Von Ende April bis Anfang Mai dieses Jahres habe ich ein amerikanisches Filmteam als Kameramann in Dachau begleitet. Wir machten einen Dokumentarfilm über Shari Unger-Klages aus Miami, Florida. Ihr Vater, Arnold Unger, hat als Teenager Dachau überlebt. Im Gepäck hatte Shari ein besonderes Album, das sie im Nachlass ihres Vaters gefunden hatte. Darin sind einzigartige, detaillierte Zeichnungen und Fotos über das Leben und Sterben in Dachau zu sehen. Ein Mitgefangener hat das Album offensichtlich als Erinnerungsstück für Arnold Unger angefertigt, der mit 15 Jahren aus dem KZ befreit wurde. Fast 70 Jahre später hielt die Leitung der Gedenkstätte dieses seltsam-grausige Geschenk zum ersten Mal in den Händen.
2017 sollen die Bilder in einer großen Ausstellung der breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden. Wir zeigen vorab einige der mehr als 30 Zeichnungen und 250 Bilder. Shari Unger-Klages erklärt darüber hinaus in einem Video-Interview ihre Beziehung zu dem Album und wie sie mit den Folgen des Holocaust in ihrem Leben umgeht. Sie spricht auch über die Leidensgeschichte ihres Vaters.
Die Geschichte des Albums und seines Besitzers
Der Ex-Gefangene, der das Album angefertigt hat, war wahrscheinlich professioneller Buchbinder. Er hat Material aus dem Lager verwendet: Der Einband besteht vermutlich aus dem Leder eines SS-Mantels. Über der Gefangenennummer und dem „P“, das für „politischer Gefangener“ steht, ist schwach die Eintragung „Dachau“ zu erkennen. Unten rechts befindet sich der Stoff-Streifen einer Gefangenenuniform. Die Tasche, in der das Album steckte, als Shari Unger-Klages es fand, war eine Standardausführung für amerikanische Soldaten. Der Buchbinder hat das Album in der Größe genau daran angepasst.
Das Emblem auf dem Stoffstreifen ist noch ein Rätsel, zu dessen Lösung wir auch die Krautreporter-Mitglieder aufrufen. Bitte einloggen und rechts auf das Autoren-Icon klicken.
Arnold Unger lebte mit seinen Eltern nahe Krakau, wurde dann aber als Neunjähriger zu seinen Großeltern aufs Land geschickt. Kurz darauf wurden seine Eltern und seine sechs Jahre alte Schwester umgebracht. Der kleine Arnold konnte sich ein Jahr lang verstecken, bevor er mit zehn Jahren gefasst und ins Krakauer Ghetto gesperrt wurde.
Die erste Rettung: Jemand änderte heimlich Arnolds Papiere
Die Jahre nach 1942 führten ihn durch die Konzentrationslager Plaszow bei Krakau, Natzweiler im Elsass, Neckarelz und Asbach bis nach Dachau. Irgendwann zwischen Natzweiler und Dachau wurden seine Papiere von „Jude“ zu „politischer Gefangener“ geändert. Das rettete ihn vor dem sicheren Tod. Trotzdem musste der Junge in Dachau furchtbare Dinge durchstehen.
Die Gleise des Gefangenenzuges endeten direkt vor dem berühmt- berüchtigten KZ-Tor mit der sadistisch-ironischen Aufschrift „Arbeit macht frei“. Die Insassen wurden mit Stockschlägen zum Appell auf dem Vorplatz getrieben. Wer aus der Reihe fiel, wurde in das Gebäude vor dem Appellplatz gebracht und gefoltert. Dabei wurden die Fenster offengelassen, damit alle Gefangenen die Schreie hörten. Auch im Winter mussten die Gefangenen oft stundenlang nackt oder in den dünnen Sträflingsuniformen in Schnee und Regen auf dem Appellplatz ausharren. Viele überlebten nicht einmal die Ankunft in Dachau.
Dachau und seine Außenstellen war hauptsächlich ein Arbeitslager, unter anderem für die nahegelegenen Fabriken von BMW, wo Flugzeugmotoren hergestellt wurden, und zur Errichtung unterirdischer Rüstungsanlagen. Es wurden aber auch Gemüse angebaut und Angora-Kaninchen gezüchtet, mit deren Fell die Jacken der Luftwaffen-Piloten gefüttert wurden. Die Gefangenen erhielten eine Diät von nur 600 Kalorien. Bei den brutalen Bedingungen überlebten viele davon nur wenige Wochen. Typhus, der u.a. von Läusen, verunreinigten Nahrungsmittel und durch verschmutztes Wasser übertragen wurde, tötete ebenfalls viele. Insgesamt wurden mindestens 32.000 Tote in Dachau dokumentiert, die Dunkelziffer liegt weit höher. Schon der kleinste Missgriff bei der Arbeit oder wenn eine Maschine in der Fabrik versagte, bedeutete Folter oder Tod.
Eine besonders grausame Art der Folter war das Schlagen über einem Tisch. Dabei wurde oft ein Ochsenziemer verwendet, der sich bei den harten Schlägen um den gesamten Torso wand. Überlebende berichten, dass die Beine manchmal mit Lederriemen an den Tisch gebunden wurden oder weitere KZ-Wärter den Gefangenen die Füße festhielten. Wer so geschlagen wurde, musste am nächsten Tag wieder zum Arbeitsdienst antreten, oder er wurde gehängt.
Arnolds erster Job in Dachau war es, die Erhängten abzuhängen und in die Krematoriumsöfen zu schieben. Die Gefangenen, unter ihnen viele polnische und niederländische Widerstandskämpfer und katholische Geistliche, Sinti und Roma, mussten selbst zu ihrer Hinrichtung laufen.
Die Flucht aus dem KZ war fast unmöglich. Rund um das Lager verlief ein Grasstreifen. Wer ihn betrat, wurde sofort erschossen. Hinter dem Grasstreifen war ein Elektrozaun unter tödlicher Spannung, davor ein Betongraben, dahinter ein Bach.
Bei diesem Bild handelt es sich wahrscheinlich um einen Selbstmordversuch. In ihrer Verzweiflung versuchten die Gefangenen, sich in den Elektrozaun zu werfen, aber selbst den Freitod erlaubten ihnen die KZ-Wachen nicht. Sie machten sich einen Sport daraus, Schießübungen auf Gefangene zu machen, die zu nah an den Grasstreifen kamen.
Die zweite Rettung: Ankunft der Amerikaner
Als die ersten US-Soldaten der 42. US-Infanteriedivision (Rainbow Division) im Morgengrauen des 29. April 1945 das Lager Dachau erreichten, bot sich ihnen ein furchtbares Bild. Schon auf dem Weg ins Lager hatten sie viele Waggons mit Leichen entdeckt. Über der ganzen Gegend lag der süßlich-faule Geruch der Verwesung.
32.000 Häftlinge, mehr tot als lebendig, empfingen die GIs in Dachau. Leichen lagen im ganzen Lager verstreut. Den GIs der Rainbow Division blieben nur wenige Stunden, bevor sie weitermarschierten. Ihnen folgte eine Panzerdivision, die 20th Armored Division.
Die „Liberators“, also die Befreier, die wir in Dachau zu den Feierlichkeiten des 70. Jahrestag antrafen, berichteten uns, dass sie zuerst versucht hatten, die halb-verhungerten Menschen mit ihren Notrationen zu füttern. Doch die ausgemergelten Menschen vertrugen keine feste Nahrung und starben vor ihren Augen. Schnell wurde medizinisch geschultes Personal gebracht, das die Überlebenden gesund pflegte.
Wir fragten einen der heute über 90 Jahre alten „Liberators“, was sie mit den gefangenen KZ-Wächtern der Nazis in Dachau machten. Seine Antwort: „We didn’t make many prisoners“ - „Wir haben nicht viele Gefangenen gemacht.“ Viele der Wachen versuchten, sich unter den KZ-Gefangenen zu verstecken oder in den umliegenden Wäldern. Sie wurden von den US-Soldaten an die Wand gestellt und mit einem Maschinengewehr erschossen (Dachau-Massaker) oder von ehemaligen Gefangenen aufgespürt und oft auf der Stelle erschlagen. Noch im gleichen Jahr fanden die ersten Prozesse in Dachau statt, in denen die überlebenden Wachen verurteilt wurden.
Nach der Befreiung arbeitete Arnold Unger ein Jahr lang als Office Boy für die Amerikaner in Dachau, bevor er zu einem überlebenden Onkel nach New Jersey geschickt wurde. Er machte seinen Highschool-Abschluss, studierte und wurde Ingenieur. Später entwickelte er sogar das Fahrgestell einer Mondsonde mit.
1972, im Alter von 42 Jahren, beging Arnold Unger Selbstmord durch Erhängen. Er hinterließ vier Kinder und eine krebskranke Frau.
Warum er das Album bekommen hat und was er darüber gedacht hat - darüber weiß auch seine Tochter nichts. Sie kann es nur vermuten.
Interview mit Shari Unger-Klages, Tochter des KZ-Dachau-Überlebenden Arnold Unger
[Video nicht mehr verügbar]
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