Welcher Autor ist schon in der Lage, eine Welt zu erschaffen? Seine immer gleiche, immer neue Welt, die man schon am ersten Satz erkennt? Marc Fischer konnte es wie kaum ein zweiter. Einmal hat er uns ganz wörtlich mitgenommen in seinen Kosmos, in die „Fischerwelt“, in der Hemingway und Leonard Cohen sich von Rita Hayworth an der Bar Drinks mixen lassen und Nixon und Camus die Moral des Menschen ausdiskutieren. Camus! Nixon! Ich wollte gleich den Flug buchen.
Was sind das auch für fantastische Ausflüge, immer leicht und locker, immer tief melancholisch, ein tägliches Aufraffen gegen die Zentnerschwere unserer Existenz, auf, auf, los, weg, nur weit weg, zu den eigenen Sehnsüchten. Für „Hobalala, Auf der Suche nach Joao Gilberto“ (Suhrkamp 2012), einen seiner letzten, großen Texte, ging Marc Fischer bis nach Brasilien, auf der Suche nach dem verschollenen Erfinder der „Bossa Nova“-Musik. Ein Text, der mit den ersten Absätzen abhebt und dann 195 Seiten lang schwebt, über alle Genre-Grenzen hinweg, Reportage, Roman, Reisetagebuch, Schwärmerei, alles, alles, und noch viel mehr.
Fischer hat immer das gemacht, was ein feinfühliger Mensch am besten macht, er hat das aufgeschrieben, was für ihn die Wahrheit war, und das haben ihm am Ende tatsächlich sogar ein paar vorgeworfen. Wen von den schillernden Gilberto-Freunden er tatsächlich getroffen hat? Welche der skurril-komischen Dialoge er tatsächlich genau so geführt hat? Mir völlig wurscht. Ich will ihm jedes Wort glauben.
Ich war noch nie in Rio. Und dann habe ich „Hobalala“ gelesen. Und dann gleich noch mal. (Die ersten elf Buchseiten gibt es hier als Leseprobe)
Collagen, das sind die Reportagen von Erwin Koch, aber sie sind so viel mehr als ein paar zusammengeklebte Schnipsel, als bloßes Handwerk. Sie lassen einen nicht los, sie reißen einen mit, so wie „Sarah“ (Welt am Sonntag 2012), die Geschichte des Mädchens, das an Leukämie stirbt. Wenige Texte, die mich so berührt haben. Vielleicht weil er eine Nähe erzeugt, die fast nicht auszuhalten ist. Wir lesen Sarahs SMS, die ewigen Listen ihrer Medikationen, wir sitzen an ihrem Bett und singen mit ihr Weihnachtslieder, wir leiden mit ihr und ihrer Familie, hören auch den Vater weinen, der seine Tochter schon lange vor ihrem Tod zu verlieren scheint.
Verzweiflung, Hoffnung, Verzweiflung, ständige Rhythmuswechsel, meisterhaft arrangiert, fast elegische Passagen des Miteinander, des Wird-schon-wieder, und dann ein Satz, der einem alles unter den Füßen wegreißt. Schon im ersten Satz, in der ersten Kaskade, ist alles enthalten von Erwin Kochs Kunst, alle Akribie und Poesie: „Sarah fasst sich ans Becken, rechte Seite, und stöhnt auf, es ist 17 Uhr, längst finster im Dorf am 8. Dezember 2007, ein Samstag, die Welt riecht nach Schnee.“
Mir sagte mal ein Dozent in einem Textseminar etwas abschätzig, Erwin Koch, das sei doch kein Journalismus, das sei Literatur. - Ja, naja, klar, aber: Das ist es doch gerade!
Wie schreibt man über ein Verbrechen, das keiner versteht? Man schreibt über den Ort, an dem es geschehen ist. Der Ort, an dem der junge Berliner Jonny K. totgeprügelt wurde von sechs anderen jungen Berlinern, das ist der „Alexanderplatz“ (60pages 2013). So viel Leere hinterlässt diese Irrsinnstat, dass Georg Diez sich für die große Form entscheidet, die ganz große. „60pages“ also, viel Beobachtung, viel Meinung, viel Ich, es geht nicht anders. Diez wohnt selbst mit seiner Familie am Alex.
Der Platz selbst ist eine Konsumlandschaft, Einkaufscenter, Läden, Werbetafeln, und darum geht es hier auch, gleich am Anfang schon, was kosten die Wodka-Red-Bull, die sich die Täter vorher reinschütten. Die Firmen und Marken, sie schleichen sich langsam an, dann kommen sie immer öfter, schneller, bis hin zu einer fünfseitigen Aufzählung von Markennamen. Fünf Seiten! Und die Botschaft ist sorgsam verwebt.
Ein großartiger, wütender Reportage-Essay über das Anti-Zentrum dieser Stadt, in dem es kein „Dazwischen“ gibt, wie Diez schreibt, „nur Krawall und Leere, nur Jahrmarkt oder Langeweile“. Er skizziert einen Ort, an dem alles möglich ist, auch dass sechs junge Berliner einen anderen jungen Berliner auf dem Heimweg totschlagen und gar nicht wissen warum. Und am nächsten Morgen öffnen pünktlich die Läden.
Johannes Ehrmann, geboren 1983 in Saarbrücken, schreibt als freier Autor in Berlin unter anderem für den Tagesspiegel und die 11FREUNDE. Mit seinem Reportage-Essay „Wilder, weiter, Wedding“ gewann er 2014 den Theodor-Wolff-Preis. Derzeit arbeitet er an seinem Debütroman, der im März 2016 bei Eichborn erscheint.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer