Eigentlich war es ein ganz normaler Vorgang, der sich gestern in Berlin-Mitte abspielte. Eine Interessengruppe lädt zu einer Pressekonferenz ein, auf der sie eine neue Umfrage zu einem ihrer Spezialgebiete vorstellen wird. Die Hauptstadtjournalisten kommen vorbei, hören zu, schreiben mit, fassen anschließend die zentralen Ergebnisse der Umfrage für ihre Medien zusammen.
Gestern hatte die Interessengruppe „Adopt a Revolution“ ins Haus der Bundespressekonferenz eingeladen. Sie machte vor drei Jahren Schlagzeilen mit einer spektakulären Idee: Werde Pate der syrischen Revolution. Die Spender sollten mit ihrem Geld den Aufbau einer syrischen Zivilgesellschaft unterstützen.
Medien verbreiten die Umfrage, Angela Merkel zitiert daraus
„Adopt a Revolution“ stellte eine Umfrage vor, die sie in den vergangenen Wochen unter syrischen Geflüchteten in Deutschland durchgeführt hatten. Gut 900 von ihnen hatten sie an zwölf Notunterkünften, Aufnahmeeinrichtungen und Registrierungsstellen in fünf deutschen Städten befragt: Alter, Herkunftsort wollten sie wissen, den Fluchtgrund, wen die Geflüchteten für die Gewalt in Syrien verantwortlich machen und unter welchen Bedingungen sie wieder nach Syrien zurückkehren würden. In ihrer Pressemitteilung rückte „Adopt a Revolution“ die Frage nach der Fluchtursache in den Mittelpunkt: „Umfrage: Mehrheit syrischer Flüchtlinge flieht vor Assad-Regime, nicht vor Islamischem Staat (IS)“, lautet die Schlagzeile. Viele Medien folgten der Interpretation der Gruppe, etwa Spiegel Online oder die Süddeutsche Zeitung. Einige wichen von ihr etwas ab, etwa Tagesschau.de, die sich voll auf die Rolle des Assad-Regime stürzte.
Am Abend hatte die Umfrage dann einen Camouflage-Auftritt vor 3,45 Millionen Menschen. Im Gespräch mit Anne Will zitierte Bundeskanzlerin Angela Merkel aus ihr, als sie davon sprach, dass 70 Prozent der geflüchteten Syrer in ihre Heimat zurückkehren wollten, wenn der Krieg zu Ende ist.
Allerdings sind diese Umfrage und ihre Interpretation durch die Medien problematisch. Wenn grundlegende wissenschaftliche und journalistische Standards eingehalten wären, hätte sie nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen dürfen. Das sind die Gründe:
1. Die Umfrage ist nicht repräsentativ
Wer eine Umfrage durchführen will, muss darauf achten, dass er sein Forschungsobjekt richtig erfasst. Das ist eine recht einfache Maßgabe. Aids-Forscher sollten das HI-Virus beobachten und Handelsökonomen etwa den Warenverkehr zwischen zwei Ländern. Wenn allerdings ein Sozialwissenschaftler herausfinden will, wie diese oder jene Gruppe von Menschen tickt, steht er vor einigen Problemen. Denn er kann nur in Ausnahmefällen alle Mitglieder dieser Gruppe befragen. Ein Beispiel: Wer wissen will, wen die wahlberechtigten Deutschen wählen würden, wenn kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, müsste 64,4 Millionen Menschen fragen. Das ist unmöglich.
Deswegen behelfen sich Sozialwissenschaftler mit einem cleveren Trick. Sie sagen: Wenn ich weiß, wie die gesamte Gruppe beschaffen ist, kann ich mir eine kleinere Gruppe von Befragten zusammenstellen, die im Verhältnis genauso zusammengesetzt ist wie die große Gruppe. Die kleinere Gruppe wäre dann „repräsentativ“ für die größere. Um diese kleine Gruppe zusammenzustellen, müssen die Menschen darin zufällig ausgewählt werden. Oder anders ausgedrückt: Jeder Mensch der großen Gruppe muss mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in die kleinere Gruppe gelangen können. Diese Bedingung muss erfüllt werden, damit durch die Auswahl der Befragten die Ergebnisse nicht verzerrt werden.
Die Umfrage von „Adopt a Revolution“ ist nicht repräsentativ. Zwar sollen die Befragten „zufällig“ ausgewählt worden sein, aber ob ihre Antworten tatsächlich auf alle geflüchteten Syrer übertragbar sind, weiß niemand, weil noch niemand weiß, wer genau nach Deutschland kommt. Die große Gruppe ist nicht bekannt. Das heißt in der Konsequenz, dass sich niemand sicher sein kann, ob die Antworten der befragten Syrer auch für alle anderen stehen.
Die Herausgeber der Umfrage machen keinen Hehl daraus, dass diese nicht repräsentativ ist; sie erwähnen es in ihrem Hintergrund-Papier, wenn auch nur auf der letzten Seite. Heiko Giebler vom Wissenschaftszentrum Berlin beriet die Aktivisten bei der Umfrage. Er rechtfertigt die Veröffentlichung dieser nicht-repräsentativen Umfrage gegenüber Zeit Online so: „Die Ergebnisse sind aus meiner Sicht so eindeutig, dass ich es für unwahrscheinlich halte, dass sie an der Realität vorbeigehen.“ Vielleicht kann man dieser Argumentation in diesem Fall sogar noch folgen. Die Ergebnisse sind ja – auf den ersten Blick jedenfalls – tatsächlich eindeutig. Aber diese Argumentation ist heikel.
Stellen wir uns eine andere Situation vor, stellen wir uns vor, dass wir herausfinden wollen, was die Menschen, die gerade in Deutschland leben, über die Geflüchteten denken und die Umfrage käme zu dem Ergebnis, dass mehr als 50 Prozent der Deutschen das Grundrecht auf Asyl ablehnen. Danach erfahren wir, dass die Umfrage nicht repräsentativ ist. Würden wir der Umfrage glauben? Würden Journalisten darüber berichten? Nein. Und mit gutem Recht. Weil etwas naheliegend ist, muss es nicht richtig sein.
Aber die Medien haben trotzdem berichtet. Manche haben auch erwähnt, dass die Umfrage nicht repräsentativ ist, ohne genauer zu erklären, was das bedeutet. Einen Versuch immerhin machte Spiegel Online. Früh im Artikel schreibt die Autorin:„[Die Umfrage] ist zwar im statistischen Sinne nicht repräsentativ, gibt aber sehr wohl einen breiten Eindruck.“ Wenn nicht im statistischen Sinne, in welchem anderen relevanten Sinne könnte die Umfrage denn repräsentativ sein? Und für wen? Das erklärt die Autorin leider nicht.
2. Die Umfragendesigner ignorieren vorhandene Daten
Der Gründer von „Adopt a Revolution“, Elias Perabo, erklärte mir am Telefon, dass es zurzeit „keine repräsentative Umfrage geben kann“, weil die Vergleichsgruppe fehle. In ihrem Hintergrund-Papier zur Umfrage schreibt die Aktivisten-Organisation: „Da zum Zeitpunkt der Erhebung keinerlei repräsentative Stammdaten über die Befragungsgruppen vorlagen (etwa der Anteil Frauen/Männer, Alter etc.), wurden Orte für die Befragung ausgewählt, die für alle Flüchtlinge, unabhängig von politischen Meinungen oder sozialen Merkmalen, relevant sind.“ Entscheidend ist der erste Satz mit den fehlenden Stammdaten.
Wer beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anruft, bekommt bereitwillig Auskunft über die Menschen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen. Die Daten liegen immer mit einer kleinen Zeitverzögerung vor. Auch diese Daten erfassen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht alle Syrer, weil manche von ihnen keinen Asylantrag stellen. Allerdings haben allein zwischen Januar und Juli diesen Jahres 55.000 Syrer einen Antrag gestellt. Dominik Wurnig hatte sich in seinem Krautreporter-Artikel die Mühe gemacht, die Daten des Bundesamtes für Flüchtlinge zusammenzutragen und zu veranschaulichen. Er hat anhand der ihm verfügbaren Daten zum Beispiel festgestellt, dass 76,29 Prozent der Syrer, die in diesem Jahr angekommen sind, männlich sind. In der Umfrage von „Adopt a Revolution“ betrug die Zahl 88 Prozent.
Entscheidender als dieser Unterschied ist aber etwas anderes: Die Umfragendesigner haben die Daten des Bundesamtes wohl einfach ignoriert. Das beschädigt ihre Glaubwürdigkeit. Den Journalisten, die gestern über die Umfrage berichteten, ist das keine Erwähnung wert gewesen.
3. Die Interpretation der Daten
Aber selbst, wenn es gelingt, auf glaubwürdigem Wege gute Daten zu erhalten, bleibt die wichtigste Frage übrig: Was erzählen diese Daten? „Adopt a Revolution“ und viele Journalisten betonen, dass die Daten vor allem zeigten, dass die Syrer vor den Fassbomben, Entführungen und Kampfhandlungen des Assad-Regimes fliehen. Das stimmt, die Daten geben das her.
Dabei sind die Befrager so vorgegangen, dass sie bei jeweils drei Gefährdungen (Fassbomben, Entführungen und Kampfhandlungen) abgefragt haben, wie sehr sie sich dadurch gefährdet sahen und wer sie verursacht hat beziehungsweise wer dafür „verantwortlich“ war. Überall liegt das Assad-Regime mit Abstand vorne. Hier etwa die Ergebnisse für die Kampfhandlungen:
Was fällt Ihnen auf?
Erstens, es waren augenscheinlich Mehrfach-Antworten möglich.
Zweitens, schauen Sie mal auf die Fragestellung: „Wer war für die Kämpfe verantwortlich?“ Diese Frage lässt, auch im Arabischen, Interpretationsspielraum für die Befragten. Es ist möglich, dass sie die Frage missverstanden haben, dass abgefragt wurde, wer die Kämpfe allgemein gestartet hat, wer die Schuld an ihnen trägt. Dabei hätte dieser Frage mit Leichtigkeit zu mehr Eindeutigkeit verholfen werden können, durch einen kleinen Zusatz: „Wer war für die Kämpfe verantwortlich, vor denen Sie geflohen sind?“ Das hört sich wie Wortklauberei an, aber es macht einen Unterschied. Wenn eine Frage schwammig ist, ist die Wahrscheinlichkeit bei 900 Befragten groß, dass sie jemand missversteht – und schon sind die Ergebnisse verzerrt. Aber das ist nicht das größte Problem.
Drittens fällt auf, dass die Mehrheit der Befragten Assad für den Schuldigen des Krieges hält. Aber auch nur, wenn sie seine ganzen Gegner als getrennte Akteure betrachten. Wenn sie die zusammenzählen, kommen sie auf 82,2 Prozent und schwupp – wenn man so vorgeht wie „Adopt A Revolution“ und die jeweiligen Medien – könnte man auch diese Überschrift formulieren: „Umfrage: Mehrheit syrischer Flüchtlinge flieht vor Assads Gegnern, nicht vor Assad-Regime“. Elias Perabo von „Adopt a Revolution“ verteidigt seine Interpretation: „Es ist zweifelhaft, ob der Islamische Staat ein Gegner von Assad ist oder ob die Kurden ein Gegner von Assad sind.“
Punktuelle Kooperationen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Islamische Staat natürlich ein Gegner von Assad ist. Noch heute belagern die IS-Kräfte eine Luftwaffenbasis im Westen von Syrien, nahe Deir-Ez-Zoor, gehalten wird sie von Kräften der syrischen Regierung. Das Gleiche ist der Fall bei den Kurden. Zwar kooperieren sie ab und zu mit der syrischen Armee, sie bekämpfen sie aber auch – und strategisch sind sie sowieso Gegner. Kurden wie der IS wollen einen eigenen Staat, der auf Kosten von Assad gehen muss.
Aber Perabo hat auch nicht unrecht! Das ist das Problem dieser Frage. Fast 70 Prozent der Befragten nennen das Assad-Regime einen Verantwortlichen für die Kampfhandlungen. Seine Interpretation, die dem Gründer einer Assad-kritischen Organisation eben eher in den Sinn kommt, ist genauso legitim. Und er muss sie auch voranstellen, alles andere wäre in seiner Funktion eigenartig. Aber in unserer zur Verkürzung neigenden Medienlandschaft ist ein Artikel über eine nicht-repräsentative Studie geradezu eine Einladung für Missverständnisse, die sich ewig weiterverbreiten und nicht totzukriegen sind.
Denn wenn 80 Prozent vor den Gegnern von Assad fliehen und gut 70 Prozent vor Assads Regime, dann liegt eine völlig andere Interpretation und Überschrift nahe:
„Nicht repräsentative Umfrage: Mehrheit syrischer Flüchtlinge flieht vor Krieg“
Es ist zweifelhaft, ob es die Umfrage so in die Medien und bis ins Kanzleramt geschafft hätte.
Ein sehr großes Dankeschön geht an das Krautreporter-Mitglied Gurdi, das mich auf diese Umfrage aufmerksam gemacht hat! KR-Community ftw!
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Aufmacher-Foto: NDR