Wie hat Angela Merkel Deutschland verändert? 10 Jahre in 10 Grafiken
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Wie hat Angela Merkel Deutschland verändert? 10 Jahre in 10 Grafiken

Angela Merkel mag Zahlen. Darum haben wir – da sie nun genau zehn Jahre im Amt ist – zehn Statistiken herausgesucht, die beweisen, dass ihre vielen kleinen Schritte in Wirklichkeit einige große Sprünge waren – häufig in überraschende Richtungen und nicht ganz freiwillig.

Profilbild von Dominik Ritter-Wurnig

1. Die Flüchtlingskanzlerin

So war das alles nicht geplant. Alle europäischen Regeln sind so gestrickt, dass Deutschland, ein Land ohne EU-Außengrenze, so gut wie keine Flüchtlinge aufnehmen muss. Denn die Dublin-3-Vereinbarung sieht vor, dass die Flüchtlinge in jenes Land zurückgeschickt werden, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Im Jahr 2008 werden nur 12 Prozent der Asylanträge in der EU in Deutschland gestellt; im den ersten zehn Monaten des Jahres 2015 sind es 39 Prozent. Anders ausgedrückt: EU-weit sind die Asylanträge um 290 Prozent gestiegen, in Deutschland dagegen um 1.180 Prozent. Nach heutigem Stand ist es wahrscheinlich, dass Merkel, weil sie in der Nacht auf den 5. September die deutschen Grenzen öffnete, als Flüchtlings-Kanzlerin in die Geschichte eingehen wird. (Sebastian Esser)

2. Die Energiewendewendewende**-Kanzlerin**

Zuerst hat sie die Energiewende rückgängig gemacht und dann hat sie die Energiewendewendewende gemacht. Das Ergebnis: Der Anteil der erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung steigt in Deutschland stark an. Von 6,3% vor Merkels Amtsantritt im Jahr 2004 auf 18,1 % im Jahr 2014 (neueste Zahlen) – vor allem auf Kosten der Kernenergie. In längst vergangenen Zeiten war die Umweltministerin Merkel (1994 - 1998) übrigens als besonders Atom-freundlich verschrien. (Dominik Wurnig)

3. Die Klimakanzlerin

Unter Merkel tut sich die Bundesregierung schwer, ihrer selbstgewählten Rolle als Vorreiterin beim Klimaschutz gerecht zu werden. Der Ausstoß an klimaschädlichen Treibhausgasen, allen voran Kohlendioxid (CO2), ist 2014 zu ersten Mal seit drei Jahren überhaupt wieder gesunken. Und ein Großteil dieses Rückgangs war schlicht auf den milden Winter zurückzuführen. (Vera Fröhlich)

Quelle: Klimaschutzbericht 2015, Bundesumweltministerium

4. Die Niedrigzins-Kanzlerin

Die Euro-Krise bestimmt seit mehr als fünf Jahren die Agenda der Europäischen Union und die deutsche Innenpolitik. Deutschland und die übrigen Euro-Staaten leihen Griechenland und anderen Krisenländern viel Geld. Gleichzeitig profitiert der deutsche Haushalt gewaltig von der Krise der anderen. Deutsche Staatsanleihen gelten als sicheres Investment für Anleger – vor allem, weil andere wackeln. Darum sind die Zinsen weit niedriger als vor der Krise. Deutschland erspart sich so nach Berechnungen von Jens Boysen-Hogrefe, der die aktuellen Zinszahlungen mit den Jahren 1999 bis 2008 vergleicht, rund 100 Milliarden Euro. (Dominik Wurnig)

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5. Die Kurzarbeit-Kanzlerin

Deutschland kommt im internationalen Vergleich recht gut durch die Finanzkrise. Rückblickend gilt das deutsche Modell der Kurzarbeit als vorbildlich. Während die Arbeitslosenquote nur leicht stieg, arbeiteten im Jahr 2009 mehr als eine Million Menschen kurz. Das heißt: der Betrieb zahlt weniger Lohn, aber die Agentur für Arbeit gleicht die Differenz zum großen Teil aus. Dadurch geht deutschen Firmen das Know-how ihrer Mitarbeiter nicht verloren, obwohl Aufträge konjunkturbedingt ausbleiben. Sobald die Auftragslage sich bessert, kann die Produktion schnell wieder hochgefahren werden. Seit Jahren sinkt in Deutschland die Arbeitslosenquote. (Dominik Wurnig)

6. Die Anti-Wehrpflicht-Kanzlerin

Hände hoch: Wer erinnert sich noch an Karl-Theodor zu Guttenberg? So hieß Merkels schillernder Verteidigungsminister, den weite Teil der deutschen Medien als natürlichen Kanzlerinnen-Nachfolger erkannt hatten. Tatsächlich wird mit seinem Namen – neben dem Begriff “Guttenplag” – eine Reform verbunden bleiben: Die faktische Abschaffung der Wehrpflicht zum Juli 2011. Wie es ihre Art ist, wartet die Bundeskanzlerin zunächst die innerparteiliche Diskussion über die für die Unionsparteien emotionale und umstrittene Frage ab, und gibt sich zögerlich. Koalitionspartner FDP setzt sich schon seit Jahren für die Abschaffung ein. Die CSU macht sie nach einer entsprechenden Guttenberg-Parteitagsruckrede schließlich zu ihrem Projekt. Am Ende kommt eine Merkel-typische Revolution heraus: Die Wehrpflicht bleibt im Grundgesetz erhalten, die Bundesregierung setzt sie aber aus. In vielen kleinen Schritten trippelt Merkel ihre Leute zu einer liberalen Reform, wie nur die Konservativen selbst sie durchsetzen konnten. (Sebastian Esser)

7. Die Bildungs-Kanzlerin

Während Merkels Kanzlerschaft stiegen die öffentlichen Bildungsausgaben stetig auf 120,6 Milliarden Euro im Jahr 2014. (Die endgültigen Zahlen, wie viel die Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ausmachen, liegen nur bis zum Jahr 2011 vor.) Ein hehres Ziel gibt es schon seit 2008: Bis 2015 sollten sämtliche Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung in Deutschland auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Wenn sich Merkel am 3. Dezember mit den Ministerpräsidenten Bilanz zieht, müsste sie lauten: Nicht mal nah dran. (Vera Fröhlich)


8. Die Mindestlohn-Kanzlerin

Zu behaupten, der Mindestlohn sei eine Herzensangelegenheit von Merkel gewesen, wäre eine reine Lüge. Aber für das Bündnis mit der SPD waren Zugeständnisse nötig. Und so gilt seit dem 1. Januar 2015 der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. Sehr zum Leidwesen des Wirtschaftsflügels von CDU und CSU, der Entbürokratisierung fordert, mindestens. Dank guter Konjunktur blieben die von den Wirtschaftsverbänden prognostizierten Massenentlassungen aus. Nun kommen Fragen aus dem Wirtschaftslager, ob Deutschland angesichts des Flüchtlingsstroms den Mindestlohn nicht besser wieder abschaffen müsse. (Vera Fröhlich)


9. Die Eiszeit-Kanzlerin

Wenn Angela Merkel den russischen Präsidenten Wladimir Putin trifft, verhält sie sich anders als ihr Vorgänger im Kanzleramt. Wo Gerhard Schröder öffentlich die Männerfreundschaft mit Putin zelebriert, bleibt Merkel freundlich, aber distanziert. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – ist sie es, die während der Ukraine-Krise im vergangenen Jahr den engsten Kontakt nach Moskau hält. Regelmäßig telefoniert Merkel mit Putin. Nach einem dieser Telefonate sagt sie über den russischen Präsidenten: „Der lebt in einer anderen Welt.“ Seit den Zeiten des Kalten Krieges dürften sich das offizielle Russland und das offizielle Deutschland nicht mehr so fremd gewesen sein. Dass alle EU-Länder schließlich Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen, ist nur folgerichtig. Ab November 2014 schlägt sich das auch in der Außenhandelsbilanz Deutschlands nieder. Ein- und Ausfuhren mit Russland brechen dramatisch ein. Seitdem ist mehr als ein Jahr vergangen, aber die Eiszeit zwischen beiden Ländern hält an. (Rico Grimm)

10. Die Spionage-Kanzlerin

In die Regierungszeit Merkel fällt einer der größten Geheimdienst-Skandale der Nachkriegszeit. Im Sommer 2013 wird bekannt, dass der Bundesnachrichtendienst im Auftrag des US-amerikanischen Geheimdienstes National Security Agency (NSA) über mindestens zehn Jahre hinweg zahlreiche inländische Ziele ausspioniert hat. Dabei duldet er nicht nur Ermittlungstätigkeiten des NSA, sondern unterstützt ihn aktiv. Einige zehntausend sogenannte Selektoren, wie IP-Adressen, Handynummern oder Suchbegriffe speist der BND im Auftrag des NSA in die eigenen Überwachungssysteme ein und gibt die Funde an die NSA weiter. Inzwischen wurde auch bekannt, dass der BND eigenständig europäische Institutionen ausspioniert hatte. In der „Operation Eikonal“ ermittelt der im März 2014 eingesetzte NSA-Untersuchungsausschuss. Bislang gibt Merkel in der Affäre nicht die beste Figur ab und sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Aufklärungsbemühungen des Parlaments zu hintertreiben. Ab der kommenden Woche soll der Untersuchungsausschuss die geheime Liste mit den Suchkriterien des Bundesnachrichtendienstes im Kanzleramt (endlich) einsehen dürfen. (Susan Mücke)


Illustration: Rémi Mercier