Für viele Menschen ist das Kamasutra vor allem ein klingender Markenname. Sie denken dabei an Duftöle, Kondommarken oder Pralinen, die in Form erotischer Stellungen daherkommen. In Indien dagegen, wo Sexualität noch immer tabuisiert ist, tut man das jahrtausendealte Werk häufig einfach als „ schmutziges Buch“ ab.
Diese Sichtweise greift allerdings zu kurz. Denn im Kamasutra verbirgt sich eine weitaus tiefere Botschaft: Es ist im Kern ein Plädoyer für sexuelle Autonomie – ein Ansatz, der für Frauen wirklich revolutionär sein könnte.
In der indischen Gesellschaft ist die sexuelle Lust der Frauen oft unsichtbar, unter Schweigen begraben. Frauen wird oft beigebracht, ihr Verlangen zu unterdrücken. Es gehört zur Tradition, männlichen Bedürfnissen Vorrang zu geben. Da überrascht es doch sehr, dass gerade in diesem Land das Kamasutra geschrieben wurde.
Verfasst im 3. Jahrhundert in der altindischen Sprache Sanskrit von dem Philosophen Vatsyayana, ist das Kamasutra weit mehr als ein Handbuch für sexuelle Stellungen. Das Wort Kama bedeutet Liebe, Sex, Begierde und Lust; Sutra bedeutet so viel wie Abhandlung oder Lehrtext. Der Text beschäftigt sich mit Beziehungen, ethischen Fragen und sozialen Normen. Er bietet einen Rahmen für gegenseitigen Respekt und Verständnis zwischen den Partner:innen.
Vatsyayana habe die weibliche Lust verteidigt, schreibt die Kultur- und Religionswissenschaftlerin Wendy Doniger in ihrem 2016 erschienenen Buch „Redeeming the Kamasutra“. Er habe das Recht der Frau auf Bildung, Freiheit und das Ausdrücken eigener Wünsche betont. Das Kamasutra sei daher keineswegs ein Text, der männliche Dominanz festigt – im Gegenteil: Ursprünglich stellte es die Bedeutung von gegenseitiger Lust und gemeinsameer Zustimmung in den Mittelpunkt. Sex wird hier nicht als männliche Eroberung, sondern als geteilte Erfahrung verstanden.
Der Übersetzer ließ Passagen einfach weg
Die Wahrnehmung des Kamasutras als männerzentriertes Sexhandbuch lässt sich auf die erste englische Übersetzung von Sir Richard Burton aus dem Jahr 1883 zurückführen. Der britische Soldat und Entdecker ließ Passagen weg oder veränderte jene, die die Autonomie der Frau betonten. So wurde aus der aktiven, selbstbestimmten Partnerin eine passive Empfängerin männlicher Lust.
Richard Francis Burton im Jahr 1864. Quelle: Rischgitz/Stringer/Wikimedia
Wissenschaftlerinnen wie Ganesh Saili weisen heute darauf hin, dass Frauen im ursprünglichen Kamasutra nicht als passive Figuren, sondern als gleichberechtigte Partnerinnen dargestellt wurden. Sie äußerten ihre Wünsche mit Worten, Gesten oder durch ihr Verhalten. Und ihr Vergnügen zählte genauso viel wie das der Männer. Gespräche waren zentral, und nichts passierte ohne ihre Zustimmung.
Trotz dieser kulturellen Tiefe wird in der indischen Gesellschaft noch immer kaum offen über weibliche Sexualität gesprochen. Die Lust von Frauen sei nach wie vor ein Tabuthema, meint die Sexualpädagogin und Journalistin Leeza Mangaldas. Kulturelle Erwartungen schreiben Frauen vor, sie sollten vor der Ehe still, gehorsam und sexuell unauffällig bleiben.
Diese Form der Unterdrückung beginnt schon im Elternhaus, ist die Sozialwissenschaftlerin Deepa Narayan überzeugt. Mädchen würden oft dazu erzogen, ihren eigenen Körper zu ignorieren. Und stattdessen die Wünsche von Jungen oder Männern an erste Stelle zu setzen.
Frauen „geben“ Sex, anstatt ihn selbst zu erleben
Diese Form der Kontrolle zeigt sich auch in patriarchalen Normen, die Jungfräulichkeit als weibliche Tugend hochhalten, während von Männern nichts dergleichen erwartet wird. In diesem Weltbild „geben“ Frauen Sex, anstatt ihn selbst zu erleben. Lust gilt als männliches Recht; bei Frauen bleibt sie bloß ein Nebengedanke. Sex soll für sie vor allem dazu dienen, Kinder zu bekommen.
Doch das Kamasutra selbst erzählt eine andere Geschichte. In seiner ursprünglichen Form zeigt es Frauen als aktive, selbstbestimmte Liebhaberinnen. Es vergleicht ihre Sinnlichkeit mit der Zartheit von Blumen. Als etwas, das Aufmerksamkeit, Pflege und Respekt verdient.
Das Titelblatt der 1883 veröffentlichten Übersetzung des Kamasutra von Richard Burton. Quelle: Sarah Welch/Wikimedia
Meine eigene Forschung beschäftigt sich mit dem „Kamasutra-Feminismus“. Das ist die Vorstellung, dass es in diesem alten Text nicht nur um Sex geht, sondern um sexuelle Autonomie. Das Kamasutra stellt patriarchale Normen infrage, indem es Frauen ermutigt, ihre Wünsche zu benennen und die Kontrolle über ihre eigene Lust zu übernehmen. Es lehnt die Vorstellung ab, dass weibliche Sexualität reguliert oder unterdrückt werden sollte. Stattdessen plädiert es für gegenseitige Lust und freiwillige Zustimmung.
Wendy Doniger bezeichnet das Kamasutra als feministischen Text. Sie hebt hervor, dass Frauen darin ihre Partner selbst wählen, ihre Wünsche frei äußern und lustvolle Sexualität aktiv gestalten können. Auch wirtschaftliche Unabhängigkeit spielt im Kamasutra eine wichtige Rolle, denn wer finanziell frei ist, kann selbst über das eigene Leben entscheiden.
Weibliche Lust ist ein Recht
Am Ende steht das Kamasutra für einen grundlegenden Widerspruch: Auf der einen Seite das Patriarchat, das weibliche Sexualität kontrollieren will – auf der anderen eine Vision von sexueller Freiheit. Es erzählt eine alternative Geschichte, in der Verführung nicht mit männlicher Dominanz zu tun hat, sondern mit gegenseitigem Vergnügen. Seine Lehren ermutigen dazu, offen über Intimität zu sprechen und geben Frauen die Möglichkeit, ihre Stimme in Beziehungen zurückzugewinnen.
Eine originale Kamasutra-Manuskriptseite, aufbewahrt im Raghunath-Tempel in Katra, Nord-Indien. Quelle: Sarah Welch/Wikimedia
Mehr als 100 Jahre lang wurde das Kamasutra missverstanden. Seine radikale Botschaft verschwand unter Schichten aus Zensur, Scham und kulturellem Schweigen. Doch wer über die erotische Fassade hinausblickt, findet einen Text, der von Zustimmung, Gleichberechtigung und weiblicher Selbstbestimmung spricht.
Wenn wir das Kamasutra als Leitfaden für sexuelles Empowerment neu lesen, können wir alte Tabus aufbrechen und die Diskussion über weibliche Lust neu denken. In einer Welt, in der das Begehren von Frauen noch immer unterdrückt wird, erinnert uns dieses alte Manuskript daran: Lust ist kein Luxus. Sie ist ein Recht.
Sharha promoviert in Kamasutra Feminism an der Cardiff Metropolitan University in Großbritannien.
Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch bei The Conversation erschienen. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen.
Übersetzung und Redaktion: Ella Strübbe und Theresa Bäuerlein, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger
