„Eine Demokratie ist kein Ort, sie lässt sich nicht bereisen wie eine Insel in den Tropen, sie ist nicht statisch“, schreibt Carolin Emcke im ersten Teil ihrer „Expeditionen“, die ihm Wahljahr 2013 in unregelmäßigen Abständen im ZEIT-Magazin erschienen sind. Sie besucht den Bundestag, läuft die Ministerien ab und besieht sich, wie Angela Merkel in ihren Reden das handelnde politische Subjekt zum Verschwinden bringt. Emcke ist dabei ebenso neugierig wie skeptisch, ebenso klug wie überfragt angesichts der „Mikrophysik der Macht“, doch zwischen all den Leerstellen und abstrakten Institutionen entdeckt sie eine Insel, auf der die Demokratie liegen könnte: „Die Möglichkeitsform aber ist das, was nicht gesichert ist, was einen hoffen und träumen lässt. Das Denken ins Offene hinein ist das, was jede demokratische Gesellschaft, was Europa, gerade jetzt, brauchte.“
In „A very rare book“ von Nicholas Schmidle (The New Yorker 2013) scheint der Grat zwischen Fiktion und Realität, zwischen Hochstapelei und Kunst, Genie und Gleichgültigkeit, zwischen Galileo Galilei und einem Konsortium an Kunstfälschern schmaler zu werden, je weiter man liest. Ein Labyrinth aus Lügen, in dessen Innerstem ein wenig Salzsäure verschüttet ist, oberste Ingredienz für die gewünschte Zeitreise: „Zwanzig Minuten sind wie vierhundert Jahre.“ Doch all das ist wahr: Da gibt es einen Mann, der ohne rechte Befugnis einer der großartigsten Bibliotheken Neapels vorsitzt, da gibt es ein Werk von Galileo Galilei, das es nicht geben dürfte, da gibt es die Kunstwelt, die auf den ganzen Schwindel hereinfällt und die Neuzeit noch einmal neu überdenkt. Was der Bibliothekar aus Umberto Ecos „Der Namen der Rose“ ad absurdum führte, wird hier noch einmal auf die Schippe genommen.
William T. Vollmann reist als blinder Passagier auf Güterzügen durch die Vereinigten Staaten und trifft dort auf Hobos, an den Bahntrassen campierende Obdachlose. In dem, was den „Bürgerlichen“ als gebrochene Biografien, gebrochene Psychen, gebrochene Körper erscheint, findet Vollmann in „Hobo Blues“ (Suhrkamp 2009) ein bestechendes Bild Amerikas. Eine Reportage über Freiheit, räudig, sehnsuchtsvoll, gierig, anarchisch und verzweifelt, geschrieben mit einer Dringlichkeit, die aufs Ganze geht. (Der Suhrkamp-Verlag war so freundlich, uns hier eine Leseprobe zur Verfügung zu stellen.)
Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, ist Schriftstellerin. Sie lebt in Berlin und Rom und schreibt Gedichte und Romane. 2006 erschien ihr Debüt „Gegend“. Seitdem folgten weitere Gedichtbände und Romane; im August erscheint ihr neuer Roman 36,9°. Nora Bossong wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, darunter der Peter-Huchel-Preis und der Kunstpreis der Akademie der Künste Berlin.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer