Die meisten Reportagen, die ich lese, langweilen mich. Sie langweilen mich formal, weil es in diesen Texten keine eigene Sprache gibt, nur Versatzstücke. Weil aus jedem ihrer Sätze die Angst spricht, bloß keinen Leser zu verlieren. Sie langweilen mich inhaltlich, weil sie festen Schablonen folgen und nichts wagen. Weil der Reporter in ihnen nichts erlebt, nur Leute erzählen lässt, die etwas erlebt haben. Er sieht nichts, sondern beschreibt, was andere gesehen haben. Er hört nichts, sondern erzählt, was andere gehört haben. Die meisten Texte, die ich lese, die sich Reportage nennen, besitzen nur Spurenelemente von Handlung. Der Kosten- und Zeitdruck, unter denen Schreiber heute arbeiten, hat die Reportage mittlerweile aus den meisten Reportagen gestrichen. Für mich immer noch die größte Faszination dieses vielstrapazierten Genres: der Reporter öffnet sich der Welt. Er/Sie geht hinaus und schaut hin. Im besten Fall die größte sinnliche Erfahrung, die Journalismus bieten kann.
Selten gelingt eine Reportage hastig. Gute Reportagen brauchen Zeit. Rainer Joedecke hat 66 Tage auf der „Unterkellermühle“ in der Oberpfalz verbracht. Geschichten über Bauernhöfe gehören nicht in die Top 3 meiner Leidenschaften. Doch „Die Einöde“ (GEO 1977) ist so knorrig und schroff, so wenig liebedienerisch, dass er mich hineinzieht. Joedecke ist seinen Helden ganz nah, passt sich in seinem Erzählrhythmus dem Sperrigen ihres Dialektes an, verliert aber dabei nicht die Distanz. Sein Schauplatz: die Küche eines Bauernhofes, seine Helden: ein Bauernehepaar und ihr erwachsener Sohn. Satz für Satz lasse ich mich von Joedecke einweben in diese kleine Welt. Ich möchte gar nicht mehr aufhören zu lesen von Ottilie und ihrer Familie, ihren Alltag aus Kartoffelsortieren und Entenzaunflicken, der so banal zu sein scheint und mich so häufig zum Staunen bringt. Dieser Text bringt mich dazu, mich über mich selbst zu wundern.
Ein Tabubruch. In „Blödes Kind“ (Das Magazin 2000) erzählt Antje Potthoff von einer Mutter und ihrer behinderten Tochter. Klingt nach Reportage, wie sie jedes Jahr zu Dutzenden produziert werden. Beim Schreiben über Behinderte enden viele Autoren in der Gutmenschen-Falle. Behinderte in Reportagen sind fast immer nett. PR im Dienste der scheinbar Schwachen. Aber Potthoff beschreibt die Abgründe dieser Beziehung. Der Hass zwischen beiden. Die Scham der Mutter. Die Aggression der Tochter. „Meine Mutter ist eine Schlampe“, sagt die Tochter. Ein fast unerträglicher, weil so ehrlicher Text, den ich vor 15 Jahren gelesen habe und nie vergessen werde.
Ein ganz Großer aus einem kleinen Land. Über 30 Jahre lang hat der Däne Jan Stage aus der Welt im Umbruch berichtet, bevor er 2003 starb. In „Lumumba, vermute ich“ (Lette International 1997) reist er durch die Überreste des zerfallenden Zaires, nicht als allwissender abgebrühter Kriegsreporter, sondern staunend, tastend. Nur weniges von ihm ist ins Deutsche übersetzt worden, dabei können wir so viel von Jan Stage lernen. Wagemut und Demut zugleich. (Der Text ist online nicht verfügbar, allerdings auch in der Reportagensammlung „Niemandsländer“ erschienen)
Wolfgang Bauer, 1970 in Hamburg geboren, ist ressortunabhängiger Reporter bei der „Zeit“, er berichtet vor allem aus Krisengebieten, unter anderem aus Syrien, Libyen oder dem Irak. Bauer studierte Islamistik in Tübingen, bevor er seine journalistische Karriere beim „Schwäbischen Tagblatt“ begann, später schrieb er für den „Stern“, den „Focus“ oder die „Geo“; seit 2011 ist er Autor bei der „Zeit“. Bauer gewann zahlreiche Preise, unter anderem den Hansel-Mieth-Preis.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer