Freitag, der 13. November, wir fliegen mit dem Puppentheater nach Paris. Ich begleite meine Freunde in ihr Hotel im 10. Bezirk bei Jaurès, beschreibe ihnen das Viertel (mit dem Canal Saint-Martin) als ein absolutes Highlight von Paris.
Ich komme bei meinem Bruder an, es ist nachmittags, Montmartre, ich bin müde, wir reden über Abendpläne: Kino? Oder eine Bar beim République? Mathieu will sich das Fußballmatch vorher ansehen, zu dem er hingegangen wäre, wäre ich nicht an dem Tag angereist.
Ein Tweet von der Tageszeitung Le Monde verwirrt uns, eine Schießerei im 10. Bezirk. Was? Wir recherchieren im Internet, alles wirkt surreal. Das Fußballmatch geht weiter, und die Kommentatoren wirken gehemmt und perplex, wissen sie von etwas? Warum wird das Spiel nicht beendet?
Immer mehr Nachrichten über Schießereien und angebliche Tote. Bataclan, ein Kultort in Paris, Le Petit Cambodge, mit seiner unglaublichen Bobun, alles Orte, die wir kennen, lieben und mit schönen Erinnerungen assoziieren. Panik. Wir rufen unsere Freunde an, unsere Cousinen. Die Online-Zeitungen geben uns immer mehr Informationen, aber nur häppchenweise.
Komplettes Chaos bricht aus, die Medien füttern uns mit Horrormeldungen. Unerträgliches Gefühl im Bauch und ein Schnüren im Hals. Panisch versuchen wir, alle Bekannten und Freunde zu erreichen, plötzlich fragt uns Facebook, ob wir in Sicherheit sind. Wir sind in Sicherheit, aber wo sind die anderen? Alle jene, die im Bataclan eingesperrt sind. Horror.
Bis halb drei in der Früh verfolgen wir sprachlos und fassungslos das ganze Geschehen. Die Hilflosigkeit übermannt uns. Was können wir tun? #PorteOuverte auf Twitter zeigt die Solidarität vieler PariserInnen und gibt ein bisschen Hoffnung – die Misanthropie darf nicht siegen.
Der Tag danach
Was können wir einen Tag später sagen? Seltsamerweise ist weniger Wut als im Jänner vorhanden, dafür mehr Angst. Und eine unfassbare Trauer. Rastlosigkeit, Hilflosigkeit, was tun? Sollen wir außer Haus gehen oder nicht? Weiterleben? Abwarten?
Auf der Straße schauen sich die Menschen komisch an. Die Straßen sind halbleer, von meinen Freunden und Verwandten wollen die meisten nicht aus der Wohnung, sie warten ab, wie sich die Situation weiterentwickelt. Alle Termine sind abgesagt. Die Diskussionen im Pariser Café im 18. Bezirk sind politisch und philosophisch. Meinungslos zu sein, ist keine Option mehr. Fassungslos ist jeder. Es ist schwierig, hier klar zu denken, und - wie befürchtet - instrumentalisieren viele die Angst.
Ein Fußballstadion, ein Konzertsaal, Cafés, Bars und Restaurants an einem Freitagabend. Es sind Orte, an denen sich der (Pariser) Alltag abspielt. Konkret sind es Orte, die meine Freunde, meine Familie frequentieren. Es kursieren immer mehr Fotos auf Facebook über Vermisste - die Betroffenen sind Freunde von Freunden, und das macht alles viel realer. Es hätte absolut jeden treffen können.
„Krieg“ ist das Wort, das nun ständig aus dem Fernseher hallt: Es herrsche Krieg. Eine Frau meint, wir sollen nun lernen, mit „Angst“ zu leben und diese Angst in unseren Alltag zu integrieren. Ist eine Ära nun wirklich zu Ende? Müssen wir uns daran gewöhnen, dass der Terror einfach so / willkürlich unsere Existenz vernichten kann?
In vielen Ländern gehört dies schon zum Alltag, die Opfer dieser Länder dürfen wir nicht vergessen – wird es nun in Frankreich auch so sein? Mehr als je brauchen wir klare Botschaften und klare Werte. Die Misanthropie darf nicht siegen.
Jeanne Nickels (29) lebt in Wien. Ihr Vater ist Franzose, und auch viele ihrer Verwandten wohnen in Paris. Momentan hält sie sich gerade für Aufführungen der Puppentheatergruppe „Karin Schäfer Figuren Theater“ in Paris auf.