Fernsehfernweh: Im Rettungsboot zum Zeitvertreib
Leben und Lieben

Fernsehfernweh: Im Rettungsboot zum Zeitvertreib

Auf der Suche nach dem nächsten Erfolg guckt sich das deutsche Fernsehen seine Sendungen regelmäßig im Ausland ab. Ein Blick in unsere Fernsehzukunft - in dieser Folge unter anderem mit dem Ministerium für Zeitreisen, einer Stolper-Olympiade und Blut-Snacks.

Profilbild von Peer Schader

„The Raft“, National Geographic, USA

Sonntagabends, wenn im deutschen Fernsehen bei „Günther Jauch“ überraschend Schweigeminuten eingelegt werden, simuliert National Geographic im amerikanischen Fernsehen Bootsunfälle auf dem offenen Meer. Zwei einander unbekannte Kandidaten werden in den Atlantik geschmissen, müssen schwimmend Ausrüstungstrümmer einsammeln und sich in ein Schlauchboot retten, mit dem sie anschließend eine Woche auf sich gestellt Richtung Festland treiben. Drei am Boot angebrachte Kameras sorgen dafür, dass die Zuschauer ihnen beim Dehydrieren, Angelhakenbasteln und Hungerphilosophieren zusehen können („Das ist kein sehr gutes Gefühl, auch psychologisch nicht“). Laut Sender soll das ein „unbarmherziger Test“ menschlicher Überlebensfähigkeit sein. Vor allem ist „The Raft“ aber permanenter Hai-Alarm. Jeder noch so kleine Angelversuch kommt automatisch einer Raubfischeinladung gleich, und für manche Teilnehmer hat die Bedienung der Handkamera auch dann noch Prioriät, wenn sie von außen bereits als Mittagessen identifiziert wurden.

Davon, dass im Mittelmeer zur gleichen Zeit Boote absaufen, auf denen niemand einfach das um die Ecke geankerte „Mutterschiff“ rufen kann, wenn es brenzlig wird, haben die Macher vermutlich noch nicht mitgekriegt. Aber wahrscheinlich funktioniert das mit der Zivilisation einfach so: Die eine Hälfte ist derart verzweifelt, dass sie für die Flucht in eine bessere Zukunft das eigene Ertrinken riskiert; und die andere, die in dieser Zukunft schon lebt, ist so satt davon, dass sie im Fernsehen zum Zeitvertreib zumindest so tun möchte.

https://www.youtube.com/watch?v=RG5Amic_Ux4


„El Ministerio del Tiempo“, TVE, Spanien

Es war ja nicht alles schlecht im Mittelalter. Die Schubkarre ist damals erfunden worden! Der Kompass! Und wo wären unsere Folterwerkzeug ausstellenden Museen heute, wenn damals nicht die Grundlage ihrer Exponatensammlung gelegt worden wäre? Schenkt man dem spanischen Sender TVE Glauben, hat die im Ranking der beliebtesten Epochen nur selten ganz oben stehende Zeitperiode eine weitere Nützlichkeit hervorgebracht. Nämlich das Ministerium für Zeitreisen: eine behördliche Einrichtung, die seit Jahrhunderten dafür sorgt, dass wir da bleiben, wo wir hingehören. Zeitlich gesehen.

Sonst könnte ja jeder kommen und Schwarzenegger-mäßig das Jahrhundert aufräumen, das ihm gerade nicht in den Kram passt. Dass diese Aufpassarbeit von einem spanischen Soldaten aus dem 16. Jahrhundert, einer Studentin zur Kolonialzeit und einem medizinischen Assistenten aus dem Jahr 2015 erledigt werden soll, lässt zumindest berechtigte Zweifel an der Personalpolitik des „Ministerio del Tiempo“ aufkommen, wie die spanische Serie heißt. Aber es ist ja auch so schwer, heutzutage Fachkr… – Pardon: ordentlich ausgebildete Angestellte zu kriegen. Vor allem, wenn der Job verlangt, dass man sich morgens von der Familie mit den Worten verabschiedet: „Ich bin dann zum Abendessen zurück. Kann nur noch nicht sagen, in welchem Jahr.“

https://www.youtube.com/watch?v=Ok6Sa9is54M


„Wild Things“, Sky 1, Großbritannien

Sollte Ihr nächstes Waldpicknick durch eine in die Luft katapultierte Rieseneule gestört werden, ist das kein Grund zur Beunruhigung: Es handelt sich um den Teilnehmer einer britischen Gameshow, der im Sumpfspiel auf die falsche Seerose getreten ist. Wenn es um 10.000 Britische Pfund Preisgeld geht, muss so etwas augenblicklich bestraft werden. Wem die Würmer und Maden im RTL-Dschungel schon immer zu eklig waren, der könnte Gefallen an „Wild Things“ finden. Denn im Waldfernsehen von Sky 1 sagen sich deutlich plüschigere Zeitgenossen wie Hase, Ente und Fuchs gute Nacht. Allerdings, weil sie sich vorher mit dem Holzknüppel gegenseitig eine überzogen haben. Die Herausforderung der Show besteht darin, in Waldtierkostümen blind Hindernisparcours mit schwingenden Riesenhaselnüssen sowie Quatschspiele zu bewältigen. Nur der am Rand stehende Teampartner darf Richtungsanweisungen geben, vor Hindernissen warnen oder alternativ einfach brüllen: „Renn so schnell, wie du kannst!“

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Es ist ein großes Festival des Stolperns, Fallens und Gegen-Bäume-Rennens, bei dem sich die Kandidaten auch noch die Gemeinheiten des Kommentators gefallen lassen müssen, der den Spaß an den Glitsch-Glibber-Rutsch-Herausforderungen mit Süffisanz noch zu steigern vermag. Wie sich Dachs und Maulwurf beim Schweinefutter-Wurftransfer auf Drehschreiben gegenseitig einsauen (und „Livin’ on a Prayer“ in der Blaskapellenversion dazu läuft), kriegt man ja auch nicht alle Tage geboten. Am Ende nehmen’s trotzdem alle mit Humor. Außer vielleicht der Euleeeeeeeeeee.

https://www.youtube.com/watch?v=21Ot--OHdLs


„Eat to live forever“, BBC 2, Großbritannien

Weil BBC-Reporter Giles Coren gerne länger leben würde als sein viel zu früh verstorbener Vater, hat er für die Reportage „Eat to live forever“ mal genauer darauf geachtet, was andere futtern, um fit zu bleiben – um sich ein Beispiel zu nehmen. Ausschließlich Früchte, wie die Scientology-haft grinsenden Frutarier, die Giles am Strand getroffen hat? Öfter mal ein Häppchen rohe Ziege, wie sie Paläo-Fan Derek aus Kentucky in seinem Garten schlachtet, um sie nach einem Blut-Snack von vorne bis hinten einzutuppern („Augen mach ich zum Abendessen!“)? Vielleicht lieber nicht die Delikatessen, auf die das knitterige Ehepaar aus dem Wald schwört, das zum Kaloriensparen imaginierte Blaubeeren und Walnüsse zum Frühstück – nun ja: „verzehrt“. Das mag zwar lebensverlängernd sein, aber halt auch genussverkürzend. Das perfekte Rezept, um 150 zu werden, hat Giles am Ende auch nicht raus. Aber immerhin zahlreiche Bildbelege dafür, dass Leute, die besonders aufdringlich mit ihrer Gesundheit prahlen, immer am ungesündesten aussehen.

https://www.youtube.com/watch?v=Jz7x9SzqNWo


„Point of You“, noch ohne Sender, Israel

Über zwanzig Jahre ist es her, dass MTV in den USA einen Haufen junger Leute in eine WG steckte, mit der Kamera filmte und das unter dem Titel „The Real World“ ausstrahlte. Inzwischen gehört die Reihe zu den langlaufendsten Reality-Shows der Welt, und regelmäßig versucht jemand, sie neu zu erfinden. Aus Israel stammt die Variante „Point of You“, in der uns drei Leute über drei Monate einen Einblick in ihr Leben gewähren, vom morgendlichen Aufstehen über den Zoff mit dem Partner bis zur Party mit Freunden. Dabei filmen sich die Protagonisten selbst per HD-Brillenkamera, das hält die Personalkosten schön niedrig. (Es muss bloß jemand die besoffene Regisseurin davon abhalten, nachts in die Bude zu latschen und mehr Action einzufordern.) Nur der Blick in den Spiegel ist tabu. Erst am Ende der Staffel sollen die Zuschauer erfahren, wie die Person aussieht, an deren Leben sie zuvor teilgenommen haben.

Dabei braucht natürlich kein Mensch mehr das Fernsehen, um andere mit seinem Alltag zu langweilen. Sie hätten mir zum Beispiel gerade per Meerkat dabei zusehen können, wie ich diese Kolumne schreibe. Aber gleich mach ich noch Mittagspause drüben beim Vietnamesen, da wollen Sie sicher dabei sein. Hallo? Sind Sie noch da?

https://vimeo.com/123611255


Bislang erschienen:
Fernsehfernweh (1): Das hätte Goethe nicht gewollt
Fernsehfernweh (2): Im Rettungsboot zum Zeitvertreib (dieser Beitrag)

Illustration:Veronika Neubauer