Hanaa ist in Berlin jede Minute online. Liest die neuesten Nachrichten aus Kairo, verfolgt das Al-Jazeera-Live-Blog vom Tahrir-Platz, liest auf Facebook, was Bekannte in Ägypten posten, schreibt ihren Freunden in Kairo. Ihren Alltag bestimmen die Ereignisse in ihrem Heimatland. Zwei Gefühle überwiegen: Unruhe und Einsamkeit.
Die Unruhe, nicht zu spüren, was in der Heimat passiert. Nicht dabei zu sein. Nur aus der Ferne mitfiebern zu können. Die Einsamkeit als Ägypterin in Berlin. „Ich wollte mit jemanden sprechen und diskutieren, der mich versteht, nicht erklären”, sagt Hanaa.
Am 25. Januar 2011, dem Tag, an dem in Ägypten die Volksbewegung im Zuge des Arabischen Frühlings beginnt, lebt die 1977 in Kairo geborene Künstlerin Hanaa el Degham bereits in Berlin. Einen Tag zuvor hat sie ihr neues Atelier bezogen.
Schnell findet Hanaa jetzt eine Gruppe von Ägyptern. Am 28. Januar protestieren sie zum ersten Mal vor der ägyptischen Botschaft in Berlin. „Da konnte ich was tun. Das hat uns beruhigt, dass wir auch was unternehmen konnten.“ Bislang hatte Hanaa keinen Kontakt zu anderen Exil-Ägyptern gehabt. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass es so viele in Berlin gibt.
Die kommenden Tage sind geprägt von dem Wechsel Protest - Atelier. Hanaa sammelt Fotos von den Demonstranten auf dem Tahrir. „Ich war wütend“, sagt sie, „dass ich nicht in Ägypten war, während das alles passierte“. Sie beginnt ein Bild von ihrer Wut zu malen, das so groß ist, dass es ihr ganzes 13-Quadratmeter-Atelier einnimmt. Am selben Tag tritt Mubarak zurück. Es ist der 11. Februar.
Als ein Freund Hanaa in ihrem Atelier besucht und fragt, was das Bild darstellen soll, antwortet Hanna: „Das ist ein Graffiti.“ Obwohl sie damals keine Ahnung von Graffitis hat. Das Bild sieht anders aus als ihre sonstigen Werke. Ein bisschen grau, als würde sie draußen auf einer Wand malen. „Obwohl ich in meinem Berliner Atelier war, wollte ich mich fühlen, als wäre ich auf der Straße in Kairo“, sagt Hanaa heute.
Hat 2011 in Ägypten eine Revolution stattgefunden? Nein, sagen viele Akademiker, Journalisten und Nahost-Kenner. Ein Blick ins Land zeigt: Mit Präsident al-Sisi ist das alte Militärregime, das bereits hinter dem früheren Diktator Mubarak die Fäden zog, wieder an der Macht. Und es ist repressiver denn je.
Hanaa glaubt trotzdem an ein gutes Ende. „Das war erst der Anfang“ - einer Revolution, die noch nicht vollendet ist.
Zurück, auf die Straße
Mit der Revolution 2011 beginnt eine neue künstlerische Ära in Ägypten. Jetzt werden vermehrt die sozialen und politischen Missstände in Kunst, Musik und Literatur aufgegriffen. Streetart blüht auf. Auf den Wänden Ägyptens kommentieren Graffiti-Künstler die Geschehnisse im Land. Sie werden so zu einem wichtigen Sprachrohr in den jetzt öffentlich geführten Debatten.
Hanaa wird eine dieser ägyptischen Streetartisten sein.
Das Erste, was ich sehe, als ich Hanaas Atelier betrete, ist ein großes Graffiti auf der weißen Wand gegenüber der Eingangstür. Ein Mann mit rotem Kapuzenpulli und Gasmaske zieht einen riesigen Karren, beladen mit bunten Dingen. Vor dem Wandbild stehen und liegen Gemälde, Skizzen, Pinsel und Farben.
Hanaa trägt ihre schwarzen Haare zusammengebunden. Ihr Gesicht ist ausdrucksstark, ungeschminkt. Die Levis-Jeans gehört ihrem Mann. Hanaa überzeugt durch ihre Arbeit, nicht durch inszeniertes Auftreten.
Sie zeigt ein Stillleben, das sie vor der Revolution gemalt hat. Eine Vase mit Blumenstengeln. Nach 2011 gefiel es ihr nicht mehr. Also probierte sie eine ihrer Streetart-Schablonen darauf aus. Ha’it al-Khauf inkasar? (Ist die Mauer der Angst zusammengebrochen?) steht im Hintergrund. Jetzt hält ein Mann die Vase als rechteckiges Schild hoch. Das Bild ist nicht mehr still, sondern lebendig.
„Das war eine revolutionäre Bewegung“
Twenty Eleven - 2011. So nennt Ahmed Badawi das, was wir als Arabischen Frühling in Ägypten kennen. Es ist eine unverfängliche Bezeichnung. Badawi ist Projektleiter an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients der Freien Universität Berlin. Er sagt: „Was in Twenty Eleven geschah, war eine revolutionäre Bewegung, aber keine Revolution.“ Denn keine der Kriterien einer Revolution wurden 2011 erfüllt.
“Eine Revolution, um als solche definiert werden zu können, sollte zu einem radikalen Wandel der Verteilung politischer und ökonomischer Macht in einer Gesellschaft führen”, sagt Badawi. Nach Twenty Eleven fanden diese Veränderungen aber nicht statt. Dieselben Menschen, nur kurzzeitig geschwächt und verunsichert, besetzen die Machtpositionen in Ägypten. Deshalb sieht Badawi die Volksbewegung höchstens als eine Probe für eine Revolution, die irgendwann in der Zukunft stattfinden könnte. Aber vielleicht auch nicht.
„Der Wunsch nach Wandel ist da“, sagt Badawi, „aber es gibt auch ein Bedürfnis nach Stabilität“. Deshalb hofften viele Ägypter, dass der Staat sich selbst reformieren und so den gewünschten Wandel herbeiführen wird. Badawi sieht zwei mögliche Zukunftsszenarios: Wenn der Staat sich selbst reformiert, würde das die revolutionäre Bewegung schwächen. Reformiert er sich aber nicht, würden die Chancen für eine neue Volksbewegung steigen. „Oder„, fügt er nachträglich hinzu, “der Staat reformiert sich nicht und die revolutionäre Bewegung schafft es nicht, sich zu organisieren.” Das würde zu einem totalen Chaos führen.
Es sind nüchterne Beobachtungen, die Badawi fünf Jahre nach der Revolution anstellt. Im Jahr 2011 war die Stimmung aber nicht nüchtern, sondern euphorisch. Am ersten Tag der Volksbewegung versammelten sich Zehntausende auf dem Tahrir-Platz. Von da an wurden es von Tag zu Tag mehr. Die Vision, die Friedlichkeit und der Zusammenhalt der Protestierenden zogen immer mehr Ägypter in ihren Bann. Auch Hanaa im weit entfernten Berlin.
„Was mache ich noch in Berlin?“, dachte sie sich im März 2011 und flog nach Ägypten. Schnell wurde sie Teil einer Gruppe von Künstlern. Zunächst verbrachten sie viel Zeit „auf der Straße“, wie Hanaa es nennt. Bis ein Jahr nach der revolutionären Bewegung eine Tragödie geschah.
- Februar 2012. Der Rücktritt Mubaraks liegt auf den Tag genau ein Jahr zurück. Nach einem Fußballspiel der Vereine al-Ahly und al-Masry in der nordägyptischen Hafenstadt Port Said stürmen al-Masry-Fans auf das Spielfeld. Sie greifen Spieler und Fans von al-Ahly an. 74 Menschen sterben, Hunderte werden teils schwer verletzt.
Ungereimtheiten zum Ablauf der Ausschreitungen empörten viele Ägypter und warfen Fragen auf: Augenzeugen berichteten, dass Fans ungehindert Schlagstöcke, Messer, Flaschen, Feuerwerkskörper und Schusswaffen durch die Kontrollen ins Stadion bringen konnten. Nach dem Spiel ging die Beleuchtung im Stadion ungewöhnlich früh aus. Die wenigen Sicherheitskräfte sahen den Ausschreitungen einfach zu. Die Tore des Stadions waren verriegelt. Flüchtende Fans fanden sich in einer Sackgasse wieder.
Zum Gedenken an die Opfer begann Hanaa zusammen mit den zwei Künstlern Ammar Abo Bakr und Alaa Aswany an einem meterlangen Wandbild zu arbeiten: Ammar malte Porträts von den Todesopfern der Tragödie im Stadion, Alaa pharaonische Symbole und Hanaa Bilderrahmen für die Porträts sowie tradionelle Motive im Hintergrund.
Den ganzen Februar lang arbeiteten Hanaa, Ammar und Alaa an dem sogenannten Port Said-Mural in der Mohamed-Mahmoud-Straße, die direkt am Tahrir-Platz beginnt. Eine Mauer zwischen der Straße und dem angrenzenden Campus der American University in Cairo (AUC) war ihre Malfläche. „Das war unser Arbeitsplatz“, sagt Hanaa. Jeden Tag gingen sie, Ammar und Alaa, zur Arbeit. Bald waren sie den Leuten bekannt, die ihnen Tee brachten. Ein Mann schlief nachts neben ihren Mal-Utensilien, passte auf sie auf. Kamen sie einen Tag nicht zur Arbeit in die Mohamed-Mahmoud-Straße, fragten die Leute sie am nächsten Tag, wo sie gewesen seien.
Nachdem das Port-Said-Mural fertig war, beteten viele Menschen davor für die Verstorbenen oder legten Blumen nieder. Ammar sagt: „Das ist etwas, das den Menschen gehört. Man konnte sehen, wie die Ultras diese Wandgemälde als Grabsteine ihrer toten Freunde ansahen.” Die Ultras sind die Kerngruppe der al-Ahly-Fans.
https://www.youtube.com/watch?v=_sAUNy1u0KE
Die Pyramide der Krise
„Das Besondere an Hanaas Kunst ist, dass sie sehr nah am Volk ist“, sagt die deutsch-ägyptische Filmemacherin Viola Shafik. „Hanaa ist sehr interessiert an den Menschen, vor allem denjenigen, die nicht zu der privilegierten Oberschicht gehören. Sie fährt oft raus aus Kairo, in kleinere Städte und Dörfer Ägyptens.“ Vielleicht hat Hanaa diese besondere Nähe, weil sie zwar in Kairo geboren wurde, aber Kafr Shukr aufwuchs, einer Kleinstadt im Nildelta nördlich der ägyptischen Hauptstadt.
Kinder, die auf der Straße spielen. Viel Grün, viele Felder. Und immer der Nil. So beschreibt Hanaa Kafr Shukr. Besuche bei Verwandten in Kairo gefielen ihr als Kind nicht. Zu voll, zu stressig war die Hauptstadt für sie.
In Kairo studierte sie Malerei am College of Fine Arts, und eigentlich hatte Hanaa nie vorgehabt, Ägypten langfristig zu verlassen. Aber dann lernte sie in Luxor ihren deutschen Ehemann kennen. 2007 zog sie mit ihm nach Deutschland. Zunächst nach Bonn, ein Jahr später nach Berlin. In Deutschland widmete sie sich ihrer Faszination für Körper und malte jahrelang Akt. Bis die Revolution begann.
Versteckte Sphären
Die Revolution hat Hanna von ihrer Aktmalerei abgelenkt. Jetzt ist sie zurück im Atelier und konzentriert sich wieder auf das Malen von Körpern. Aber etwas ist anders. Vor der Revolution hielten ihre Modelle eine Position ein, bewegten sich nicht. Jetzt tanzt ihr Modell.
Hanaa malt Bewegungen. Sie will sie in ihrer Kunst einfangen. Das Bild soll dann zusammen mit der Tänzerin als Performance ausgestellt werden. Denn Hanaa möchte dem Betrachter den Prozess hinter dem Bild zeigen.
„Vor 2011 akzeptierten die Menschen den Status quo“, sagt Hanaa. Dann weckte die Revolution sie auf. Die Malerin vergleicht das prä-revolutionäre Ägypten mit einem stillen See ohne Wellen. Die Volksbewegung war wie ein Stein, der in den See fällt, und damit konzentrische Kreise erzeugt, die sich langsam über die gesamte Wasseroberfläche des Sees ausbreiten. Die Revolution hat viel gebracht, sagt sie. In jedem Mensch hat sich etwas bewegt. In manchen mehr, in manchen weniger.
Gerade waren wieder Parlamentswahlen in Ägypten. Nur 28,3 Prozent der Wahlberechtigten gaben nach Angaben des Wahlkomitees ihre Stimme ab. „Die niedrige Wahlbeteiligung zeigt, dass die Menschen skeptisch gegenüber der Politik sind“, sagt Shafik. „Das heißt aber nicht, dass sie politikverdrossen sind. Sie haben nur ihr Interesse auf andere Schwerpunkte verlegt.“
Seit 2011 sind in ganz Ägypten neue Grassroot-Initiativen entstanden, in denen sich die Menschen fernab von staatlichen Institutionen engagieren. Der ägyptische Nahostexperte an der Universität Sydney Amro Ali nennt diese zivilgesellschaftlichen Initiativen „versteckte Sphären“, welche Menschen in einem repressiven Kontext schaffen, um Freiräume zu haben. Sogar der ernüchterte Badawi spricht von einer „Wiederbelebung des kulturellen Lebens“ in Ägypten. Es gab zwar bereits vor 2011 viele solcher Projekte, sagt er, aber seit 2011 ist ihre Anzahl rasant gestiegen.
Die Mauer mit dem Port-Said-Mural wurde im September 2015 abgerissen. Regelmäßig werden Journalisten und Aktivisten inhaftiert. Für Aufsehen sorgte zuletzt die Verhaftung des Mada Masr-Journalisten Hossam Baghat. Tausende Ägypter sind politische Gefangene in Ägyptens Gefängnissen.
Dennoch ist Hanaa optimistisch. Sie glaubt, dass Twenty Eleven eine unbewusste Bewegung war, die aus einem Gefühl heraus entstand, ohne dass Lösungen für die Probleme da waren. „Wir konnten nicht weiter. Das Material, um weiter zu gehen, hat gefehlt“, sagt Hanaa. „Erst wenn wir uns weiter entwickeln und wissen, was wir wollen, dann kommt die bewusste, die stärkste Bewegung.“
Bis heute arbeitet Hanaa an dem Bild über ihre Wut, das sie 2011 anfing zu malen. Immer, wenn sie ein neues Gefühl über Ägypten hat, arbeitet sie weiter an dem Kunstwerk. Inzwischen sind viele Schritte in dem Bild verewigt. Für sie ist das Bild nicht nur ein Bild. Es wurde auch nie fertig, denn für Hanaa ist es nicht fertig.
„Ich sehe das so“, sagt Hanaa, „was in Ägypten passiert, passiert auch in mir drinnen. Ägypten und ich sind verbunden. Mein Leben, meine Bilder, meine Kunst, alles hängt zusammen.“
„Ich bin das Bild“, sagt Hanaa.
Aufmacherbild: Hanaa el Degham; Foto: Frank Suffert