Als ich Christa Ritter traf, war ich darauf vorbereitet, dass das eine sehr anstrengende Begegnung werden könnte. Denn ich hatte ihr Buch „Styx“ gelesen, und selten hatte mich eine Lektüre gleichzeitig so genervt und gefesselt. Aber was dann auf dem sonnengetränkten und lauten Balkon ihrer Wohnung passierte, war etwas ganz anderes. Etwas, das ich nicht erwartet habe.
Die Vorgeschichte zu diesem Treffen ist verschlungen, geht über Jahrzehnte und durch mehrere Länder. Sie beginnt Silvester 1970 oder ’71, so genau weiß Christa Ritter das nicht mehr. Aber es war in Sri Lanka, das damals noch Ceylon hieß, und sie war Ende zwanzig. Mit einem Freund saß sie am Strand bei einer Badehütte. Sie hatten Mescalin dabei, das sie aus einer Nervenheilanstalt in Düsseldorf bekommen hatten.
Der Strand war ziemlich voll, es waren viele andere Touristen da. Normalerweise hätte Ritter das genervt. Aber als der Trip zu wirken begann, merkte sie nicht nur, dass die Wellen des Meeres sich rosa und grün verfärbten, sondern auch, dass sie plötzlich in eine Liebeswolke geraten war. Ritter wusste auf einmal, dass die Trennung zwischen den Menschen nur eine Illusion war. Die anderen waren ein Teil von ihr, sie waren alle eine große Community. Sie fand alles schön, es gab nichts, was nicht schön war.
Später ahnte Ritter, dass diese Erfahrung nicht nur ein Trip gewesen war, sondern dass sie etwas Wirkliches erkannt hatte. Etwas, das man normalerweise einfach nicht sehen konnte, weil zu viele Dinge im Weg waren: Der Wunsch nach Sicherheit zum Beispiel, nach Sex, Geld und Macht. Damit stand der Mensch immer in Konkurrenz zu anderen, und deshalb sah er die Verbindung nicht. Ritter aber hatte sie gesehen, und sie sehnte sich danach, auch ohne Drogen dahin zu kommen. Sie wusste nur nicht, wie.
Was Freiheit kostet
Lange versuchte sie, anders glücklich zu werden, wurde stattdessen aber immer trauriger. Dann, ein paar Jahre nach Ceylon, traf sie Rainer Langhans, der seit ’67 in der legendären Kommune 1 gelebt hatte. Ritter war fasziniert, denn was Langhans von der Kommune erzählte, klang wie die Liebeswolke, in der sie damals gewesen war. Die Kommunarden, sagte er, hätten sich radikal alle Glaubenssätze aus den Rippen gerissen, mit denen sie erzogen worden waren: Dass es bedeutsam war, wenn einer Akademiker war, oder dass es gut war, Geld oder Menschen zu besitzen.
Die Studenten sagten sich von diesen Dingen los, und für eine kurze, kostbare Zeit waren und liebten sie frei. Genau das also, was Ritter wollte. Sie machte einen radikalen Schnitt: Sie gab ihre große Wohnung, ihre Designermöbel und Karriere beim Film auf und zog in ein karges Zimmer mit einer Matratze in Langhans’ Nähe. Und sie wurde seine Freundin, obwohl er schon mit vier anderen Frauen zusammen war. Aber genau das war Teil des Plans.
Mittlerweile ist Ritter 72 und seit vier Jahrzehnten in diesem Beziehungsprojekt, das die Presse schon lange „Harem“ nennt, weil sie sich ausgedacht hat, dass eine Konstellation aus vier Frauen mit einem Mann ein wildes Sexprojekt sein muss. Sogar die Frauen um Langhans reden inzwischen vom „Harem“. Sie tun es ironisch, fast trotzig, obwohl sie wissen, dass jeder sich etwas Falsches darunter vorstellt. Denn es geht weder darum, sich zu fünft - es gibt da noch eine Frau - einem Mann zu unterwerfen, noch um romantische Liebe oder Sex. Davon findet sogar ziemlich wenig statt. Ritter etwa hat überhaupt noch nie mit Langhans geschlafen.
Sie nennen das Konzept „Beziehungsarbeit“. Die eigenartige Konstellation soll an die Oberfläche bringen, was an Wut, Hass und Besitzdenken in ihnen steckt. Irgendwann, meint Ritter, merkst du, dass diese Gefühle nichts mit dem anderen zu tun haben, dass es alles Projektionen sind. Irgendwann nimmst du sie zurück zu dir. Du lässt dich und andere frei. So lernt man lieben.
Eine höllische Reise
Soweit die Theorie. Wie die Praxis aussieht, kann man in „Styx“ nachlesen. Eine schwierige Lektüre, wie gesagt. Nicht des Themas wegen, auch wenn das düster genug ist. Denn „Styx“ ist ein Bericht von einer Reise, die drei der Haremsschwestern mit Langhans antreten. Für eine von ihnen, Jutta Winkelmann, könnte es die letzte Reise sein, denn sie ist schwer an Krebs erkrankt. Gegen den Rat besorgter Freunde und Ärzte will sie nach Indien, um noch im Leben „sterben zu lernen“.
„Denn weder die spärlichen Hospize, die vielen Psychologen, noch die Kirche in Deutschland wissen etwas über das Sterben aus diesem Körper-Ich in etwas, das niemand von uns kennt, in dieses Nichts.“ Der Krebs setzt die Reisenden unter Zeitdruck, die Wahrheit muss schnell gefunden werden, am besten mithilfe eines passenden spirituellen Meisters, der aber nirgends auftaucht. Vielleicht gehen die Frauen sich im Laufe des Buchs deshalb immer wieder förmlich an die Kehle.
Es tut weh, das zu lesen: Diese eigenwilligen Frauen, die allesamt wilde Lebensgeschichten haben, die sich wie großartige Roadmovies lesen, verbeißen sich ungehemmt und scheinbar unbelehrbar in ihren Emotionen. Sie sind rasend eifersüchtig, flehen um Aufmerksamkeit von Langhans, sind wütend, traurig, genervt.
Nach 40 Jahren Beziehungsexperiment sagt die krebskranke Jutta resigniert: „Ich bin genauso eifersüchtig wie vor hundert Jahren. Das ist nie aufzulösen.“ Und Christa Ritter fragt sich: „Hatte hinter diesem Kampf nur irgend etwas Zartes zu wachsen begonnen? Etwas, das mein seelisches Ich sein könnte?“ Langhans kommentiert und analysiert das alles distanziert, wie aus dem Off. So bereiten die Reisenden einander eine Art tiefenpsychologisch fundierter Hölle, wie sie nur sehr reflektierte Menschen hinbekommen können.
Als Leserin fühlte ich mich damit in dem Klischeebild bestätigt, das ich von gealterten 68ern hatte: Dass sie viel zu viel Zeit mit redundantem Herumwühlen im eigenen Ich verbrachten. „Styx“ erschien mir fast wie ein deprimierendes Fazit der Bewegung. Wenn nach so langer Zeit die Eifersucht noch derart ungehemmt wütete, dann sollte man, dachte ich, vielleicht langsam auf den Gedanken kommen, dass das Projekt gescheitert war.
Eine eigenartige Leichtigkeit
Dann aber kam das Treffen mit Christa Ritter, das vom ersten Moment an nicht zu diesem Fazit passte. Ritter hatte mich auf ihren Balkon eingeladen und saß mir im Schatten ihres Sonnenschirms gegenüber, die Knie angezogen wie ein junges Mädchen. Nach „Styx“ hatte ich erwartet, dass eine Frau, die sich ständig mit emotionalen Scheußlichkeiten auseinandersetzte, komplett davon niedergedrückt sein müsste. Wie einer dieser Menschen, die jahrelang zu Psychologen gehen, sich dabei aber immer tiefer in ihren Gefühlen zu verstricken scheinen.
Stattdessen strahlte Christa Ritter eine eigenartige Leichtigkeit aus. Es war ein heißer Tag, sie trug ein lockeres, kamelfarbenes Top und eine Stoffhose im gleichen Ton. Ihr sonnengebräuntes Gesicht war von feinen Linien durchzogen wie eine tönerne Maske, die Sprünge bekommen hatte. Ihre Augen waren sehr blau und sehr wach.
Wir sprachen über ihr Buch, das übrigens ein E-Book ist, über die anderen Frauen, über diesen langen, schwierigen Weg, den sie gingen. „Ich habe mir vorgestellt, dass das alles schneller geht. Ich dachte, ich werde eine freie Frau, wenn ich die Verpflichtungen des bürgerlichen Lebens aufgebe. Ich dachte nicht, dass mein Ego so rumtobt“, sagte sie sachlich. Sie berichtete von den ersten Jahren des „Harems“, der Euphorie des Anfangs, die langsam in ein zähes Feilschen mit Emotionen umkippte. Und zwar fast täglich.
Während sie erzählte, konnte ich kaum fassen, dass man sich vier Jahrzehnte lang derart ausführlich mit den eigenen Gefühlen auseinander setzen konnte. Zwischen Ritter, die heute noch im Geiste der 68er lebt und mir, der knapp vierzig Jahre jüngeren Frau, schien ein Abgrund zu klaffen. Sicher auch eine Generationenfrage: Als sie in meinem Alter war, konnte man noch unbegrenzt und quasi kostenlos an deutschen Universitäten studieren. Heute hätte kein Mensch an einer Uni mehr Zeit für eine Studentenbewegung. Man kann nicht gleichzeitig einen Bachelor in drei Jahren machen und die Gesellschaft radikal infrage stellen. Ritter kommt aus einer Generation, in der Nachdenken wichtig war, ich komme aus einer, in der Effizienz über alles geht.
Herumwühlen in den eigenen Gefühlen ist für mich ein Bonus — das macht man, wenn alles andere erledigt hat. Ritter und ihre Gefährtinnen haben dazu ein völlig anderes Verhältnis. Das ist die andere Seite der 68er: „Statt outside revolution inside evolution“, wie Ritter es in ihrem Buch formuliert.
„Eher eine feige Nuss“
An sich eine gute Idee, aber, fragte ich sie, war es dafür denn wirklich nötig, seinen Mitmenschen seinen innersten Müll vor die Füße zu werfen? Konnte man, wenn es denn sein musste, nicht allein in seinem Wohnzimmer herumbrüllen? „Das nützt auch viel, finde ich. Aber du brauchst jemand anderen, damit du dich selbst siehst. Das ist nicht einfach. Ich bin da auch eher eine feige Nuss“, gab sie zurück.
Frauen, meinte Ritter, hätten mit ihren dunklen Seiten ohnehin mehr Schwierigkeiten als Männer, weil diese Seiten nicht zu ihrem Selbstbild passten. Frauen würden dazu erzogen, sich als das „bessere“, sozialere, nettere Geschlecht zu sehen. Diese Fassade lasse sich aber nur aufrechterhalten, solange man nicht ihren Besitz - mein Mann! mein Kind! - angreife. Sie hoffe zwar, dass die Jüngeren in dieser Beziehung schon weiter seien. „Aber wenn ich Frauen heute ihre Kinderwägen in Schwabing herumschieben sehe …“ Sie guckt zweifelnd.
Ich musste schlucken und fühlte mich ertappt. Mir fielen ein paar Zeilen aus „Styx“ ein: „Ich kenne nur wenige Frauen, die sich trauen, wirklich ins Unbekannte ihrer tiefen Lieblosigkeit hinein zu schauen, ihr Inneres mit all dem Hässlichen zu erforschen und ins Licht zu holen“, schreibt Ritter da. Und dass nur das Dunkle der Frauen noch nicht politisch geworden sei. Es bleibe noch in Therapien privatisiert: „Abtreibung, sexuelle Übergriffe von Müttern, der Hass auf den Mann, auf die Familie, auf sich selbst. Ganz automatisch wird daher öffentlich wie eh und je der Mann als Täter genannt. Die Nachtmeerfahrt gehört aber zum Menschwerden, auch dem der Frauen.“
Als mir diese Sätze einfielen, schien der Abgrund zwischen Ritter und mir auf einmal viel kleiner zu werden. Denn obwohl ich nach wie vor am Konzept seelischer Entwicklung zweifelte, die der Harem verfolgte, musste ich zugeben, dass in diesen Worten viel Wahres steckte. Sicher, man erwartet von Frauen heute eher, dass sie Karrieren machen, als dass sie Mann und Kinder umsorgen. Dennoch kann kaum die Rede davon seien, dass das „Dunkle“ der Frauen in irgendeiner Weise ein gesellschaftliches Thema sei. Warum auch, könnte man einwenden, wenn der größte Teil der Macht weltweit immer noch in den Händen der Männer war, wenn vor allem Männer Gewaltverbrechen begingen und Kriege führten? War das Dunkle der Frauen im Vergleich nicht ziemlich harmlos?
„Styx“ und das Treffen mit Christa Ritter haben mich daran zweifeln lassen. Denn es kommt darauf an, wie man „harmlos“ definiert. Das Hässliche, das im Zusammenprall der Harems-Schwestern hervorbricht, geht nicht in Faustschläge über. Aber Gewalt ist es allemal.
Vielleicht würde es Frauen, auch mir, sehr gut tun, diese Dinge mehr zu sehen, die Nachtmeerfahrt anzutreten. Denn das Erstaunlichste an der Begegnung mit Christa Ritter war für mich, dass sie über 70 Jahre alt ist, aber eine Leichtigkeit ausstrahlt, die mancher 25-jährigen fehlt. Gut möglich, dachte ich hinterher, dass man mit den Jahren nicht immer schwerer werden musste. Vielleicht konnte man auch immer mehr Ballast abwerfen, so dass man dann im Alter leicht war wie ein Kind.
Aufmacherbild: Christa Ritter, Jutta Winkelmann und Brigitte Streubel (von links) probieren das freie Leben am Walchensee 1979 aus. Foto: privat