Schliff. Abdouls Adoptivvater läuft hin und her, von Schuldgefühlen geplagt. Er war es gewesen, der gestern Abend die Schüsse gehört und ihnen gesagt hatte, sofort die Werkstatt zu schließen und nach Hause zu kommen.
“Als Abdoul ging, um die Haupttür zu schließen, wurde er von einer Handgranate getroffen. Er starb sofort. Meine Frau wachte die ganze Nacht an seinem toten Körper“, sagt er und wischt sich die Stirn mit einem Taschentuch.
Er wischt auch über die Augenwinkel.
Die Männer heben den Sarg an und ziehen in einer Prozession über die belebte Straße in Richtung Schneiderwerkstatt, wo der Leichnam auf einer Bastmatte liegt. Die Luft im Raum ist zum Ersticken, der Geruch von Blut dreht meinen Magen um. Die Frauen der Nachbarschaft haben sich außen versammelt und weinen zusammen, während der junge Mann in den Sarg gelegt wird, der zu einem wartenden Taxi gebracht wird.
Diejenigen in Bujumbura, die Geld haben, werden auf einem Friedhof draußen am Flughafen begraben, unter weißen Fliesen mit Namen und Fotos. Die Armen werden in Nähe der Ländereien im Norden der Stadt beigesetzt, mit einem handgeschnitzten Kreuz als Markierung.
Fünf männliche Verwandte quetschen sich in den Kofferraum des Taxis und fahren auf den anonymen Friedhof. Die Zeremonie ist in 30 Minuten vorbei.
Danach steht der Adoptivvater neben dem Hügel, auf dem die Blumen schon zu welken beginnen, traurig, dass niemand sonst es sich leisten konnte, zur Beerdigung zu fahren.
„Unter normalen Umständen wären wir viele gewesen. Abdoul war wie ein Sohn für mich. Ich nahm ihn auf und behandelte ihn wie meine eigenen, und er hat mich nie enttäuscht“, sagt er.
Wer hat Abdoul umgebracht? Niemand weiß es, und niemand wird versuchen, es herauszufinden. Es wird keine Anzeige bei der Polizei und keine Untersuchung geben. Sein Tod wird nie irgendwo registriert werden. Aber diejenigen, die ihn geliebt haben, werden ihn nicht vergessen.
Der Tod ist nie weit weg in Burundi. Menschen sterben an Altersschwäche, Menschen sterben an unheilbaren Erkrankungen, und Menschen sterben an Krankheiten, die mit Antibiotika geheilt werden könnten. Menschen sterben auch im Straßenverkehr. Und im Kindbett. Der Tod ist ein großer Teil des Lebens hier. Aber wenn jemand eines gewaltsamen Todes stirbt, ist es eine andere Art von Tod. Es ist diese Art Tod, bei dem sich Fangarme um die Herzen der Menschen wickeln und so hart zudrücken, dass sie fast zu schlagen stoppen.
Es ist zehn Jahre her, seit der Bürgerkrieg zu Ende ging. Aber die Zahl der Opfer bei gewaltsamen Todesfällen steigt hier jeden Tag. Und der zerbrechliche Frieden, der in so vielen Jahren wieder aufgebaut wurde, kann mit einem Wimpernschlag zerstört werden. Alte Mechanismen wurden wieder in Gang gesetzt.
Marie-Claire Kanyange empfängt uns in einem weißgetünchten Haus in einer der schöneren Gegenden von Bujumbura. Sie ist Schatzmeisterin der zivilen Dachorganisation FORSC und einer der letzten Personen in einer Führungsposition, die das Land noch nicht verlassen hat. Sie hat ein ruhiges Wesen und lächelt oft. Ihr Haus ist sauber und ruhig. Aber Marie-Claire verlässt es selten, geht nur zur Arbeit und kommt zurück. Sie hat ihr Dienstmädchen entlassen; sie traut niemandem mehr.
Es ist ein Leben, das ihr erschreckend vertraut ist. Sie hat schon zuvor so gelebt: ständig auf der Hut. Besorgt. Mit der Gefahr vor ihrer Haustür.
Marie-Claire, die Ende 50 ist, war ein Kind, als Burundi 1962 befreit wurde. Die Belgier hatten ihren Auszug aus dem Land nicht vorbereitet, das sie seit Anfang der 1920er Jahre regiert hatten. Folglich waren die nächsten 25 Jahre eine makabre Parade von Militärdiktaturen und politischen Morden. Auf Staatsstreiche und Putschversuche folgten ethnische Massaker in den Jahren 1972, 1988 und 1993. Burundi-Hutu flohen nach Ruanda, Ruanda-Tutsi nach Burundi und im Jahr 1994 dann in umgekehrter Richtung.
Die Bitterkeit über die von beiden Seiten begangenen Ungerechtigkeiten vertiefte sich ständig. Es war ein grundlegend geteiltes Land, das 1993 bei den ersten demokratischen Wahlen zu den Wahlurnen ging. Marie-Claire, die Tutsi ist, hatte gerade geheiratet und erinnert sich mit Schaudern an die Wahlpropaganda der extremistischen Hutu.
“Es gab so viel Hass. Sie sprachen davon, allen Tutsi die Kehlen aufzuschlitzen. Ich erinnere mich daran, wie furchtbar ängstlich wir waren.“
Dass eine Hutu-Partei gewinnen würde, wenn die Mehrheit wählen ging, war klar. Aber als Folge der alten Ordnung bestand das Militär immer noch größtenteils aus Tutsi. Als Melchior Ndadaye die Wahl mit seiner Hutu-Partei FRODEBU gewann, war die Reaktion absehbar. Weniger als drei Monate nach seinem Amtsantritt wurde Ndadaye von einer Splittergruppe der Armee ermordet. Und dann brach die Hölle los.
In ländlichen Gebieten ermordeten Hutu-Rebellen zivile Tutsi, und die Armee ermordete zivile Hutu. Die Lage geriet außer Kontrolle und verwandelte sich in einen Teufelskreis aus ethnischer Gewalt und Vergeltung. Menschen wurden vergewaltigt und verstümmelt, Kleinkinder hingerichtet. Mehr als 300.000 Menschen starben in jenen Jahren.
Da Marie-Claires Familie Tutsi waren, war es am sichersten, in der von der Armee kontrollierten Hauptstadt Bujumbura zu bleiben.
„Aber es waren schreckliche Jahre, wir lebten von Tag zu Tag, es war eine schreckliche, schreckliche Zeit.“
Einer ihrer Söhne, der an einer Hochschule irgendwo im Landesinneren studierte, verschwand im Zusammenhang mit einem Massaker. Marie-Claires Vater, der zu krank war, um zu fliehen, als die Rebellen sein Haus angriffen, versteckte sich zwei Wochen lang in einem Erdloch. Hutu aus seinem Heimatdorf brachten ihm nachts heimlich Nahrung und Wasser. Er überlebte.
„Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich nicht alle Menschen in den Krieg hineinziehen ließen. Es gab Leute, die Widerstand leisteten. Wir haben auch viele Hutu-Freunde hier in Bujumbura versteckt“, sagt Marie-Claire.
Junge Tutsi-Extremisten griffen Hutu in der Hauptstadt an, nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Eines Tages erfuhren Marie-Claire und einige Mitglieder ihres Kirchenchores, dass Extremisten ein Haus umzingelt hatten, wo sich ihre Freunde versteckten.
“Wir liefen dort hier und verlangten, dass sie sie gehen lassen, aber dann drohten sie, uns zu töten. ‚Bei Gott, dann tötet uns, anstelle dieser unschuldigen Menschen, die nichts mit der Politik dieses Landes zu tun haben‘, riefen wir; dann gingen sie weg.“
Marie-Claires Chor traf sich weiterhin und sang in der Kirche, den ganzen Bürgerkrieg lang. Ein Wandteppich mit Jesus hängt, leicht schräg, über ihrem Kopf, als Erinnerung an den Glauben, der sie vom ethnischen Hass bewahrt hat.
„Ein guter Christ weiß, dass wir alle Söhne und Töchter dieser Erde sind. Aber wir verloren viele, viele in diesen Jahren. “
Als im Jahr 2000 der Arusha-Vertrag für Frieden und Versöhnung unterzeichnet wurde, war es der Anfang vom Ende des blutigen Kriegs. Es wurde ein System eingeführt, das allen ethnischen Gruppen politische Einflussnahme gewährleistete. Die Möglichkeit für einzelne politische Parteien, zu viel Macht zu erlangen, war eingeschränkt, ebenso wie die Anzahl der Amtszeiten, die ein Präsident an der Macht bleiben konnte. Keiner ethnischen Gruppe war es erlaubt, mehr als 50 Prozent der Armee des Landes zu stellen.
Im Jahr 2005 wurde aus dem Abkommen von Arusha durch eine Volksabstimmung die Verfassung von Burundi. Später in diesem Jahr gewann die ehemalige Hutu-Rebellen-Gruppe CNDD-FDD die Mehrheit der Stimmen bei der Wahl, und Pierre Nkurunziza wurde schließlich als Präsident installiert.
Ein zerbrechlicher Frieden wurde ausgerufen und in ihm wurde eine andere Gesellschaft als vor dem Krieg aufgebaut. Um die Verbreitung von hasserfüllten Botschaften zu vermeiden, wurden unabhängige Radiosender gegründet und mit Geld aus der Entwicklungshilfe finanziert. Diese Stationen und ihre Rolle als Erzieher in Sachen Versöhnung und Menschenrechte wurden schnell sehr beliebt. Bildung war offen für alle, die es sich leisten konnten, und eine ethnisch-gemischte Gesellschaft schlug Wurzeln.
Vom Rest der Welt wurde die Versöhnungsarbeit in Burundi in vielerlei Hinsicht als eine Erfolgsgeschichte angesehen. Vor allem im Vergleich mit dem Hardcore-Nachbarn Ruanda. Aus diesem Grund wird das Arusha- Abkommen von vielen Burundern so gesehen, wie die Amerikaner die Verfassung der Vereinigten Staaten sehen: als etwas Heiliges, das die Menschen mit ihrem Leben verteidigen würden.
Die mächtige Wut, die der Präsident auf sich gezogen hat, liegt nicht nur in seinem Machthunger begründet. Es wird vermutet, dass Nkurunziza das Abkommen von Arusha überarbeiten will, also den Vertrag, der Burundi den Frieden brachte.
Marie-Claire lacht bitter und sagt, viele hätten nur deshalb für Nkurunzizas Partei gestimmt, um zu verhindern, dass die alten Eliten, die so viel Blut an den Händen hatten, an die Macht kommen. „Die Menschen wollten eine Veränderung, und stattdessen wurde es schlimmer.”
Sechstes Kapitel
Paul sitzt am Rand eines Stuhls im Licht einer flackernden Lampe und schaut oft auf die Uhr. Pierre und der Dolmetscher sitzen neben ihm und tippen frenetisch auf ihren Smartphones. Draußen sinkt die Sonne schnell.
Wir haben versucht, jemanden zu erreichen, der die Proteste im Frühjahr mitorganisiert hat. Jetzt ist er hier, aber er weigert sich, ein Foto von sich machen zu lassen, und will absolut nicht, dass wir uns in seinem Teil der Stadt treffen. Wir dürfen auch nicht seinen richtigen Namen verwenden, weil er, wie alle anderen in der Oppositionsbewegung, im Mai gezwungen war, in den Untergrund zu gehen. Der erfolglose Staatsstreich war ein Wendepunkt.
„Es war ein vorgetäuschter Putschversuch, so muss es gewesen sein. Der Präsident orchestrierte ihn, um uns zu vernichten“, sagt Paul mit Überzeugung und rollt die Bierflasche zwischen seinen Handflächen.
Dies ist eine bekannte Theorie und vielleicht einfacher zu glauben, als dass ein anderer selbstherrlicher Mann gescheitert ist. So oder so, es gibt keinen Zweifel, dass der Opposition danach die Luft ausging. Jedem, der in irgendeiner Weise Stellung gegen die dritte Amtszeit des Präsidenten bezieht, wird Unterstützung der Putschisten vorgeworfen. Es sind Listen in Umlauf mit Durchsuchungsbefehlen und Namen derjenigen, die angeblich für die geplante Machtübernahme verantwortlich sind. Auf diesen Listen finden sich auch die Namen von prominenten Menschenrechtsaktivisten, Politikern und Journalisten. Einige von ihnen wurden ermordet, einige sind Opfer von Anschlägen und andere sind auf der Flucht.
„Wir mussten feststellen, dass wir uns in den Straßen nicht mehr sehen lassen konnten, weil sie uns alle umbringen. Doch die Oppositionsbewegung ist nicht tot, wir haben nur unsere Methoden verändert“, sagt Paul.
Er wiederholt oft, dass von Anfang an alle Bemühungen friedlich waren. Aber wem Gewalt entgegenschlage, der habe das Recht, mit Gewalt zu antworten. Paul hilft bei der Koordinierung der verschiedenen Stadtteile und stellt sicher, dass die Waffen, die in ihren Besitz gelangt sind, dort verteilt werden, wo sie gebraucht werden.
„Viele bei der Polizei und beim Militär sind auch gegen die Regierung, einige von ihnen geben uns Hinweise, wenn eine Razzia bevorsteht, andere geben uns Waffen und Uniformen”, sagt er.
Es ist jetzt ganz dunkel vor dem schmutzigen Fenster. Der Wind rauscht in den Bäumen, und die Lampen im Zimmer flackern wie Kerzen. Wir hören Schüsse vom nahen Cibitoke und Mutakura, und auf den Handys der Männer laufen immer mehr Anrufe ein. Das Gespräch wird langsamer, wird immer bruchstückhafter, bis schließlich unsere Fragen nicht mehr beantwortet werden. Der Dolmetscher hat das Übersetzen eingestellt und spricht am Telefon mit Verwandten in Cibitoke, die im Haus von Freunden Zuflucht gesucht haben. Ihnen ist plötzlich klargeworden, dass sich viel zu viele Menschen an einem Ort befinden, und dass sie Gefahr laufen, bei einer Durchsuchung der Polizei als Widerstandsgruppe angesehen zu werden.
Jeder weiß, wie diese Situationen enden können. Der Anruf wird mehrmals unterbrochen, und die Stimmen am anderen Ende klingen mehr und mehr aufgeregt. Schließlich schreit eine Frau hysterisch, unser Dolmetscher müsse jeden Verantwortlichen, den er bei der Polizei kennt, anrufen und ihm sagen muss, dass unschuldige Zivilisten in dem Haus sind, die sie nicht erschießen dürfen.
Plötzlich ist der Strom völlig weg, und es ist schwarz, innen wie außen. Paul, Pierre und der Dolmetscher beschließen zu gehen, sagen schnell auf Wiedersehen und verschwinden, das Handy ans Ohr gedrückt. Donner rollt über den Tanganjika-See, und der Regen peitscht gegen die Windschutzscheibe, als die Männer aus dem Parkplatz fahren.
Johan und ich finden unseren Weg zurück ins ebenfalls dunkle Hotel und lassen uns in unsere Betten fallen, während wir auf den erlösenden Klang des Generators im Hinterhof warten. Wir haben beide wieder Magenprobleme. Die Hotel-Küche hat verdächtig viele Alternativen auf der Speisekarte, obwohl es nur zwei Gäste gibt. Die Gemüsesuppe erinnert uns an Algenblüte. Wir essen widerwillig und schlafen unruhig. Kurz nach 23.00 Uhr ruft der Dolmetscher die lokale Handynummer an.
„Auf Paul ist geschossen worden.“
Siebtes Kapitel
Es ist früher Morgen am Kinyankonge-Fluss. Polizisten und Soldaten sind in der Gegend ausgeschwirrt. Jemand hat bereits den Leichnam herausgefischt. Der Mann liegt unter einem karierten Tischtuch, das Personal vom Roten Kreuz verteilt Plastikhandschuhe an einige Freiwillige. Zwei Frauen kommen aus entgegengesetzten Richtungen zu Fuß die Schotterstraße entlang. Sie verlangsamen ihren Schritt und werfen einen Blick auf das Gesicht der Leiche. Dann verschwinden sie wieder. Eine von ihnen ist auf der Suche nach ihrem Sohn; die andere nach ihrem Ehemann. Keine von ihnen findet diesmal den geliebten Menschen.
Ein Blutfleck hinter einem Haus nicht weit vom Fundort zeugt davon, wo der Mann unter dem Tischtuch seine letzten Atemzüge machte. Eine dürre Frau unter den Schaulustigen hat angeblich die Täter gesehen, aber sie weicht zurück und verschwindet schnell in ein Haus, als einer der Soldaten auf sie zeigt.
Der Leichnam wird auf die Ladefläche eines Pick-ups gelegt und weggefahren.
Niemand weiß, wie viele Menschen in Bujumbura seit den Protesten im April ermordet worden sind. Die Regierung spricht von 130 Personen, die ausländischen Medien sprechen von „mindestens 200“. Pierre wiederum hat eine Liste mit 270 Namen in seinem Computer, und es werden täglich mehr. Dennoch registriert er nur die Fälle, in denen es ein Foto des Körpers gibt, also sind viele nicht auf der Liste. Die am schwierigsten zu überprüfende Zahl ist die aller getöteten Polizisten, da die Behörden konsequent ihre eigenen Verluste zu niedrig angeben.
Unter den Ermordeten sind viele aus dem Widerstand, aber auch Mitglieder der gefürchteten Jugendorganisation der regierenden Partei, Imbonerakure.
Anfangs wurden die Leichen von vermissten Personen noch versteckt. Heute werden sie offen hingeworfen, damit sie niemand vermisst. Die Körper tragen oft Beweise für Folter, manchmal sind sie geschändet worden. Eines Tages treffen wir einen Mann, der uns Fotos von einem Familienmitglied zeigt, dessen Körper in der Gosse gefunden worden war – ohne Herz. Das Herz aus „dem Feind“ zu schneiden, war die Signatur von Ruandas Hutu-Miliz. Jemand borgt sich ihre Symbolik aus.
Paul wechselt mehrmals am Tag das Versteck. Es liegt etwas in der Luft. Wir treffen uns schließlich in einer Bar, die noch nicht geöffnet hat, weit entfernt von der Gegend, wo er früher gewohnt hat.
Er hat immer noch zwei Kugeln in einem Bein stecken, im anderen ging der Schuss durch weiches Gewebe. Er wird am folgenden Tag operiert.
„Es ist okay, ich wusste, dass ich ein Ziel war, aber zuvor haben sie mich einfach nicht bekommen“, sagt er und zuckt mit den Schultern.
Er sieht tatsächlich weniger gestresst als vor den Schüssen auf ihn. Fast erleichtert. Jetzt sind wir besorgt. Es fühlt sich an, als wären wir zu lange an der gleichen Stelle gewesen. Es gibt nur noch wenige weiße Menschen im Land. Jeder weiß, wer wir sind.
Eine Handgranate über die Mauer zu werfen, ist einfach.
Paul sagt, er sei auf dem Weg gewesen, um mit einem Verwandten ein Bier zu trinken, nachdem er uns an diesem Abend getroffen hatte. Er kam von unserem Treffen, als er von zwei Polizisten entdeckt wurde.
„Meine Frau hat einen von ihnen zuvor getroffen, und er sagte ihr, er werde sie zu einer Witwe machen. Ich dachte, es wäre nur Gerede, aber als er mich sah, dann … nun, dann schoss er auf mich.”
Paul zufolge fuhren sie ihn direkt in das örtliche Gefängnis. Dort wollte ihn die Polizei einsperren, obwohl das Blut aus seinem Bein sprudelte. Aber er kämpfte, verlangte, dass sie ihn in ein Krankenhaus bringen. Während die Polizisten ihre Vorgesetzten anrufen gingen, konnte er durch die Hintertür entkommen.
“Es tat anfangs noch nicht wirklich schlimm weh. Ich schaffte es, zu einem guten Freund zu kommen, der in der Nähe wohnt. Er half mir zu einem Ort mit Erster Hilfe“, sagt er und zieht den Trainingsanzug hoch, um die großen Verbände zu zeigen, die mit Klebeband an seinen Beinen haften.
Es ist ganz still draußen. Durch den Bambuszaun rund um die Bar kann man die fast leere Kopfsteinpflaster-Straße im Auge behalten. Ein Polizeiposten ist ganz in der Nähe. Ein Motorrad rast vorbei. Ein glänzendes schwarzes Auto kriecht an uns vorbei.
Da ist wieder der Gedanke an die Handgranate.
Wir stehen auf und gehen.
Achtes Kapitel
Gewalt und Explosionen gibt es nicht mehr nur in der Nacht. Plötzlich knallt es. In Gitega hat eine Gruppe unbekannter Männer in Uniform einen Armeeaußenposten angegriffen.
Es ist Donnerstag, der 29. Oktober, und es regnet heftig, als die Hochschüler in Mutakura zu streiken beginnen. Schulleiterin Agnès Nyota kommt von einem Treffen mit Vertretern der Studierenden, übertönt alle Geräusche mit ihrer tiefen Stimme. Sie verkündet, dass die Ausbildung unterbrochen wird, bis es eine Lösung gibt.
Der Jubel ist laut.
“In gewisser Weise verstehe ich sie, wir arbeiten nicht nur, wir leben auch in dieser Gegend“, sagt sie und lässt ihr Handy und ihren Kalender in ihre Handtasche gleiten.
Es sind die Polizeibeamten im Gebäude auf der anderen Seite des Schulhofs, die das Problem sind, zumindest für die Studenten. Die Polizei ist Ziel für junge Männer, die Teil des Widerstandes und des Kampfs gegen die Regierung sind. Die Polizisten sind ständig unter Beschuss. Die Schüler waren schockiert, als die Polizei plötzlich ein Zimmer in einem Schulgebäude besetzte und daraus einen provisorischen Außenposten machte – wollten sie die Kinder als menschliche Schutzschilde benützen? Eine verärgerte Studentin zeigt uns Krater in den Wänden und die Einschusslöcher in den Fenstern des Auditoriums.
“Diese Männer kommen hierher, um die Polizei anzugreifen, aber wir, die Schüler, sind die Betroffenen. Wir haben unserer Schulleitung gesagt, dass wir solange nicht studieren können, wie die Polizisten hier sind, sie müssen gehen!“, schreit sie.
Oswald Bigirindavyi, ein Englischlehrer, der wie wir unter dem Dach Schutz vor dem Regen gesucht hat, fügt leise hinzu, dass die Situation immer schlimmer wird. Erst gestern herrschte Chaos, bereits um 8.30 Uhr am Morgen, mitten im Unterricht.
„Granaten explodierten, und überall um uns herum schossen sie. Das ist keine nachhaltige Lernumgebung. “
Am selben Tag hält der Präsident von Burundis Senat, Révérien Ndikuriyo, eine Rede vor lokalen Regierungsbeamten in Bujumbura, die vielen Burundern einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Die Regierung bereite massive Anstrengungen vor, um alle Widerstandsgruppen zu entwaffnen. Und vor allen spricht Ndikuriyo davon, die Gegenden zu „Sprayen“, in denen die Menschen sich weigern, ihre Waffen niederzulegen.
“Sie werden ihnen sagen, dass die Polizei bis jetzt nur auf die Beine gezielt hat, aber eines Tages werden wir anordnen: ‚An die Arbeit!‘“
In Ruanda und Burundi haben Wörter wie „Spray“ und „Arbeit“ eine tiefe und verletzende und historische Bedeutung. Der Präsident des Senats benutzt sie absichtlich mehrmals. Es ist eine Rede, die dunkle Erinnerungen weckt. Erinnerungen an Macheten gegen Körper. Rund 200.000 Burunder sind bereits in die Nachbarländer geflohen. Die Warnungen, dass in Burundi ein neuer Völkermord droht, kommen immer häufiger.
Johan und mich macht die ständige Wachsamkeit wirklich müde. Die Gefahr, die wir nicht sehen können, das Gefühl, dass sich die Erde unter unseren Füßen in verschiedene Richtungen bewegt. An unserem vorletzten Tag in Burundi eröffnet die Polizei das Feuer auf einen Trauerzug, der auf dem Weg in Richtung Flughafen ist. Die Menschen haben gerade einen jungen Mann begraben, der in seiner Nachbarschaft getötet wurde, und die Luft ist schwer von Gerüchten. Als wir zu einer Pressekonferenz gerufen werden, ist die Rede von einem Hinterhalt und von einem bis zu 20 Toten.
Es gebe nur eine Person, die im Zusammenhang mit der Festnahme einer Gruppe „krimineller Männer“ gestorben sei, sagt der Pressesprecher der Polizei. Zwölf weitere seien festgenommen worden und befänden sich nun im Gefängnis.
Die wenigen lokalen Journalisten, die zu der Pressekonferenz kamen, sind bereits in Kontakt mit den Menschen gewesen, die den Angriff überlebt haben, und mit denjenigen, deren Angehörigen nicht von der Beerdigung zurückkamen. Sie schenken dem Mann auf dem Podium nicht viel Aufmerksamkeit. Erst als der Pressesprecher erklärt, dass sie untersuchen, warum einer der Verhafteten die Nummer der Ärzte ohne Grenzen in seinem Handy hatte, spitzen sie die Ohren.
Was hat er gesagt?
Es ist die belgische Abteilung von Ärzte ohne Grenzen, oder Médecins Sans Frontières (MSF), die in Burundi sind. Die regierungsamtliche Rhetorik gegen die Belgier wird jeden Tag schärfer. Was für die meiste Unruhe sorgt, ist das Prinzip der Organisation – jeden Verletzten zu behandeln, unabhängig davon, auf welcher Seite er oder sie steht. Die Identitäten der Patienten werden nie der Polizei mitgeteilt, was bedeutet, dass das MSF-Krankenhaus der einzige Ort ist, an dem diejenigen, die in Opposition zur regierenden Partei und zum Präsident stehen, es wagen, Hilfe zu suchen.
Es besteht kein Zweifel daran, dass der Pressesprecher der Polizei eine klare Warnung abgeliefert hat. Und jeder im Raum hat es gehört.
An diesem Abend zappt jemand vom Personal auf dem TV unserer Hotelbar in die Nachrichtensendung des staatlichen Fernsehsenders. Die Aufnahmen des Angriffs auf den Leichenzug werden gezeigt. Polizeibeamte und ein Mini-Bus flimmern über den Bildschirm, dann zoomt die Kamera auf einen leblosen Mann im Graben. Die Brust seines gestreiften T-Shirt ist rot von Blut. Seine Adidas-Jogginghose ist von der Taille gerutscht, man sieht den Bund der abgenutzten Boxershorts. Es ist 22-jährige Alain, der uns in Mutakura herumgeführt hat.
Neuntes Kapitel
Am 2. November sollte das Parlament von Burundi eigentlich über den Haushaltsplan 2016 debattieren, aber es gibt keinen. In Gihosha im Norden des Landes ist eine tote Frau aus einem Auto geworfen worden. Im Süden wird die Leiche eines Mannes entdeckt, der einige Tage vermisst worden war.
Der Supervisor für Pierres Organisation ist nach Ruanda geflohen, und die Schecks kommen nicht mehr. Er lebt von Almosen von Verwandten und Freunden und will nicht mit der Frage belästigt werden, wie lange er so weitermachen kann.
“Ich habe schlimmere Probleme, vielleicht bin ich bald nicht mehr am Leben“, sagt er, als wir uns das letzte Mal in dem geheimen Büro treffen.
Pierre hat seine Familie seit Monaten nicht gesehen. In der ganzen Zeit, in der er nicht schläft, hilft er Menschen, die verhaftet oder angegriffen wurden oder ein Versteck brauchen. Er isst zu wenig. Er schläft zu wenig. Wacht von Schüssen auf und träumt davon, was er verloren hat.
“Es ist, als ob ich keine Gefühle mehr hätte“, sagt er und massiert seine Stirn mit der Hand.
Vor fast zwei Wochen hat er seinen besten Freund, Evariste, zum letzten Mal gesehen. Spezialeinheiten der Präsidentengarde haben die ganze Familie aus dem Haus geholt und alle umgebracht. Niemand weiß warum. Pierre zeigt ein Foto von sich auf seinem Handy, als er stark und glücklich war und 20 Pfund schwerer. Nun traut er niemandem mehr und wagt kaum noch, nach draußen zu gehen, um einen Freund zu treffen.
Einer nach dem anderen, verschwinden die Menschen um ihn herum. Evariste ist weg, Paul wurde angeschossen. Kann man sich auf das Sterben vorbereiten? Pierre versucht es.
Er wird Burundi niemals verlassen. Jemand muss bleiben und kämpfen. Es wird immer mehr zu einem einsamen Kampf. Die Radiosender wurden geschlossen, die internationale Presse ist nach Hause gegangen ist, die Reste der burundischen Zivilgesellschaft liegen in den letzten Atemzügen.
„Es fühlt sich an, als hätte man uns aufgegeben und zurückgelassen, um für uns selbst zu sorgen“, sagt er und zieht die Kappe tiefer ins Gesicht.
Es ist Regenzeit in Burundi. Donner rollt über den Tausenden von Hügeln. Dicke Wassertropfen lösen den Lehm auf, der die Häuser der armen Menschen zusammenhält. Im Fernsehen nennt der Präsident die Opposition „Feinde der Nation”.
Pierre muss seine To-do-Listen abarbeiten. Das Leben geht weiter, bis es nicht mehr weitergeht.
„Sie haben unsere Bewegung fast zerschlagen“, sagt er und legt das Notizbuch mit den nicht entzifferbaren Notizen zurück in seine Tasche. “Aber im Inneren der Menschen – da bleibt der Widerstand.”