Den Leser abholen soll ein Text, dieser zerrt ihn fort. Man kann schnell nicht mehr, spätestens, wenn es in den Sinai geht, möchte man die Füße in die Erde stemmen und um Einhalt bitten, sagen, dass es jetzt genug sei. Und weiß zugleich, dass man nicht aufgeben darf, denn der Autor hat unsere Sünden auf sich geladen: Hat angesehen, was wir nicht ansehen wollen, in den Abgrund geblickt, obwohl er davor nicht weniger Angst gehabt haben dürfte als wir. Es ist komisch, in dieser Erbarmungslosigkeit des Zeugen mit sich selbst beinhaltet „Im Reich des Todes“ von Michael Obert (SZ-Magazin 2014) so etwas wie sein Gegengift. Das Böse im Sinai ist gewaltig. Dass es durch Obert nicht in der Verborgenheit bleiben durfte, sondern bei seinem Namen genannt wird, ist ein kleiner Trost. Ich finde die Recherche unglaublich, die schnörkellose Sprache absolut richtig, diese Reportage ist unangreifbar.
Den Text habe ich noch nicht einmal zu Ende gelesen, muss man glaube ich auch nicht. Dass „Borderline“ von Tom Kummer (Reportagen 2013) viel zu lang ist, ist nur konsequent, weil er einfach alles mitnimmt, was bei Reportagen kaputt gehen kann, auch dieses unendlich Verlaberte, das die haben können. Die Bilder in dem Text sind so schmerzlich schief, keines wird je zu Ende gedacht. Dann das abgedroschene Thema: Geklagt sei’s, der Grenzzaun, oh the humanity! Das lächerlich Pompöse, mit dem wir immer wieder hantieren, um die Story aufzublasen; die humorlose Eitelkeit, mit der wir alle immer wieder arbeiten; und die Moralkeule, mit der wir auf die Wirklichkeit eindreschen, dass Tränen rausfließen mögen und man sich mal wieder so richtig schön empören kann: Das wird alles ziemlich gemein erwischt.
Manchmal hat man Glück und einen Protagonisten, den man einfach nur von der Leine lassen muss. Reinhard Bingener und Timo Frasch haben Ernst Hinsken entdeckt und begriffen: das ist „Der beste Abgeordnete der Welt“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2013) . Wie wurde er zu dem, der er ist? Gewiss, er wuchs auf in Deutschland, das erklärt schon vieles. Dennoch: Fiel er auf den Kopf als Kind? An welcher Stelle geriet er in jene Umnachtung, die ihn groß machte? Im Text finden wir darauf keine Antwort, es wird kaum rausgezoomt, dazu fehlt die Zeit, dazu ist der Bayerische Wald zu sehr Spitzenregion, dazu hat Ernst Hinsken (70 Jahre, 6 Bypässe, 47 Ehejahre, 2 Kinder) zu viel vorzuweisen. Ich weiß nicht, ob der Text als Porträt geglückt ist. Man versteht Hinsken nach dem Lesen nicht und weiß wenig über seinen Werdegang. Aber man kennt ihn.
Alard von Kittlitz, 1982 in Jakarta geboren, ist Autor bei der „Neon“. Er studierte Philosophie, Geschichte und Management in Cambridge, Paris und Berlin, bevor er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung volontierte und dann als Redakteur im Politikteil arbeitete. Er wurde mit dem Axel-Springer-Preis und dem Meridian-Preis für Reisejournalismus ausgezeichnet.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer