Es ist kalt.
Eine Frau, ziemlich klein, legt ein schwarzes Tuch über ihr erschöpftes Haupt und schreit den Text der Band, die es seit Samstag nicht mehr gibt, über den Boulevard Lascăr Catargiu:
We’re not numbers, we’re free, we’re so alive
‘Cause the day we give in is the day we die
Mit festem Schritt setzt sie einen Fuß vor den anderen, im Rhythmus, den die Liedzeilen vorgeben. Als sie zu der Stelle “The way we die” gelangt, reckt sie die geballte Faust in die Luft. Um sie herum schreien Zehntausende: co-lec-tiv, CO-LEC-TIV.
Das Colectiv war der Club, in dem 32 Menschen ihr Leben ließen, als während eines Rockkonzerts ein Feuer ausbrach. Aber die Frau mit dem Trauerflor schreit im Namen eines anderen Colectivs - dem Kollektiv, das seit der Tragödie auf Bukarests Straßen geht mit einem gemeinsamen Ziel. Der Text der Band ist ihr Credo geworden, das immer wieder zitiert und auf Facebook geteilt wird, benetzt von beinahe mystischer Leidenschaft.
Der Demonstrationszug hat sich gerade erst formiert und immer wieder gibt es Momente, in denen die Menge von der Flut der Emotionen gebremst, zum Schweigen gebracht wird. Wie ein Zucken fahren die Erinnerungen an die letzten Tage durch die Menschen. Bukarest leidet am Posttraumatischen Belastungssyndrom.
Bukarests Bürger machen Missmanagement und Korruption des Staates für die Katastrophe mitverantwortlich. Die Betriebsgenehmigung des Clubs soll mit Schmiergeld gekauft und Brandschutzregeln umgangen worden sein. Premierminister Victor Ponta steht schon seit Monaten unter Korruptionsverdacht. Ihm werden Geldwäsche, Betrug und Steuerhinterziehung während seiner Zeit als Anwalt in den Jahren 2007 und 2008 vorgeworfen. Bisher wollte das Parlament Pontas Immunität aber nicht aufheben. Rumäniens Präsident Klaus Iohannis fordert seit längerem den Rücktritt der Regierung. Eine Erneuerung des Staates sei nicht möglich mit einer Partei, die bei vielen Bürgern als Synonym für Korruption gilt.
Das Feuer im Nachtclub hat Wellen des Schmerzes ausgelöst, die alles wegspülen. So gut wie jeder junge Mann, jede junge Frau kennt jemanden, der einen seiner Lieben verloren hat. Die Tragödien kollidieren, vermengen, verstärken sich - und nun ergießen sie sich in die Straßen.
Die Wellen haben nichts von ihrer Kraft verloren, aber sie rollen nun zurück. Die Verzweiflung wird von der Trauer weggewaschen. Die Sprechchöre beginnen in der Nähe des Regierungsgebäudes, werden an der Piata Victoriei aufgegriffen und prallen gegen die großen grauen Fassaden der Häuser, von denen sie wie Echos von Tausenden Mündern wiedergegeben werden.
Einer dieser Münder ist von einer Sturmhaube verdeckt, aus Verbandszeug gewickelt. Der Nachhall der Tragödie hat alle sozialen Schichten erreicht. Die Rocker sind gekommen, Büroangestellte, Extremisten, Punks, Kommunisten, Fußballer, Anarchisten, Angehörige. Manche sprechen das Vaterunser, manche singen die Nationalhymne, andere fordern Rücktritte.
Ein Mann steigt auf die Schultern eines anderen und schreit in sein Megafon: “Hakt euch bei eurem Nebenmann ein und dann los! Wir packen sie!” Mit “sie” sind die Gendarmen gemeint, die einen Ring rund um das Regierungsgebäude bilden. Sie grüßen freundlich, lassen aber niemanden durch. Ein verängstigtes Fernsehstarlet mit grünen Haaren steckt in der Menge fest und schnappt nach Luft. Bürger halten den Polizisten religiöse Ikonen vors Gesicht.
Ein Vermittler drängt sich durch die Reihen der Demonstranten und ruft durch sein Megafon:
“Bitte, befolgen Sie die Gesetze!”
Die Demonstranten antworten in einem spontanen Gefühlsausbruch:
“Wir trauern, Arschloch!”
“Weg mit Oprea!” (Gabriel, Rumäniens Innenminister, Anm. d. Red.)
“Mörder-Regierung!”
In einer anderen Ecke des Platzes skandieren sie: Betrüger! Betrüger! Die Parole prallt an die Häuserwände, in die Masse zurückgeworfen bekommt sie einen geisterhaften Klang: Mörder! Mörder!
In den wenigen Tagen seit der Tragödie hat sich die Kausalität von Betrug und Mord in die Gedankengänge der Menschen eingebrannt. Der Zusammenhang von Korruption und Tod, von Regierung und Opfern. Der Tod an sich ist bedeutungslos, aber die Lebenden müssen ihm Bedeutung verleihen, um weiter leben zu können. Ihr Tod darf nicht vergebens gewesen sein, er muss Konsequenzen haben. Dafür werden wir sorgen.
So gut wie jeder hier will, dass Premier Ponta, Innenminister Oprea und Bürgermeister Piedone abdanken. Mit jedem Rücktritt gehört uns Rumänien wieder ein Stück mehr. Manche wollen das ganze System über den Haufen werfen, am besten noch heute Nacht alles in Trümmer schlagen, andere sind darauf bedacht, dass keine Zigarettenstummel auf die Straße fallen und die Verkehrsregeln beachtet werden. “Wir sollten anfangen mitzumischen”, sagt ein Teenager zu seinem Kumpel während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnen, “vielleicht sogar in der Politik.”
Wir brauchen Wohlfahrt, keine Securitate!
Wir brauchen Krankenhäuser, keine Kirchen!
Okay, die grobe Richtung ist also: Du, Regierung, respektier’ wenigstens unser Leben, um unseren Glauben und unser Privatleben kümmern wir uns schon selbst. Oder, wie es ein Typ vor mir einem Polizisten ins Gesicht brüllt: Es gibt hier niemanden, der mir Befehle zu erteilen hat. Ich habe einen freien Willen.
Und der freie Wille ist ziemlich angepisst zur Zeit, so sehr, dass die Menge, als sie den Palast des (hust) Volkes erreicht, skandiert: Anzünden! Anschließend stacheln sie sich auf, hey, lasst uns auch vor der Kathedrale Terror machen!
Die Lust, Terror zu machen, ist problematisch. Jede soziale Bewegung muss das System erstmal zum Wanken bringen, um es zur Veränderung zu drängen. Aber diese Unruhe muss auf dem Boden von Recht und Ordnung bleiben. Chaos ist Freund und Feind zugleich. Daraus ergeben sich immer wieder Dilemmata:
Der Protestzug startet am Universitätsplatz und blockiert den gesamten, sechsspurigen Boulevard Magheru auf seinem Weg zum Romana-Platz. Zwei demonstrierende Rentner bleiben an einer roten Ampel stehen, von allen Seiten strömen Menschen an ihnen vorbei. Sie warten, überlegen, warten noch ein bisschen länger, dann fassen sie sich an den Händen und hasten schnell über die Straße. Trotz Rot.
Ein paar Freunde stehen im Kreis, wohin? Wohin? Das ist die Frage. Mehrere Vorschläge machen die Runde:
Zur Regierung!
Zu Oprea!
Zu Piedone!
Zum Bischof!
Genau das wird dann auch die Route sein, die der Mob nimmt, eine Rundreise durch die Sitze der Herrschaft, Abfahrt Universitätsplatz. So durch die Stadt zu ziehen, ist ein Befreiungsschlag für die Menschen, die sich die letzten Tage in Depression eingesponnen hatten. Zu Beginn wirkte es wie ein Trauermarsch, inzwischen ist es ein ausgewachsener Aufruhr. Vom Rathaus direkt ins Gefängnis, Piedone, wir kommen!
Am Bischofssitz ist keine Menschenseele zu sehen, aber die Leute schreien vor dem Zaun davor gegen die Exzesse der Kirche an: Ey, ihr Ach-so-Gesegneten, sorry, falls wir euer Nickerchen stören!
Plötzlich inspiriert, drücken die Menschen Dinge aus, die gestern noch undenkbar waren.
Zurück auf dem Verfassungsplatz springen ein paar junge Leute auf den Betonzaun des Volkspalastes und rennen über den Köpfen der Demonstranten hin und her, bis sie schließlich von der Security runtergeholt werden. Unnachahmlich elegant kanzelt ein älterer Herr die Satanisten am Romana-Platz ab: “Der Bolschewismus ist die satanische Ausgeburt der Freimaurer.” Alles klar, die Kommunisten sind wieder mal schuld. “Karl Marx war ein Priester Satans.”
Vor dem Studio eines Fernsehsenders kniet ein Typ vor einer Werbetafel, auf der steht “Fläche zu vermieten, 150 Quadratmeter.” Er schreit: “Los Leute, verneigt euch vor Nasul TV!” Die Menschen laufen weiter, ohne ihn zu beachten.
Am Universitätsplatz schreit ein Barbesitzer in einer schwarzen Regenjacke: „Wo sind die Kinder? Wo sind die Kinder? Wo sind die Kinder?!“
So jammert er weiter, ohne Punkt und Komma, minutenlang, die Hände um seine Tasche geklammert. Plötzlich bricht er seine traurige Tirade ab, das Gesicht schmerzverzerrt. Um ihn herum beginnen Vuvuzelas zu lärmen. Das gefällt ihm nicht, er nimmt wieder sein Lamento auf, legt noch ein bisschen zu: “Wo sind die Kinder?! Wo seid ihr?!” Die Menschen beginnen, sich vor ihm zu fürchten. Aus einem Lautsprecher ertönt das Vaterunser. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme …
“Drauf’ geschissen!”, schreit der Mann im schwarzen Regenmantel und verschwindet in der Menge.
Der Protest liegt nun in seinen letzten Zügen, alte Rituale werden aus den Schubladen geholt, Ultras grölen, Kerzen werden zum Gedenken an die 1989er-Revolution und den Aufstand der Bergarbeiter angezündet. Erinnerungen an die brutalen Auseinandersetzungen vom Januar 2012 werden wach, an Massenschlägereien und Tränengas.
Damals wurden die Demonstranten gewalttätige Hooligans genannt, später naive Hipster, dann “die Facebook-Partei”und schließlich die neue soziale Bewegung Rumäniens. Aber man braucht keine Labels - man kann einfach von “der Straße” sprechen.
Vor drei Jahren brachte sie Premier Emil Boc zu Fall, vor zwei Jahren rettete sie die Bergbauregion Rosia Montana davor, von einem kanadischen Goldabbauunternehmen mit Zyanid überschwemmt zu werden, letztes Jahr brachte sie Klaus Iohannis in den Präsidentenpalast und jetzt hat sie soeben Premier Victor Ponta gestürzt.
Vielleicht erleben wir nun den Moment, in dem sich der Streit der Generationen von der Straße in die Ämter verlagert und neue politische Kandidaten hervorbringt. In der Zwischenzeit hilft die Euphorie der Solidarität dabei, mit der Trauer klar zu kommen.
Zwei Großväter verabschieden sich mit einem langen Händedruck.
Alles Gute!
Ich hoffe, sie bekommen endlich ihr Land zurück, ich hoffe es so sehr!
Noch immer schweben 90 junge Menschen nach dem Brand im Club Colectiv in Lebensgefahr. Sowohl die Regierung um den sozialdemokratischen Premier Victor Ponta als auch Cristian Popescu Piedone, Bürgermeister des Bezirks, der dem Club die Betriebserlaubnis erteilt hat, sind zurückgetreten. Präsident Klaus Iohannis hat heute Vertreter von 13 zivilgesellschaftlichen Organisationen in seinen Amtssitz eingeladen, um über mögliche Reformen zu beraten.Pressevertreter durften an dem Treffen nicht teilnehmen. Die Proteste werden fortgesetzt, auch außerhalb Rumäniens. Vor der Botschaft in Berlin findet heute, um 19 Uhr eine Mahnwache statt.
Casa Jurnalistului ist ein Kollektiv unabhängiger Journalisten mit Sitz in Bukarest. Bei Krautreporter erschien zuletzt ihre Reportage Der 4000 Kilometer-Hürdenlauf.
Text und Fotos: Vlad Ursulean / Matei Bărbulescu / Valentina Nicolae / Timea Honț / Tiberiu-Mihail Cimpoeru. Übersetzung: Victor Bitiuşcă / Christian Gesellmann.
Mit euch in Trauer, Bewunderung und Dankbarkeit: Krautreporter.