Das merkwürdige Abstimmungsverhalten der Bundesregierung in Atomwaffenfragen
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Das merkwürdige Abstimmungsverhalten der Bundesregierung in Atomwaffenfragen

Deutschland präsentiert sich gerne als zivile Macht, die die weltweite Abrüstung vorantreibt. Dennoch verschließt es sich in der UNO Resolutionen, die auf neuen Wegen die atomare Abrüstung erreichen wollen.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Guido Westerwelle, in dem manche nur ein politisches Leichtgewicht sahen, wählte sich nach dem spektakulären Wahlerfolg seiner FDP bei der Bundestagswahl 2009 eines der schwierigsten Ämter im Kabinett: Er wurde Außenminister. Und in den Koalitionsvertrag ließ er hineinschreiben, dass die Bundesregierung das Ziel einer atomwaffenfreien Welt verfolge; mit Deutschland solle begonnen werden. Die US-Atomwaffen hierzulande sollten abgezogen werden.

„Wir wollen die Chance nutzen, den globalen Trend neuer Aufrüstungsspiralen umzukehren und wieder in eine Phase substantieller Fortschritte auf den Gebieten der Abrüstung und der Rüstungskontrolle eintreten“, hieß es im Koalitionsvertrag.

Damals hatte der frisch gewählte US-Präsident Barack Obama gerade seine Prager Rede gehalten. In der tschechischen Hauptstadt hatte er eine neue Abrüstungsinitiative mit Russland verkündet und als Endziel „Global Zero“, eine atomwaffenfreie Welt, genannt. Was sich Westerwelle und seine Chefin Angela Merkel da vorgenommen hatten, passte also gut in die Zeit.

Auch als der Schwung des US-amerikanischen Vorstoßes nachließ, hielt die Bundesregierung an ihrem Ziel fest. In einer Antwort auf eine Große Anfrage aus dem Jahr 2012 erklärte sie der Opposition, dass „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung zentrale Bestandteile einer globalen Sicherheitsarchitektur“ seien und sie sich deswegen „für substanzielle Fortschritte“ auf diesen Gebieten einsetze. „Wir sind davon überzeugt, dass auch Zwischenschritte bei der Erreichung des Zieles einer nuklearwaffenfreien Welt wesentliche Zugewinne an Sicherheit bedeuten können“, schreibt die Bundesregierung weiter.

Im November dieses Jahres kamen die Mitglieder der Vereinten Nationen (UN) zu ihrer jährlichen Generalversammlung zusammen. Die Delegierten sprachen über Hunderte Themen sehr detailliert und stimmten anschließend auch über Resolutionen ab. Die Beschlüsse der Generalversammlung haben zwar nicht die gleiche, völkerrechtlich bindende Kraft wie die des UN-Sicherheitsrates – aber sie sind politische Zeichen. Wer fast allein mit seiner Haltung steht, wird in diesen Abstimmungen deutlich. Zahllose Resolutionen thematisierten die atomare Abrüstung. So stimmte Deutschland etwa dafür, mit erneuerter Kraft für die komplette Abschaffung von Atomwaffen zu arbeiten – im Einklang mit seinem Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Deutschland stimmte aber auch gegen manche Resolutionen, die auf den ersten Blick sehr gut in die Strategie des Landes passen.

Unten habe ich Ausschnitte aus diesjährigen UN-Resolutionen zusammengestellt. Versuchen Sie einmal ihr Glück: Können Sie erraten, wie Deutschland abgestimmt hat?

Falls Sie nur eine oder zwei richtige Antworten haben, können Sie sich, völlig zu Recht, einen „klugen Bürger“ nennen. Denn, dass Deutschland keiner einzigen Resolution zugestimmt hat, in der diese Sätze stehen, überrascht nicht nur, sondern ist auch unlogisch, wenn man sein Ziel einer atomwaffenfreien Welt betrachtet. Was sollte Deutschland denn dagegen haben, die internationalen Abrüstungsgespräche voran zu bringen oder Gebote für eine atomwaffenfreie Welt zu verabschieden. Was sollte Deutschland dagegen haben, Atomwaffen genauso zu ächten wie chemische oder biologische Waffen?

In der Abrüstungswelt haben sich in den vergangenen Jahren zwei Lager herausgebildet: Auf der einen Seite stehen jene Länder, Organisationen und Experten, die eine schrittweise Abrüstung der Atomwaffen befürworten. Sie sehen gerade in den russisch-amerikanischen Verträgen das entscheidende Werkzeug, um zunächst die Zahl der Atomwaffen auf der Erde zu verringern und sie später komplett abzuschaffen. Die Argumentation dieses Lagers konzentriert sich oft auf sicherheitspolitische Punkte. Diese Strategie hat sich während und nach dem Kalten Krieg entwickelt. Sie ist bekannt als der „step-by-step approach“ oder die Strategie der kleinen Schritte.

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Die andere Seite hat sich angeschaut, wie die Welt mit den chemischen und biologischen Waffen umgegangen ist. Beide wurden einfach verboten. Das Tabu, das damit formuliert wurde, ist so mächtig, dass selbst Staaten, die die entsprechenden Verträge nicht unterschrieben haben, zugesichert haben, auf den Einsatz dieser Waffen zu verzichten (zum Beispiel die USA im Falle der biologischen Waffen). Diese Seite will das auch bei Atomwaffen erreichen. Ihr Besitz und ihr Einsatz muss völkerrechtlich verboten werden, denn bis heute gibt es kein explizites, völkerrechtliches Verbot, Atomwaffen einzusetzen. Nur indirekt, weil Atomwaffen fast immer auch Zivilisten treffen. Die Vertreter dieser Seite wollen das erreichen, indem sie über die humanitären Folgen eines Atombombeneinsatzes reden. Deswegen nennen sie sich auch die „humanitäre Initiative“; sie erst wenige Jahre alt. Die Sätze oben stammen alle aus Resolutionen dieser Initiative. In diesem Text porträtiere ich diese Initiative.

Deutschland lehnt die Resolution ab, weil die Atomwaffenstaaten Atomwaffen haben.

Kein einziger Atomwaffenstaat ist Mitglied dieser Initiative. Und auch Deutschland setzt sich mit Nachdruck für die schrittweise Abrüstung ein. Seine ablehnende Haltung begründete es in diesem Jahr vor den UN so: “Sicherheitspolitische und humanitäre Prinzipien können nebeneinander existieren. Realistischer Fortschritt kann nur erzielt werden, wenn beide Seiten ausreichend Beachtung finden. Das ist bei diesen Resolutionsentwürfen nicht der Fall, weil sie nicht die besondere Sicherheitslage verschiedener Staaten berücksichtigt.“

Spitz formuliert: Deutschland lehnt die Resolution ab, weil die Atomwaffenstaaten Atomwaffen haben. Denn die neun Atommächte rechtfertigen diese Waffen immer damit, dass sie sich schützen müssen vor Atomangriffen anderer, dass sie abschrecken müssen. Deutschland selbst steht unter dem „Schutz“ dieser Waffen. Mit dem Luftwaffen-Kampfjet-Geschwader in Büchel, Rheinland-Pfalz, kann es im Ernstfall US-amerikanische Atombomben abwerfen.

Von dem Enthusiasmus der ersten Obama-Jahre ist heute bei der Bundesregierung nichts mehr zu spüren. Politisches Kapital setzt sie für die atomare Abrüstung nicht mehr ein. Selten wurde das so deutlich wie im August 2015, als Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Skepsis gegenüber dem Komplettabzug der US-Atomwaffen deutlich machte: „Meine Haltung im Koalitionsvertrag 2009, als wir die Koalition mit der FDP hatten, war immer schon so, nämlich dass wir aufpassen müssen, was es an Folgewirkungen gibt. Wenn dann an anderer Stelle Atomwaffen stationiert werden und in Deutschland keine mehr sind, muss man sich fragen: Ist dann eigentlich der Balance und der Sicherheit mehr gedient?“

Die Ukraine-Krise und damit die neue Unsicherheit gegenüber Russland hat das Kalkül der NATO und der Kanzlerin geändert. Nicht nur in Europa, auf dem ganzen Planeten beobachten Experten eine Renaissance der Atomwaffen: Ihre Zahl nehme zwar ab, aber ihre Bedeutung für die Militärdoktrinen der jeweiligen Länder zu. Alle modernisieren ihre Bestände, auch die Bomben in Rheinland-Pfalz versieht die US-Luftwaffe mit einer Lenkeinrichtung; vorher waren die Waffen für den ungelenkten Abwurf gedacht.

Als Deutschland sich bei den Resolutionen der humanitären Initiative enthielt, stand es nicht allein. 26 andere Länder, darunter viele europäische und Südkorea und Australien, unterstützten diese Politik. Allerdings stimmten auch mehr als 130 jeweils für die Resolutionen. Und in Deutschland selbst verfangen die Argumente der Bundesregierung nicht gut.

Gerade die jungen Deutschen sind skeptisch. Nur 29 Prozent der unter 30-Jährigen glauben, dass Atomwaffen schützen. 91 Prozent fühlen sich von diesen Waffen bedroht. „Sicherheit“ ist kein Argument für sie. Aber für ihre Bundesregierung.


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