Collage: Links ein Kreuz, rechts zwei sich küssende Männer.

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Leben und Lieben

Für Christine ist Schwulsein eine Sünde – dann outet sich ihr Sohn

Ihre erste Reaktion: Sie rastet aus.

Profilbild von Lars Lindauer und Astrid Probst

Der Satz „Du wirst dich nie ändern“, änderte alles. Die Handschrift ihres Sohnes auf knallgelbem Papier. Der Brief im Umschlag, irgendwo abgelegt, wo sie ihn sofort sah. Ob auf dem Küchentisch oder doch im Wohnzimmer, das weiß Christine heute nicht mehr. Doch an den Satz erinnert sie sich genau.

„Du wirst dich nie ändern.“

„Ich dachte: Das kann nicht sein“, sagt Christine heute. Nie verändern? Wenn das stimmen würde, wäre sie eine schlechte Gläubige. Sie, die täglich die Bibel liest, betet. Die lernte: Gott verändert dich! Und dann heißt es, du wirst dich nie ändern?

Sie lernte früh, was es heißt, ein gottesfürchtiges Leben zu führen. Ihr Vater war Prediger in einer evangelikalen Freikirche. Jeden Sonntag legte er in einer Gemeinschaftsstunde Bibeltexte aus, jeden Mittwoch wurde ein Bibelgespräch geführt. Er hat die Bibel konservativ interpretiert. Das bedeutet: Die Bibel ist Gottes Wort. Die Familie lebte nach der Maxime: „Gott sagt dir alles, du musst nur hinschauen“. Ihre Mutter war für die Erziehung und den Haushalt zuständig – und die Moral. Als Kind und später als Teenagerin sprach Christine mit anderen Jugendlichen über die Bibel. Dort fühlte sie sich wohl. Außerhalb der Kirchengruppen hatte Christine kaum Freunde. Seit sie klein war, wollte Christine ein Leben in Einklang mit der Bibel führen, früh heiraten und eigene Kinder bekommen.

Womöglich hätte Christine weiter so gelebt, die Regeln befolgt, die Versprechen geglaubt – und auch die Verteufelungen. Von Jeans, Sex vor der Ehe, Lügen. Als sie den Zettel findet, ahnt sie noch nicht, dass ihr zweiter Sohn ihren Glauben ins Wanken bringen wird. Weil sie sich eben doch ändern kann.

Alles Moderne verbieten ihre strenggläubigen Eltern

In der Küche im ersten Stock ihres Backsteinhauses erzählen Christine und ihr Mann Alfred ihre Geschichte. Seit sechs Jahren wohnen sie hier in Nordhessen, direkt neben einer Kirche. An den zwei Tagen im Herbst, als wir mit ihnen sprechen, sitzen wir Reporter:innen an dem kleinen Küchentisch, darauf Streuselkuchen und Kaffee. Weil sie ihre Familie schützen wollen, wollen sie hier nicht ihre richtigen Namen nennen.

Christine wächst mit ihrer Familie in Norddeutschland auf. Erst in Delmenhorst, später in Lübeck. Alfred macht eine Ausbildung zum Hörgeräteakustiker und muss für den Berufsschulunterricht immer wieder nach Lübeck. Eigentlich wohnt er in Hessen. Auch er ist in einer evangelikalen Kirche aufgewachsen. Über die Gemeinde von Christines Vater sucht er Anschluss in Lübeck. Als Frau des Predigers fühlt sich Christines Mutter verantwortlich für den jungen Mann, der alleine ist in der Stadt, und lädt ihn zum Essen zu ihrer Familie ein. Hier trifft Alfred auf Christine.

Das Erste, was ihr auffällt, ist seine Jacke an der Garderobe im Flur. So eine dunkelblaue Daunenjacke, wie er trägt, darf sie nicht haben. Ihre Mutter verbietet alles Moderne, das sei Teufelszeug. Jeanshosen sind tabu, Cord ist okay. Lange Röcke auch, Miniröcke gehen nicht. Wenn Adidas-Sneaker im Trend sind, darf Christine nur günstige Sportschuhe von C&A tragen. Erst wenn die Sachen wieder out sind, hat die Mutter nichts mehr dagegen.

Alfred sieht mit seinen blonden Locken ein bisschen aus wie Christines Exfreund. Am Essenstisch der Eltern funkt es. Zwei Jahre später heiraten sie. Christine ist bei der Heirat schon im dritten Monat schwanger, weiß aber noch nichts davon.

„Fashion for Michael“

Sie bekommen drei Kinder: Michael ist der zweite Sohn. Christine, Alfred und ihre Kinder führen das religiöse Leben ihrer Eltern weiter. Alfred geht arbeiten, Christine ist mit den Kindern zuhause. Jeden Morgen betet Alfred mit den Kindern und liest etwas aus den Herrnhuter Losungen vor, einem kleinen Büchlein mit biblischen Sinnsprüchen. Wenn die Kinder morgens zur Schule aufbrechen, sagt er zu ihnen: „Du schaffst das.“ Abends liest Christine in der Bibel. Vor und nach dem Essen wird gebetet. Die Kinder fühlen sich anfangs wohl damit.

Ungefähr im Alter von vier Jahren fällt Christine und Alfred auf, dass Michael anders ist als Jungs in seinem Alter. Er wünscht sich die lilafarbenen Spielschatullen von Polly Pocket und bunte Klamotten. Doch was sie in den Läden für ihn findet, ist meistens blau und schwarz. Christine will ihrem Sohn den Wunsch trotzdem erfüllen und bestellt im Otto-Katalog ein kariertes Hemd in braun, orange und rot. Als sie das Hemd auspackt, sieht sie, dass auf dem Rücken „Fashion for Girls“ eingestickt steht. Sie lässt den Schriftzug umnähen in „Fashion for Michael“.

Eines Tages nimmt Christines Mutter ihre Tochter zur Seite und sagt: „Du musst aufpassen, dass Michael nicht schwul wird!“ Homosexualität ist in ihrem Glauben eine Sünde, dafür kommt man in die Hölle. Das will Christine natürlich verhindern. Also darf Michael nicht schwul werden. Rosa Kleider mag er nicht, immerhin, stellt sie erleichtert fest. Er spielt mit Autos, aber interessiert sich nicht für die Technik. Christine fühlt sich hilflos und spürt die Verantwortung. Wenn er wirklich schwul wird, trägt sie als Mutter die Schuld, davon ist sie überzeugt. Als Michael älter wird, lässt er sich die Haare länger wachsen. Er näht sich Röcke, die Oma lobt ihn für sein Handwerk. Kann schon sein, dass er wirklich schwul ist, denkt seine Mutter.

Die Eltern denken: Michael lebt eine Lüge

Es ist Dezember 2008, Michael ist 17 Jahre alt. Die Familie hat gerade Abendbrot gegessen und dabei „Kulturzeit“ auf 3sat geschaut. Plötzlich schaut Michael in die Gesichter seiner Eltern. „Ich muss euch noch was sagen. Ich bin schwul“, sagt er. Vater Alfred bleibt stumm sitzen. Christine greift nach dem Geschirr, darauf noch rote Soße. Sie wirft es nach ihrem Sohn. Sie schreit.

In dieser Nacht liegt sie wach. Bis drei Uhr morgens grübelt sie. Christine ist tief enttäuscht von sich. Sie hat so viel für ihren Sohn gebetet, ihm erklärt, was Sünde ist und dass Homosexuelle in der Hölle landen. Aber sie hat es nicht geschafft, ihn zu einem guten Christen zu erziehen. Einem, der nicht schwul wird. Um sechs Uhr ist sie wieder wach und weiß, was sie Michael sagen muss: Er lebt eine Lüge.

Sie hört, wie er die Treppe hochkommt, so steht es in ihrem Tagebuch, zum Badezimmer geht, das neben ihrem Schlafzimmer liegt. Sie fängt ihn ab, spricht auf ihn ein. Später, am Abend, schreibt sie in ihr Tagebuch:

Ich sagte ihm, dass ich wohl noch nie so schlimm Schmerzen im Herzen hatte, wie gerade. … Seine Entscheidung zum Schwulsein ist für Gott ein Gräuel. Gräuel ist, wenn man anhaltend etwas lebt, mit dem man alle zehn Gebote bricht. Gott hat die verflucht, die so leben wollen.

Michael hört sich das an und sagt nichts.

Kurz darauf findet sie den Brief mit dem knallgelben Umschlag. Mit dem Satz: „Du wirst dich nie ändern.“

Christine nimmt heute ein grünes Tagebuch von einem Stapel, der auf dem Küchentisch liegt und blättert durch die Seiten. Auf einer verändert sich die Schrift. Bis dahin hat Christine eng und ohne Zeilenabstand geschrieben, auf einmal wird sie locker, lässt Zwischenräume. „Gott hat genug Papier für mich“, schreibt sie damals. Sie lacht, als sie die Stelle zeigt. „Michael hat schon erkannt, dass wir in unserem Glauben sehr verbohrt waren“, sagt sie.

Warum lehnt die Bibel Homosexualität so streng ab?

Christine gräbt sich erst einmal tiefer in den Glauben hinein. Sie versucht, mit einem Pastor über Homosexualität in der Kirche zu sprechen. Warum lehnt die Bibel das so streng ab? Weil es Sünde ist. Das ist die einzige Erklärung. Doch sie will mehr. Also meldet sie sich bei einer Bibelschule an. Täglich spricht sie im Unterricht über Zitate, über die Hölle. Sie befürchtet, dass ihre Kinder die Erlösung verlieren, wenn sie sündigen. Sie fragt die Lehrer an der Schule nach Gottes Gedanken zu Homosexualität. Immer wieder bekommt sie als Antwort Bibelzitate wie dieses:

Römer, 1,27-32
Gleicherweise haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind gegeneinander entbrannt in ihrer Begierde und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den verdienten Lohn ihrer Verirrung an sich selbst empfangen. … Obwohl sie das gerechte Urteil Gottes erkennen, dass die des Todes würdig sind, welche so etwas verüben, tun sie diese Dinge nicht nur selbst, sondern haben auch Gefallen an denen, die sie verüben.

Christine beginnt zu zweifeln. Sie betrachtet ihren Glauben und die vielen strengen Regeln kritischer. Was ist schon natürlicher Verkehr? Warum gibt es ihn nur zwischen Mann und Frau? Dass sie sich selbst schon als junge Frau zu anderen Frauen hingezogen fühlt, hat sie immer verdrängt. Es war zu unzüchtig. Also durfte sie ihre Gefühle nicht ausleben. Und jetzt ist ihr Sohn nicht bereit, das Gleiche zu tun. Er bricht aus. Christine versucht, die Risse in ihrem Glauben zu flicken, mit noch mehr Bibelstellen und anderen Interpretationen. Vielleicht, denkt sie, gibt die Schlachter-Bibel, eine Übersetzung von 1905, den Text nicht korrekt wieder. Sie liest andere Versionen. Es hilft nicht.

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Christine wird depressiv und Beten hilft ihr nicht mehr. Sie durchstöbert Facebook-Gruppen für Christen und tauscht sich mit anderen über Homosexualität und ihren Glauben aus. So stößt sie auf Siegfried Zimmer, einen Theologen, der in einem Vortrag auf Youtube über Homosexualität spricht. Bei ihm lernt sie, dass Homosexualität keine Krankheit ist. Was ihr also als Kind beigebracht wurde, stimmt gar nicht.

Überhaupt, warum muss sie sich ständig in Acht nehmen? Aufpassen, dass ihr Sohn nicht schwul wird? Aufpassen, dass sie nicht sündigt? Sei hier vorsichtig und da, ruft der Prediger von der Kanzel, trage keine kurzen Röcke, sei immer schön fromm. Aber was ist mit Vergebung? „Wenn Gott gewollt hätte, dass wir fehlerfrei sind, hätte er uns doch so erschaffen können“, sagt sie.

Dieser Gedanke setzt sich in Christines und Alfreds Leben fest. Sie wollen weiterhin gute Christen sein. Aber sie glauben nun an einen Gott, der vergeben kann, der Sünden verzeiht. So wandelt sich nicht nur Christines Glaube, sondern auch ihr Gott. Vom wütenden, nachtragenden zum verzeihenden, milden Gott.

Christine und Alfred erkennen, ihr Glaube hat ihr Kind von sich weggetrieben

Ihr Sohn Michael bemerkt das. Sie fangen an, miteinander zu reden. Auch darüber, dass Christine Teller nach ihm geworfen hat. Darüber, dass sie gar nicht von ihm, sondern von sich selbst enttäuscht war, weil sie ihn nicht abgehalten hatte, schwul zu werden. Einmal, Michael ist schon längst von Zuhause ausgezogen, bringt er einen Partner mit. Christine und Alfred stellen keine Fragen.

Irgendwann reagiert Michael nicht mehr. Er schreibt keine Nachrichten in die Whatsapp-Familiengruppe und ignoriert Christines Anrufe. Im Sommer 2022 telefonieren Mutter und Sohn ein letztes Mal. Danach: Funkstille.

Im Februar 2023 zieht Alfred einen Brief aus dem Briefkasten. Der Absender ist Michael.

Hallo Christine und Alfred,
es ist mir nicht möglich, mit euch beiden Kontakt zu haben. Kein Kontakt haben heißt für mich: Dass ihr mir keine Nachrichten schreibt, mich nicht anruft, mir keine Briefe schreibt und wir uns nicht treffen. Ich will, dass ihr das respektiert. Wann und wie ich Kontakt wieder zu euch aufnehme, weiß ich jetzt noch nicht.
Viele Grüße, Michael

Alfred liest den Brief vor. Die Eltern freuen sich. Endlich ein Lebenszeichen! „Dann kam die Angst, dass er sich nie wieder meldet“, sagt Christine. Sie trauern und hoffen im Wechsel. Und sie bereuen. Christine bereut ihren Ausraster, beide ihre Verbohrtheit und ihren strengen Glauben, der ihr Kind von ihnen wegtrieb.

Dann, am 6. Juni dieses Jahres, klingelt Christines Handy. Michael ruft an. Christine und Alfred sitzen auf ihren Sesseln auf der Terrasse, blicken in den verwucherten Garten. Sie stellen das Gespräch auf Lautsprecher.

„Ich sagte: Hallo Michael. Und er: Mein Partner ist verstorben“, sagt Christine. Michael weint. Er ist inzwischen 33 Jahre alt. Als er anruft, ist der Tod seines Partners eine Woche her.

Als sie auflegen, wissen die Eltern nicht, was sie zuerst fühlen sollen. Ihr Sohn hat sich wieder gemeldet. Das Vertrauen kann nicht ganz weg sein. Gleichzeitig spüren sie seinen Schmerz und leiden mit ihm. „Ich dachte erst, es zerreißt mich, aber man fühlt es einfach gleichzeitig, irre Freude und irren Schmerz“, sagt Christine.

Seither telefonieren sie wieder mit ihrem Sohn und treffen sich auch. Über die Vergangenheit will Michael immer noch nicht so wirklich reden, sagen sie. Auch wenn er weiß, dass die Eltern sich geändert haben.

Wobei sich eines nie ändern wird, sagt Christine. Egal, was passiert. Sie zitiert an diesem Tag im Herbst an ihrem Küchentisch ihre Lieblingsstelle aus der Bibel, Johannes 3,1. Die kann sie auswendig:

„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!“

Sie muss weinen, ihre Stimme bricht.

„Gott will, dass es uns gut geht und ich bleibe Gotteskind“, sagt Christine.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Für Christine ist Schwulsein eine Sünde – dann outet sich ihr Sohn

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