​Die Busfahrt des Herrn Erdogan
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​Die Busfahrt des Herrn Erdogan

​Noch vor wenigen Jahren war die Türkei ein boomender Tigerstaat, der den Islam mit der demokratischen Moderne zu versöhnen schien. Heute taumelt sie am Rande eines Bürgerkrieges. Auch weil Präsident Erdoğan die Demokratie für einen Bus hält, den man nach Belieben verlassen kann. Die Wahl am Sonntag ist deswegen die wichtigste seit Jahrzehnten. Ein Rückblick auf die Ära Erdoğan in 10 Stationen.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

1. Redaktionen stürmen, die Türkei umbauen – für Erdoğan ist die Demokratie nur eine Busfahrt

Es sind nur noch vier Tage bis zur Parlaments-Wahl, als am vergangenen Mittwoch Sicherheitskräfte in Istanbul das Büro des Medienkonzerns Koza-Ipek stürmen. Sie verschaffen sich mit Kettensägen Zutritt zu dem Gelände und schießen Tränengas auf die Angestellten. Schnell versammeln sich vor dem Gebäude Menschen, um gegen das Vorgehen der Polizei zu demonstrieren. Sie werden mit Wasserwerfern verjagt. Und die ganze Welt kann zuschauen, denn die Stürmung wird live ins Internet übertragen.

Der Zeitpunkt, vier Tage vor der Wahl, ist kein Zufall. Der Ort, die Senderäume der beiden regierungskritischen Fernsehsender Kanaltürk und Bugün, ist kein Zufall. Es ist kein Zufall, weil sich die Türkei in diesem Tagen so verhalten soll, wie es ihr Präsident, Recep Tayyip Erdoğan wünscht. Genauer: Sie soll so wählen, wie er es sich wünscht. Denn Erdoğan hat Großes vor, er will die „neue Türkei“, in der nicht mehr, wie bisher, das Parlament die stärkste Kraft wäre, sondern der Präsident der Republik, also Erdoğan selbst.

Dem jordanischen König soll er einmal gesagt haben, dass Demokratie für ihn nur eine Busfahrt sei. „Wenn ich meine Haltestelle erreiche, steige ich aus.“ Erdoğan will seit einem Jahr raus.

Aber die türkischen Bürger lassen ihn einfach nicht.

2. Was zur Wahl steht

Am Sonntag wählen die 53,7 Million wahlberechtigten Türken zum zweiten Mal in diesem Jahr ein neues Parlament. Der erste Wahlgang im Juni brachte zwar einen klaren Sieger hervor, Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), aber keine stabile Regierung. In den 45 Tagen nach der Wahl gelang es keiner der vier Parteien im Parlament, eine regierungsfähige Koalition auf die Beine zu stellen. Also gibt es Neuwahlen.

Einige Beobachter glauben, dass die AKP niemals ernsthaft versucht hatte, eine Koalitionsregierung zu bilden. Denn damit Erdoğan seine „neue Türkei“ aufbauen kann, braucht er zwingend eine absolute Mehrheit im Parlament. 330 von 550 Abgeordneten müssen dafür stimmen, ein Referendum zur Verfassungsänderung zu starten. Diese Mehrheit verfehlte er im Juni deutlich. Wie kam Erdogan denn überhaupt auf die Idee, sie erreichen zu können?

Grund dafür ist das türkische Wahlsystem. Dabei ziehen nur Parteien, die mindestens zehn Prozent der Stimmen erhalten, ins Parlament ein. Mit dem Gesetz soll verhindert werden, dass zu viele kleine Parteien im Parlament das Regieren erschweren. Allerdings liegt die Grenze in anderen Ländern deutlich niedriger. In Deutschland sind es etwa nur fünf Prozent. Bei den letzten Parlaments-Wahlen scheiterte die kurdische Partei HDP immer wieder an der Zehn-Prozent-Hürde. Aber im Juni gelang ihr mit mehr als 13 Prozent der Einzug – gerade, weil die Menschen wussten, dass eine Stimme für die HDP eine Stimme gegen die „neue Türkei“ ist.

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Die HDP ist eine eher linke Partei, die von Kurden dominiert wird. Kurden sind nach den Türken die zweitgrößte Volksgruppe in der Türkei. Sie leben vor allem im Südosten des Landes, nahe den Grenzen zu Irak, Aserbaidschan und Syrien und wünschen sich mehr politische Selbständigkeit. Bevor Erdoğan an die Macht kam, hatte die türkische Regierung Kurden mal offen, mal verdeckt, aber immer aus voller Überzeugung heraus bekämpft. Er aber leitete 2012 einen umfassenden Friedensprozess mit der gewalttätigen, kurdischen Organisation PKK ein, der sehr aussichtsreich war und für den er von den früheren Herrschern, den nationalistischen Gruppen in der Türkei, heftig kritisiert wurde. Nun aber hatte ausgerechnet eine kurdische Partei verhindert, dass er seine ambitionierten Pläne umsetzen kann.

Bei der Wahl am Sonntag startet Erdoğan einen neuen Versuch. Die HDP darf nicht über die Zehn-Prozent-Hürde kommen.

3. Gegen die alten Feinde von der PKK

Im Juli dieses Jahres flammt der Krieg der türkischen Regierung gegen die PKK (und andersherum) wieder vollends auf, der „Dritte Aufstand“ (Wikipedia) beginnt. Erdoğan beendet Ende Juli ganz offiziell den Friedensprozess mit der PKK. An den Kämpfen kann es nicht liegen, denn auch als verhandelt wurde, starben Menschen. Es ist eine bewusste Entscheidung Erdoğans. Fast jeden Tag bekriegen sich die beiden Parteien, in wenigen Monaten sterben mehr Menschen als in den ganzen Jahren zuvor. Bis zu 2.000 Menschen sind im Oktober 2015 tot. Immer wieder kommt es zu ethnisch motivierten Übergriffen auf den türkischen Straßen. Parteibüros der kurdischen HDP und Geschäfte ihrer Sympathisanten brennen. Die Kämpfe schlagen sich auch in den Nachrichtensendern, Zeitungsspalten und Presserklärungen der Politiker nieder. Erdoğan nutzt die Situation aus, gerade er, der als Präsident eigentlich überparteilich sein sollte, sagt: „Wenn eine Partei 400 Sitze bei den Wahlen bekommen hätte und die erforderliche Stimmenzahl im Parlament für eine Verfassungsänderung erreicht hätte, wäre die Lage anders.“ Eine Partei? Irgendeine? Damit kann er nur seine Partei gemeint haben, die AKP. Seine neue Lieblingsvokabel ist „milli irade“, der nationale Wille. Der wird sich am 1. November manifestieren, sagt er.

4. Der Aufstieg der AKP

Dabei ist das Wort von nationalen Willen nicht ganz so hohles Gerede, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Seitdem Erdoğan die Führung der AKP übernommen hat, ist sie zu der bestimmenden Kraft in der Türkei geworden. Vor allem jenen Türken, die eher weniger Geld haben, eher religiöser sind und im türkischen Hinterland leben, hat die AKP eine Stimme gegeben. Dieser Prozess ist nicht zu unterschätzen. Erdoğan war der erste Regierungschef, der von sich ausdrücklich behauptete, einer dieser Menschen zu sein, die sie in der Türkei mal abfällig, mal ironisch „Schwarze Türken“ nennen. Demokratieforscher feiern so einen Prozess, weil plötzlich die bisher Ungehörten und Missachteten eine Stimme bekommen und zu einem Träger des demokratischen Systems werden. Gegen den Widerstand der alten, mächtigen Eliten konnten die AKP und ihre Anhänger die türkische Demokratie im Land verankern. Die Plage der türkischen Republik, die ständigen Militärputsche, sind Geschichte.

5. Der Tiger setzt zum Sprung an

Aber der AKP gelang noch mehr. Seitdem Erdoğan an der Macht ist, wächst die Türkei rasant. Im Jahr 2004 um fast zehn Prozent; chinesische Verhältnisse. Das Land hat Konzerne hervorgebracht, die in Deutschland niemand kennt, etwa die Koc Holding, die mehr als 43 Milliarden Dollar pro Jahr umsetzt, mehr als der Pharmakonzern Bayer. Mit seiner Wirtschaftsleistung spielt die Türkei heute in der Weltliga. Istanbul, die große türkische Weltstadt, boomte, natürlich. Aber noch stärker, noch explosiver entwickelten sich Städte wie Bursa, Konya oder Gaziantep, die tief in Anatolien gelegen bisher kaum eine Rolle gespielt hatten. Jetzt aber sprach die ganze Welt plötzlich vom „Anatolischen Tigerstaat“.

6. Die Gründe: Reformen, Reformen, Reformen und die EU

Experten wie die Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu und Murat Ucer glauben, dass dieser Boom drei Gründe hat, für die die AKP zentral gewesen ist. Erstens, entstand nach einer fürchterlichen Wirtschaftskrise im Jahr 2001 das politische Klima für einen echten Neuanfang mit weitreichenden Reformen. Die AKP brachte das Haushaltsdefizit unter Kontrolle, stärkte die Autonomie von Regierungsbehörden wie der Zentralbank und konnte die Korruption senken, in dem sie die Entscheidungen der Regierung transparenter machte. Unterstützt wurde die AKP dabei, zweitens, vom Internationalen Währungsfond und der Weltbank. Die Türkei dürfte eine der wenigen Fälle in der Geschichte sein, bei dem diese beiden Institutionen tatsächlich Erfolg hatten. Drittens, und das ist sehr wichtig, begannen die EU und die Türkei Anfang des vergangenen Jahrzehnts, mit großer Ernsthaftigkeit über einen Beitritt zu reden. Um sich als Kandidat zu qualifizieren, musste das Land eine ganze Reihe von neuen Gesetzen verabschieden, die die Menschenrechtssituation und das Geschäftsklima im Land verbesserten. Der EU-Beitritt war verheißungsvoll und spornte die türkischen Behörden an. Dabei ging es aber nicht nur den Unternehmen besser. Der Boom kam auch bei den Menschen an.

7. Der Wohlstand verteilt sich gerechter

Nicht nur verdienten die Türken im Schnitt mehr. Der neue Wohlstand verteilt sich auch besser. Gleichzeitig steigt auch die Qualität der Gesundheitsvorsorge, türkische Schüler erzielten von Jahr zu Jahr immer bessere Ergebnisse, und neue Straßen und Flughäfen, Busbahnhöfe und Wohnviertel machten das Leben für viele Türken angenehmer. Im Jahr 2007 war die Türkei friedlich, wurde immer reicher an Geld und Einfluss. Es ist eine gute Zeit für das Land, die aber bald ihr Ende findet. Und auch hier spielen Erdoğan und die AKP die entscheidende Rolle.

8. Das alte Schreckgespenst taucht wieder auf

Parade zum Tag des Sieges 30. August 2007

Parade zum Tag des Sieges 30. August 2007 Foto: Nérostrateur/Wikipedia

Denn im Jahr 2007 kriechen die alten Geister der türkischen Republik wieder hervor. Der Generalstab veröffentlicht auf seiner Webseite ein Memorandum, mit dem er verhindern will, dass der Ex-Islamist Abdullah Gül zum Präsidenten des Landes wird. Durch dessen Wahl sei die säkulare Republik in Gefahr, die Trennung von Religion und Staat nicht mehr gewährleistet. Ein Jahr später startete der Oberste Gerichtshof ein Verbotsverfahren gegen die AKP. Aber dieses Mal lief es anders als bei all den Gelegenheiten zuvor, in denen die Armee ihre Panzer nutzte, um die Macht zu übernehmen. Die AKP war zu tief verwurzelt im Land, die Generäle längst zu stark in Verruf geraten, um die Machtbalance ernsthaft gefährden zu können. Erdoğan und seine Leute siegten, zurück blieb bei ihnen aber das latente Gefühl, bedroht zu sein. Wenn er heute die Kurden beschuldigt, einen „Parallelstaat“ aufzubauen, dann klingt darin die Warnung vor den Zuständen mit, als noch die Militärs, die niemandem verantwortlich waren, regierten.

9. In Europa spricht ein skeptischer Franzose ein Machtwort

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy war noch keine drei Monate im Amt, als er im Sommer 2007 Angela Merkel beim G8-Gipfel in Heiligendamm traf - aber den EU-Beitritt der Türkei hatte er schon auf Eis gelegt.

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy war noch keine drei Monate im Amt, als er im Sommer 2007 Angela Merkel beim G8-Gipfel in Heiligendamm traf - aber den EU-Beitritt der Türkei hatte er schon auf Eis gelegt. Foto: Bundesregierung

Nur wenige Monate nachdem die Generäle ihr Memorandum veröffentlicht hatten, tritt im Elysee-Palast in Paris Nicholas Sarkozy die französische Präsidentschaft an. Er hatte während des Wahlkampfes damit geworben, den EU-Beitrittsprozess der Türkei zu stoppen und in eine andere Form der Annäherung umzuwandeln. Da auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel dieser EU-Vergrößerung skeptisch gegenübersteht und die EU und die Türkei zu keiner gemeinsamen Lösung in der Zypern-Frage kommen, verdüstern sich die Aussichten für einen Beitritt. Zwar kündigte Erdogan vor dem Parlament an, bei den Reformen nicht nachzulassen, das Tempo hochzuhalten, als aber ein Jahr später der Konflikt mit den Kurden wieder hochkocht und im Herbst 2008 die Finanzkrise die Weltwirtschaft erzittern lässt, kann und will Erdoğan dieses Versprechen nicht mehr erfüllen. Der langsame Abstieg beginnt, aber Erdoğan wird immer mächtiger.

Schon vor 2007 sollen nach Ansicht der beiden Experten Daron Acemoglu und Murat Ucer die Grundlagen dafür gelegt worden sein. Denn die AKP hat ihren Kampf gegen die Korruption schleifen lassen, außerdem wird „die AKP zu mächtig für das schon immer schwache System der Checks-and-Balances, das die türkische Zivilgesellschaft, die Justizinstitutionen und die parlamentarische Opposition gewährleisten können“. Wie schwach die Kontrolle der AKP ist, zeigt sich im Sommer 2013, in einem kleinen Stadtpark in Istanbul.

10. In der Türkei spricht Erdoğan ganz viele Machtworte

Proteste auf dem Taksim-Platz in Istanbul 2013

Proteste auf dem Taksim-Platz in Istanbul 2013 Foto: Fleshstorm/Wikipedia/CC BY-SA 3.0

Der sogenannte Gezi-Park soll abgerissen werden und Platz machen für ein Einkaufszentrum, dessen Fassaden im osmanischen Stil gehalten sind. Am 27. Mai stellen sich Aktivisten den Baggern entgegen, einen Tag später sind Tausende vor Ort. Am 1. Juni demonstrieren Hunderttausende Türken in 63 Städten. Es geht längst nicht mehr um den Park, es geht um die Regierung Erdoğan, die immer repressiver geworden ist. Mehr und mehr Journalisten landen im Gefängnis, immer wieder wird der Zugang zu dem sozialen Netzwerk Twitter gesperrt. Die AKP und ihre Anhänger sehen sich selbst - durch ihre Wahlerfolge legitimiert - als der Maßstab für die Türkei. Waren sie in den Jahren zuvor der Anker des demokratischen Systems, werden sie jetzt zu dem Betonklotz, der es herabzuziehen droht. Sollte es der AKP wieder nicht gelingen, mindestens 330 Sitze im Parlament zu bekommen, so - das diskutieren manche schon – wird wieder gewählt, zum dritten Mal in einem Jahr. Es wäre eine Farce.

Die Wahlen in der Türkei sind nicht nur Wahlen für oder gegen Erdoğan, sondern auch eine Wahl für oder gegen jene Türkei, die einmal stabil und aufstrebend war - unter der AKP, unter der Führung von Erdoğan. Das war seine unbestrittene Leistung, die heute überlagert wird, von den Bildern aus dem Gezi-Park und den Todesanzeigen im Konflikt mit der PKK.

Mit anderen Worten: Dass Erdoğans Leistung vergessen wird, ist kein Zufall. Er hat es selbst zu verantworten.


Aufmacher-Foto: Ex 13/Wikipedia/CC BY SA 4.0

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