Im März 2014 lebten ukrainische Journalisten auf der Krim gefährlicher als Soldaten. Geheimdienstler und Mitstreiter der sogenannten „Selbstverteidigung der Krim“ fotografierten bei öffentlichen Aktionen und Ereignissen regelmäßig unsere Gesichter, kannten viele von uns beim Namen und drohten uns ganz ungeniert in die Kamera Vergeltung an.
Journalisten auf beiden Seiten der Barrikaden
Mit der territorialen Integrität der Ukraine war es im Handumdrehen vorbei, und die öffentliche Deutungshoheit ging an die russische Propaganda mit ihrer Einteilung der Bevölkerung in solche, die den Maidan unterstützten (oder zumindest nicht gegen ihn waren), und solche, die ihn so vehement ablehnten, dass sie für die Abspaltung von der Ukraine und den Anschluss an Russland stimmten. Auf beiden Seiten der Barrikaden fanden sich auch Journalisten.
Eine These, die zuvor als diskussionswürdig gegolten hatte, erwies sich nun als zutreffend: Ein Journalist kann nicht objektiv bleiben, wenn er über einen Konflikt berichtet. Die Realität selbst zwingt ihn, Position zu beziehen. Und wo Gesetze und Menschenrechte mit Füßen getreten werden, schrumpft sein Entscheidungsspielraum auf die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Er kann dem gesunden Menschenverstand und den Prinzipien des Humanismus treu bleiben. Oder er fängt an, Propaganda zu betreiben.
Als Spione diffamiert
Sich für den gesunden Menschenverstand zu entscheiden, war im März 2014 auf der Krim im unmittelbaren Sinne des Wortes gefährlich. Journalisten, die prorussisch eingestellten Bewohnern der Krim oder den neuen dortigen Machthabern unbequeme Fragen gestellt hatten, verloren ihre Arbeit, wurden verprügelt, gefangen genommen und als Spione der „Kiewer Junta“ diffamiert – hanebüchene Vorwürfe aller Art sollten die Gewalt gegen sie rechtfertigen.
Auch für mich wurde es irgendwann richtig furchterregend. Nach einem Treffen in einer Militäreinheit, bei dem man versucht hatte, meine Kollegen und mich zu überfallen, saß ich starr vor Angst bei ausgeschaltetem Licht zu Hause und teilte einigen Aktivisten, die ich kannte, telefonisch im Flüsterton mit, dass, sollte ich mich in einer halben Stunde nicht erneut melden, es mit mir aus sei – denn ich konnte hören, wie wenige Meter von meiner Tür entfernt Vertreter der „Selbstverteidigung der Krim“ die Nachbarn nach „Andersdenkenden“ fragten, und auf meine Nachbarn konnte ich mich nicht verlassen.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
Es folgte das rechtswidrige Referendum über eine Abspaltung der „Volksrepubliken“ in den Gebieten Donezk und Luhansk, und dann geschah etwas, das für mich zu den Schlüsselereignissen dieses Konflikts gehört. Am 11. Mai eröffneten in Krassnoarmijsk Soldaten des ukrainischen Bataillons „Dnepr-1“ das Feuer auf friedliche Anwohner, nachdem ein paar Betrunkene mit Fäusten auf die bewaffneten Männer losgegangen waren. Zwei Menschen waren sofort tot, ein weiterer wurde schwer verwundet.
Als meine Kollegen und ich von diesem Vorfall, den wir mit angesehen hatten, in den sozialen Netzwerken schrieben, wurden wir plötzlich mit Anschuldigungen nur so überhäuft. „Wollt ihr etwa Putins Propaganda unterstützen?!“, fragte man uns empört. Aber nicht nur unsere Leser, sondern auch die Redakteure großer ukrainischer Medien reagierten entgeistert auf unsere Berichte. Dass Angehörige der ukrainischen Streitkräfte fähig sein könnten, auf Zivilisten zu schießen, wollte niemand glauben. Das konnte nur eine Erfindung des russischen Fernsehens sein. Das Innenministerium der Ukraine gab hastig die Erklärung heraus, dass sich in Krassnoarmijsk gar kein Bataillon „Dnepr-1“ befinde und es folglich auch nicht dort geschossen habe. Wir konnten später beweisen, dass dies nicht der Wahrheit entsprach.
Die Wahrheit besser verschweigen?
Damals zeigte sich deutlich, dass bei weitem nicht alle Journalisten – und für die Gesellschaft insgesamt gilt das ebenso – dazu bereit sind, die Realität mit all ihren Schrecken zur Kenntnis zu nehmen und der Objektivität verpflichtet zu bleiben. Manch einer suchte die verbrecherischen Handlungen jener zu rechtfertigen, die als über jede Kritik erhaben galten: „Na schön, sie haben einen Fehler gemacht. Sie haben geschossen, tja, so was passiert eben … Schließlich herrscht in unserem Land zum ersten Mal Krieg. Letztlich kann man das doch vergeben und vergessen.“
Auch hieß es plötzlich, dass ein Journalist nicht gut daran tue, die Wahrheit zu veröffentlichen, wenn sie geeignet sei, dem Feind einen Vorwand für Manipulationen zu liefern.
Schon bald war immer häufiger von Zwischenfällen zu hören, die dem von Krassnoarmejsk ähnelten. Seitdem ist viel Zeit vergangen, und so wie jeder Organismus gefühllos wird, wenn man ihn ununterbrochen quält, hat sich die Gesellschaft an eine Realität voller Schrecken gewöhnt. Die Frage aber, wie ein Journalist im Kontext eines Konflikts mit der Wahrheit umgehen sollte, blieb in der dichten Luft über der Medienlandschaft hängen. Eigentlich ist es ja eine haarsträubende Frage, auf die es in der westlichen Gesellschaft nur eine Antwort geben kann. Nicht so im postsowjetischen Raum: Hier funktioniert vieles immer noch mehr schlecht als recht.
Kritik ist nicht erwünscht
Auf schmerzhafte Weise stellte sich die Frage erneut, als die Krimtataren gemeinsam mit dem „Rechten Sektor“ und anderen Freiwilligenbataillonen im September mit ihrer „Warenblockade“ der Krim begannen. Sie beschlossen, unter Missachtung geltender Gesetze LKW zu stoppen, die mit Wirtschaftsgütern in Richtung auf die Halbinsel unterwegs waren. Viele Journalisten und Medien unterstützten diese Aktion der Krimtataren ganz offen, obwohl auf diese Weise, um das Mindeste zu sagen, in Grenznähe eine keineswegs ungefährliche Situation herbeigeführt wurde.
Die Organisatoren, darunter auch Journalisten (Vertreter des krimtatarischen Fernsehsenders ATR), stellten die Blockade in einer eigenen Logik dar, die alle kritischen Journalisten und Personen des öffentlichen Lebens automatisch mit Handlangern der Korruption und mit Feinden der Krimtataren wie auch der Ukraine insgesamt gleichsetzte.
Somit erwies es sich als ratsam, die Blockade entweder öffentlich zu unterstützen oder sich gar nicht zu ihr zu äußern.
Unausgesprochene Tabus
In den letzten anderthalb Jahren sind unausgesprochene Tabus aufgestellt worden. Es ist nicht zulässig, die Worte oder Taten von Personen zu verurteilen, die als Patrioten auftreten (wer Patriot ist, hat immer recht). Es ist nicht zulässig, öffentlich über Probleme der Armee zu sprechen (das spielt dem Feind in die Hände). Es ist nicht zulässig, Verletzungen der Menschenrechte zu thematisieren (das ist jetzt unpassend, erst muss mal das Hauptproblem gelöst werden, und das ist der Krieg). Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. All diese Verbote machen es völlig unmöglich, Probleme anzusprechen, und folglich auch, nach Lösungen für sie zu suchen.
Virus der Putinschen Propaganda
Anderthalb Jahre ist es nun her, dass mit direkter Unterstützung bestimmter Medien ein Teil des ukrainischen Territoriums annektiert wurde. Der Virus der Putinschen Propaganda ist seitdem offenkundig nirgendwohin entschwunden.
Im Gegenteil hat sich die Infektion sogar weiter verbreitet und zugleich verschlimmert. Es wird immer schwieriger, auf dem eigenen freien Territorium die Objektivität zu wahren, und immer leichter handelt man sich den Vorwurf ein, mit dem Kreml zusammenzuarbeiten.
Zurück zur Objektivität!
Heute – anderthalb Jahre später, nach einem kräfteraubenden Krieg, der Millionen von Menschen traumatisiert hat und immer noch nicht richtig beendet ist, und nach einer Reihe von Wahlen, die transparenter und insgesamt gelungener hätten ablaufen können –, liegt eine der Hauptherausforderungen, vor denen die Ukraine steht, darin, ob es uns gelingen wird, den Journalismus erneut auf Objektivität zu verpflichten.
Sie mag bisweilen schmerzhaft sein, doch sie wird uns voranbringen und nicht zurück ins Mittelalter führen, wie das Prinzip der Propaganda es täte. Starr vor Angst im eigenen Zuhause zu sitzen, das ist letzten Endes einfach kein Zustand.
Aus dem Russischen von Andrea Gotzes, n-ost. Aufmacher-Bild: n-ost.