Mansour Rastegar weiß alles über die Flucht. Er weiß, wann die Busse kommen, wie es rübergeht nach Deutschland, hier an dem kleinen Osterbach, der die Grenze zu Österreich markiert. Er weiß, wie viele Flüchtlinge zu jeder Zeit passieren können, wo es Essen gibt, wie man die Kinder zum Lachen bringt und die Erwachsenen beruhigt. Mansour gibt Anweisungen auf Dari, der Sprache der Afghanen, seine Helfer sprechen arabisch, kurdisch; er hat sie persönlich ausgesucht. Sie machen seit Wochen nichts anderes als Menschen die Weiterfahrt zu erläutern. Das ganze System hier hat sich Mansour ausgedacht.
Die Deutschen kommen zu Mansour, die Österreicher, in ihren dunkelblauen Uniformen. Er ist der Einzige, der eine gelbe Weste trägt. Mansour Rastegar ist Herr der Lage am Grenzübergang im deutschen Wegscheid. Sein Zuhause sieht er kaum noch, obwohl es nur 20 Kilometer entfernt in Österreich liegt.
500 Kilometer entfernt in Berlin steht Thomas de Maizière, Innenminister der Bundesrepublik, oberster Chef der deutschen Polizisten in Wegscheid, und sagt in das eine Mikrofon, dass er den Familiennachzug für syrische Flüchtlinge begrenzen wolle. Ein paar Stunden später in das andere Mikrofon, dass das doch gar nicht so gemeint war. Das Nachrichtenmagazin Spiegel konstatiert auf dem Titelblatt den „Kontrollverlust“, und der sonst eher nüchterne Finanzminister Wolfgang Schäuble vergleicht die Einwanderung mit einer „Lawine“ – einer Naturgewalt, die sich nicht aufhalten lässt.
Es sind zwei Szenen, zwei Stimmungslagen, die nicht weiter auseinander liegen könnten. Auf der einen Seite passieren im Schnitt etwa 5.000 Flüchtlinge pro Tag die verschiedenen Grenzen auf dem Balkan reibungslos. Auf der anderen Seite wird der Ton in den Regierungszentralen und Parteibüros schriller, nicht nur in Berlin.
Auch in Österreich, Slowenien, Serbien und Kroatien diskutieren Politiker und Bürger heftig über die Flüchtlingspolitik. Es ist paradox: Je besser die Lage auf der Balkanflüchtlingsroute ist, desto schlechter scheint die Stimmung zu sein. Dieser Widerspruch wird noch wenig thematisiert, aber er wird zentral sein für die Politik der nächsten Monate.
Es ist Sonntagmorgen, ein schöner Herbsttag. Am Grenzübergang von Kroatien nach Slowenien ist es ruhig. Hier in Rigonce sind die Drohnen-Bilder entstanden, die um die Welt gingen: Eine lange Kolonne von Flüchtlingen läuft in vier Reihen zwischen bunten Feldern Richtung slowenisches Inland. Polizisten zu Pferde eskortierten sie.
Heute fährt ein Traktor über das Feld. Sonst fährt nichts. Das Gras im Straßengraben ist niedergetreten, und der plattgetretene Streifen wird immer breiter, je näher jene weißen Zelte rücken, die vor dem nächsten Ort, vor Dobova, stehen. Soldaten und Polizisten bewachen die Anlage, Helfer des Roten Kreuzes trinken Kaffee.
Eigentlich arbeitet nur ein Baggerführer, der angrenzende Bäume fällt, um Platz zu schaffen für einen Ausbau der Anlage. Nachher erwarten sie 400 Flüchtlinge, sagt Ive Zagorc, der hier für das Rote Kreuz Slowenien die Arbeit koordiniert. Am Nachmittag noch einmal ein paar Hundert mehr.
Zagorc erklärt das System: In Serbien steigen die Flüchtlinge in einen Zug, der sie nach Kroatien fährt. Dort werden sie registriert, weil Kroatien eine EU-Außengrenze hat. Dann fahren sie per Zug weiter hierher. Am Bahnhof werden sie auf Busse aufgeteilt, die wiederum zu verschiedenen Registrierungs- und Versorgungsstellen in der Nähe von Dobova fahren. Hier werden die Flüchtlinge nochmal registriert, weil Slowenien, anders als Kroatien, auch Teil des Schengen-Raumes ist, in dem keine Grenzkontrollen mehr stattfinden. Danach geht es weiter, vor allem per Zug, an die österreichische Grenze – und von dort nach Deutschland. Sobald die Flüchtlinge in Serbien in den Zug nach Kroatien steigen, müssen sie nichts mehr für die komplette Fahrt bis Deutschland zahlen.
Auch an der österreichisch-slowenischen Grenze spielten sich am 21. Oktober Szenen ab, die um die Welt gingen. Schätzungsweise 3.000 Flüchtlinge durchbrachen die Absperrungen, sie hatten laut Polizei keine Lust mehr zu warten, zogen einfach an den Anlagen der slowenischen und österreichischen Sicherheitskräfte vorbei. In den nahegelegenen Wäldern finden sich noch heute die Spuren dieses Tages.
Rote Decken liegen zwischen Eschen-Stämmen, graue Decken am Bachrand, auf einem Feld leuchtet golden eine Rettungsdecke, wie sie in den Erste-Hilfe-Kästen der Autos ist. Aber auch das: vorbei. Jetzt stehen allein auf der österreichischen Seite beheizte Zelte für 4.500 Menschen. Die Regierung überlegt, die Anlage auszubauen. Von den Vereinten Nationen kauft das Land beheizte Zelten für Zehntausende Flüchtlinge.
Das Nötigste ist an diesen Stationen geregelt, die Kollegen in den Nachbarländern werden vorgewarnt. Es gibt Kontingente, Zelte, einen Plan, der am Anfang noch improvisiert war, aber jetzt immer weiter ausgefeilt wird. Niemand muss mehr durch Grenzbäche waten, auf Feldern schlafen ohne Decken oder Essen. Die Situation mag in Serbien, Mazedonien und Griechenland anders sein. Aber im oberen Teil der Balkanroute haben die Behörden die Situation sehr schnell in den Griff bekommen.
Das merken die Flüchtlinge. Einem Bericht von UNICEF zufolge kommen immer mehr Kinder und Frauen über den Balkan nach Mitteleuropa. Im Oktober wurden dreimal so viele Frauen und Kinder registriert wie im August. Mansour vom Grenzübergang Wegscheid kann das bestätigen. Die Route sei sicherer geworden. Manche Flüchtlinge kaufen sich in der Türkei jetzt eigene Schlauchboote. Da müssten sie nicht mehr zu siebzigst in ein Boot steigen, sondern zu zwölft, ganz normal, weniger gefährlich.
Das also ist das Signal, das die Flüchtlinge bekommen. Es ist sicherer geworden, los geht’s. Gleichzeitig überlegen die Regierungen, wie sie den Zustrom begrenzen können. Einer Umfrage des Instituts Allenbach zufolge macht sich die Mehrheit der Deutschen - 54 Prozent - „große Sorgen“ über die aktuelle Entwicklung. Daher kommt der Druck. Die Regierungen spüren, dass ihnen die Bevölkerung entgleitet, und sie reagieren mit immer härterer Rhetorik.
Diese zwei Kräfte wirken in entgegengesetzte Richtungen. Sie schaffen den zentralen Widerspruch der jetzigen Krise. Bisher verhindert nur eine Sache, dass diese Kräfte das dürre Geflecht der Solidarität und pragmatischen Hilfe zerreißen, das sich gerade über den Balkan zieht: Deutschlands Bereitschaft, die Flüchtlinge aufzunehmen. Nur weil die Menschen und Politiker in Slowenien, Serbien, Kroatien wissen, dass die Flüchtlinge nicht in ihren Ländern bleiben wollen, ist die Lage dort vergleichsweise entspannt.
Der Stacheldraht, den Slowenien gerade an manchen Stellen der Grenze zu Kroatien errichtet, ist deswegen auch keine „Abschottungs-Maßnahme“. Slowenien baut den Zaun genau dort, wo in den vergangenen Wochen Flüchtlinge unkontrolliert ins Land gekommen sind. Der Stacheldraht ist eine Verwaltungsmaßnahme, um den Zustrom besser zu managen. Jeder Flüchtling, der mit dem Zug nach Slowenien kommt, kann das Land auch mit dem Zug wieder verlassen.
Ähnlich ist die Diskussion in Österreich gelagert. Dort hat die Regierung zwar beschlossen, einen 3,7 Kilometer langen Zaun zu bauen. Aber in Wahrheit geht es ihr darum, die Kontrolle zu behalten und regeln zu können, wer in ihr Land kommt. So ein Ausbruch wie im Oktober soll nicht wieder vorkommen. Ungarns Grenzzaun, die Tränengas-Politik gegenüber den Flüchtlingen haben ein völlig falsches Bild davon vermittelt, was gerade an den Grenzübergängen auf dem Balkan passiert. Eine „Abschottung“ jedenfalls nicht. Solange die Züge über die Grenzen rollen, sind die Grenzen offen für Flüchtlinge. Und für EU-Bürger ändert sich schon gar nichts.
Erst, wenn die Brandrhetorik ganz konkrete Folgen für die Flüchtlinge haben würde, würde sich die im Vergleich zum August und September ruhige Lage auf dem Balkan ändern. Konkrete Folgen wären, dass ein Land seine Grenze dauerhaft für Flüchtlinge schließt. Dafür hat aber kein Transitland im Moment einen Grund.
Für manche ist diese Krise sogar eine Chance. Serbien etwa. Dort verdienen die Gastronomen, Hoteliers und Transportunternehmer gut an den Flüchtlingen, weil diese die Durchreise privat organisieren müssen. Und die Regierung unter Aleksandar Vučić zeigt sich offen für die Flüchtlinge. Vučić sagt: „Wir hatten in den 1990er Jahren mehr als eine Million Flüchtlinge im Land, deshalb haben die Serben Mitgefühl für die Menschen.” Vučić sagte auch einmal, dass er ein „Fan“ von Merkel sei. Er will mit seiner konstruktiven Politik politisches Kapital sammeln, das dem Land in den sehr schwierigen Beitrittsverhandlungen mit der EU zugutekommen kann.
Das ganze System der Balkanroute, die einheimische Bevölkerung und die Regierungspolitik sind auf „Durchreise“ ausgelegt. Mehr als einen Tag darf die Route wohl nicht blockiert sein, ehe alles zusammenbricht. Wer heute über den Balkan und die Flüchtlinge nachdenkt, muss diese Dominotheorie im Hinterkopf behalten. Es ist – trotz aller Effizienz – ein hochfragiles Unternehmen, eine logistische Meisterleistung, bei der mehr Abstimmung nötig ist als von außen scheint.
Erst als Kroatien ohne Absprache Flüchtlinge an der Grenze zu Slowenien absetzte, kam es dort zu den chaotischen Szenen, die das Land jetzt mit dem Stacheldraht vermeiden will. Fehlt die Abstimmung, fehlt das Vertrauen. Fehlt das Vertrauen, werden die Regierungen dazu neigen, ihre eigene Politik „im Interesse ihres Landes“ durchzusetzen – und die Grenze zu schließen.
Dann wären die Frauen und Kinder, die jetzt vermehrt auf dem Balkan unterwegs sind, bei fallenden Temperaturen in diesen Ländern gestrandet – ohne, dass es Möglichkeiten gibt, sie unterzubringen. Manche würden vielleicht versuchen, durch Bosnien-Herzegowina zu fliehen, ein Land, das drei Präsidenten, 13 Ministerpräsidenten und 700 Abgeordnete, aber keine funktionierende Regierung hat. In dem es immer noch starke ethnische Spannungen gibt, die sich entlang der alten Linien Muslim – Christ, Serbe-Kroate-Bosniake ziehen. Andere Flüchtlinge würden vielleicht einen gezielten Marsch auf die jeweils nächste Grenze organisieren, so etwas hat es in der Türkei kürzlich gegeben. Was sollten die Grenzer tun, wenn es ihnen nicht wie den türkischen Polizisten gelingt, den Marsch weit vor der Grenze aufzuhalten? Sollten sie schießen?
In Serbien gibt es eine starke, nationalistische, Bewegung, die sich ethnisch abgrenzt von anderen Nationalitäten auf dem Balkan. Sie stellt zwar nicht die Mehrheit, aber ähnlich wie in Deutschland dürfte sie Zulauf erfahren, wenn es nicht mehr bei der Durchreise der Flüchtlinge bleibt und der Konsens im Land bricht und offener Streit ausbricht, der die Legitimität der gemäßigten Regierung Vučić untergräbt. Dann könnte sich eine unheilvolle Allianz serbischer Sicherheitskräfte, die von dem alten großen Jugoslawien träumen, Russland und den Führern der serbisch-bosnischen Teilrepublik Srpska bilden, die schon lange nach Unabhängigkeit streben.
Nicht nur die Lage in Serbien könnte sich verschärfen. Am Rande des Flüchtlingsgipfels auf Malta mussten die Regierungschefs von Slowenien und Kroatien sich aussprechen, weil mit der Verlegung des Stacheldrahts Grenzstreitigkeiten aus den 1990er Jahren plötzlich wieder akut wurden. Zudem haben alle Länder im Westbalkan große wirtschaftliche Probleme. Angela Merkel hat vor „militärischen Auseinandersetzungen“ in der Region gewarnt, sollte Deutschland aufhören, Flüchtlinge aufzunehmen.
Das ist die Ironie: In dem Moment, in dem Deutschland die Kontrolle über seine Grenzen zurückgewinnen würde, würde es seine Nachbarn ins Chaos stürzen. Aber nur ein Idiot zündet das Nachbarhaus an und glaubt, dass das Feuer sein Haus schon nicht bedrohen wird. Sobald es brennt, ist er da: der echte Kontrollverlust.
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Aufmacher-Foto: Rico Grimm