Wenn ich in der U-Bahn sitze, stelle ich mir manchmal vor, was mein Gegenüber für ein Leben leben könnte: Riecht der Mann so, weil er den ganzen Abend Pommes frittiert hat? Hat die Frau so müde Augen, weil sie seit vier Uhr morgens Büroräume durchwischt? In solchen Momenten fällt mir Herr Opoku aus Ghana wieder ein, der Mann von nebenan, den Henning Sußebach in seiner Reportage „Die Opokus von nebenan“(Zeit 2009) so grandios beschreibt, dass ich das Gefühl habe, ihn zu kennen. „Bis heute gehört Samuel Opoku zum unsichtbaren Servicepersonal der Stadt, gemeinsam mit Tatjana aus der Ukraine, Folly aus Togo und Dionisia aus Venezuela putzt er die Oper, fegt den Orchestergraben, wischt den Ballettsaal, saugt die Samtsessel im Zuschauerraum. Wenn er sich allein wähnt in den Fluren, befeuert er sich mit Kirchenliedern: On the mountain, in the valley, on the land and in the seas - hallelujah, the lord is mine.“ Es passiert eigentlich gar nicht viel in dieser Reportage, aber die Sorgen, die Hoffnungen, die Enttäuschungen der Familie Opoku erzählen so viel. Ich frage mich, was aus ihnen geworden ist.
Eine Hamburger Rentnerin wirft eine Bluse in den Altkleidercontainer, die Bluse reist um die Welt – ich liebe solche Geschichten, die mir im Kleinen etwas ziemlich Großes erklären. Bei „Das Hemd des toten Weißen“ von Alexander Smoltczyk (Spiegel 2006) ist es die Globalisierung am Beispiel einer Kleiderspende aus dem Sammelbehälter 64 in Hamburg-Eppendorf, die am Ende in Arusha, Ghana, landet. Man lernt die Menschen kennen, die den Weg dieses Kleiderhaufens begleiten, den Hamburger Unternehmer, den Vorarbeiter aus Togo, den neapolitanischen Zwischenhändler, den Altkleider-King in Tansania, die Sortiererinnen und die Frau, die schließlich auf dem Markt sitzt und die Rentnerinnen-Bluse für ein paar Dollar verkauft. Ich mag die Genauigkeit dieser Geschichte, die Containernummern, die Kilometerzahlen, die Frachtgebühren. Ich mag auch, dass es genauso gut meine eigene Bluse hätte sein können.
Wieviel Zeit braucht man für eine Recherche? Eine Woche, einen Monat, ein Jahr? Manchmal ist es schwer, den richtigen Moment zu finden, um mit dem Beobachten aufzuhören und mit dem Schreiben anzufangen. Adrian Nicole LeBlanc hat für „Random Family“ (Scribner 2004) mehr als zehn Jahre lang gewartet, das macht diesen Text so außergewöhnlich. Zehn Jahre lang begleitete sie ihre Protagonisten durch das Leben in der Bronx - Jessica, Cesar und Lourdes. Es wurde ein Buch daraus, in dem es um Jugend geht, um Drogen, Armut, Liebe und Abgrund, nüchtern und beiläufig erzählt, als wäre die Brutalität dieses Alltags das normalste der Welt. Die Figuren kommen einem so nah, man hat das Gefühl, sie aufwachsen zu sehen, man hofft mit ihnen, leidet mit ihnen, vergisst sie nicht mehr, so ging es mir. An dieser Reportage kann man sehen, dass sich die Langzeitbeobachtung unbedingt lohnt, auch wenn es unglaublich harte Arbeit sein muss. (Eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel „Zufallsfamilie“ im Hanser Verlag erschienen; eine Leseprobe gibt es hier.)
Dialika Neufeld, geboren 1982 in Eckernförde, studierte Modejournalismus und schrieb für das „Hamburger Abendblatt“, bevor sie die Henri-Nannen-Schule besuchte. Seitdem ist sie Redakteurin beim „Spiegel“, im Ressort Gesellschaft.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer