Gebt diesem Mann eine Samstagabendshow!
Leben und Lieben

Gebt diesem Mann eine Samstagabendshow!

Rainer Maria Jilg hat das kleine ZDFkultur groß gemacht, unzählige Bands auf Festivals interviewt und fährt für seine Gesellschafts-Reportagen im BR durch ganz Bayern. Dauerhaft in die erste Reihe holen ihn die großen Sender trotzdem nicht. Unser Fernsehen vernachlässigt permanent Talente, die es selbst aufgebaut hat. Jetzt mal ehrlich: Das muss sich dringend ändern.

Profilbild von Peer Schader

Wenn es einen Führerschein für Regionalpolitiker gäbe, könnte Rainer Maria Jilg augenblicklich als Prüfer anfangen. Was die Menschen zwischen Coburg und Garmisch-Partenkirchen bewegt, weiß er besser als mancher Parteienvertreter: überfüllte Notaufnahmen in Unterfranken, Kita-Sorgen in Dachau, Keimgefahren beim Klinikaufenthalt und die Nitrat-Belastung des Grundwassers im Landkreis Landshut. Dabei ist Jilg gar kein Politiker. Sondern Diplom-Ingenieur für Medien mit Saxophon-Stipendium, Ausbildung zum Dirigenten, MTV-Abbrecher und inoffiziell zertifizierter Schlammfestival-Bandinterview-Musikjournalist.

Seit einem Jahr moderiert er fürs Bayerische Fernsehen „Jetzt mal ehrlich“, eine Mischung aus Reportage- und Gesellschaftsmagazin, für das er jedes Mal quer durchs Land fährt, um interessante Gesprächspartner zu treffen. Er sagt: „Man vergisst manchmal, wie groß Bayern ist.“

So groß jedenfalls, dass es sich lohnt, dort eine Sendung zu machen, die das Gegenteil des kuscheligen Heimatfernsehens ist, mit dem viele Dritte ihr Publikum betäuben. „Jetzt mal ehrlich“ befasst sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die jeden etwas angehen. Zur besten Sendezeit, montags um 20.15 Uhr, wenn bei der Regionalkonkurrenz „Tatort“-Wiederholungen laufen und sich Verbrauchermagazine mit dem Thema „Kampf gegen Fussel: die Werbeversprechen von Wollrasierern“ befassen (kein Scherz). Der BR hält mit einem journalistischen Magazin dagegen, das weder besonders jugendlich noch ausufernd betulich sein muss – weil darin junge und erfahrenere Protagonisten gleichermaßen vorkommen. „Jetzt mal ehrlich“ fragt: „Wie schlecht sind Bayerns Schulen?“, „War Opa ein Nazi?“, „Jugend an die Macht?“ und „Liegt das (Pflege-)Glück im Osten?“

„Nur weil junge Leute in einer Sendung sind, heißt das ja nicht, dass es ältere nicht interessiert“, meint Jilg. Mal sitzt er bei der Familie des Notfallarzts am Tisch, wenn wieder der Alarm losgeht, mal ist er zum Kaffee bei der Frau eingeladen, die ihren Job aufgeben musste, weil sie im Krankenhaus noch kränker wurde, und er schlägt sich mit Münchner Taxifahrern die Nacht um die Ohren, wenn die einem Uber-Chauffeur das Handwerk legen wollen.

Jilg (l.) begleitet Protagonisten für Gespräche bei "Jetzt mal ehrlich" in ihrem Alltag anstatt sie sich ins Studio zu holen. Im Krankenwagen ...

Jilg (l.) begleitet Protagonisten für Gespräche bei “Jetzt mal ehrlich” in ihrem Alltag anstatt sie sich ins Studio zu holen. Im Krankenwagen … Screenshot: BR

Gerade hat „Jetzt mal ehrlich“ ersten Geburtstag gefeiert. „Unsere Themen sind ja im ganzen Land relevant. Aber wir setzen sie halt für Bayern um“, sagt der Augsburger, der bis zum vergangenen Frühjahr einer der letzten Moderatoren des kleinen Digitalprogramms ZDFkultur war – bis es als eigenständiges Programm abgewickelt wurde.

Adieu, Ausprobierfernsehen!

Dabei lieferte der Musik- und Popkultursender ziemlich genau das Fernsehen, für das man beim ZDF sonst immer stehen will: modern, experimentell und trotzdem im besten Sinne öffentlich-rechtlich. ZDFkultur machte exakt die Zuschauer glücklich, für die es gedacht war. Vielleicht war der kleine Kanal die letzte Chance des Fernsehens zu zeigen, was es in der Nische besser kann als das Internet: eine Anlaufstelle zu schaffen, auf die sich alle einigen können, die Lust auf Musik und Kultur und Festival-Live-Übertragungen haben. „Zu uns sind Bands gekommen, die sonst einfach gar nicht ins deutsche Fernsehen gehen“, sagt Jilg über seine (eingestellte) Konzert- Talkshow „On Tape“ (Reste davon sind noch in der ZDF-Mediathek ansehbar). The Hives waren da, Kasabian, The Subways. Bands, die nicht zu „Wetten dass..?“ gepasst hätten, für die bei „Schlag den Raab“ zu wenig Platz war und für die deutsches Fernsehen sonst nicht existiert.

Vor zwei Jahren entschied ZDF-Intendant Thomas Bellut, dass ihm diese Zielgruppe zu klein ist. Seitdem sendet ZDFkultur als Geisterprogramm vor sich hin, so lange, bis es offiziell vom nächsten Rundfunkstaatsvertrag erlöst wird.

Es seien die beiden schönsten Jahre gewesen, die er bislang in seinem Job hatte, sagt Jilg über die Zeit in Mainz – und als entschieden war, dass der Sender langsam ausblutet, „war das dritte das schlimmste.“ „Bei jeder Produktion gab es eine letzte Sendung. Jedes Mal wurde gefeiert, als ob es kein Morgen gäbe. Aber im Endeffekt haben wir fünf, sechs Mal das Ende von ZDFkultur beweint.“

Bellut hatte nach dem Schlussstrich angekündigt, Teile von ZDFkultur zum Schwestersender 3sat hinüberzuretten. Aber viel ist nicht übrig geblieben. „Ich kann schon nachvollziehen, wie die Entscheidung zustande kam“, erklärt Jilg. „Wenn wir bessere Quoten gehabt hätten, wäre es vielleicht weitergegangen. Aber das war wegen der Einsparungen eine harte Zeit fürs ZDF an sich, und eine ungünstige Zeit für einen neuen Sender wie ZDFkultur.“

https://vimeo.com/87551571

Die Abwicklung war dennoch eine fatale Entscheidung, weil sich damit ein Team junger Moderatoren, Produzenten und Fernsehausdenker auflöste, das für den Mainzer Sender eine ideale Basis zur Nachwuchsausbildung hätte sein können. (Was der quotenerfolgreicheren Schwester ZDFneo nie gelungen ist.) Am Ende blieben nur wenige beim ZDF. Jo Schück wurde zu „Aspekte“ ins Hauptprogramm geholt, Nina Sonnenberg macht den „Kulturpalast“ weiter – immerhin. Doch die meisten anderen mussten sich neue Jobs suchen. Es scheint immer noch nicht in die Chefetagen von ARD und ZDF vorgedrungen zu sein, dass es auf Dauer keine Lösung ist, die Hälfte des Programms immer von denselben Johannes B. Kerners moderieren zu lassen. Obwohl in vielen Rundfunkanstalten reihenweise Talente warten, auf eine größere Bühne gelassen zu werden – nicht bloß irgendwo im Nachtprogramm zwischen Geisterstunde und „Morgenmagazin“ oder in der Digitalsparte.

Die letzten ihrer Art?

„Da sind viele gute Leute da draußen. Es gibt bloß keinen Platz im Fernsehen“, meint Jilg, der jetzt 36 ist und seit rund 15 Jahren Erfahrung bei Radio und Fernsehen gesammelt hat. „Ich gehöre da vermutlich zur letzten Generation von Moderatoren, da kommen nicht mehr so viele nach.“ Alle Jüngeren müssten sich erst auf anderen Plattformen beweisen, bevor sie auf den Schirm gelassen würden. Wenn überhaupt.

Und Jilg hat schon das Glück, zumindest zeitweise zu den Ausnahmen gehört zu haben. Im zurückliegenden Herbst engagierte RTL ihn für die neue Musikshow „Rising Star“, die der nächste große Hit nach „Deutschland sucht den Superstar“ hätte werden sollen. Es war der Versuch des Privatsenders, sich zumindest ein Stück weit seines Dieter-Bohlen-Images zu entledigen. Deswegen wurde „Rising Star“ so besetzt, wie man das von einer halbwegs seriösen Musikshow erwarten würde. In der Jury saßen Anastacia, Reggae-Musiker Gentleman, die Soul-Sängerin Joy Denalane, Singer-Songwriter Sasha. Und vorne auf der Bühne stand der Mann aus dem Nischenfernsehen, den bis dahin kaum ein RTL-Zuschauer gekannt haben dürfte. Weil der Sender diesmal einen Moderator haben wollte, der sich wirklich mit Musik auskennt (siehe Anmerkung rechts).

Jilg (l.) im Herbst 2014 mit den "Rising Star"-Gewinnern der (inzwischen aufgelösten) Band "Unknown Passenger".

Jilg (l.) im Herbst 2014 mit den “Rising Star”-Gewinnern der (inzwischen aufgelösten) Band “Unknown Passenger”. Foto: RTL/Stefan Gregorowius

„Ich hab am Anfang gesagt: Leute, ist das alles echt? Sagt’s mir jetzt, bevor ich da rausgehe. Ist das nur Show – oder funktioniert das wirklich?“, sagt Jilg und meint die Neuerung, dass bei „Rising Star“ die Zuschauer zu Hause per App über die Kandidaten abstimmen durften und ihr Profilbild dabei auf eine riesige Bildschirmwand projizieren konnten, die sich mit großem Getöse hob, wenn ein Talent weiterkam.

„Wir haben uns auf alle technischen Pannen vorbereitet: dass die Wand nicht hochfährt, dass die Abstimmung schiefgeht, dass die App nicht geht. Es gab für alles ein Back-up“, erinnert sich Jilg. „Nur nicht für das, was dann passiert ist.“

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Als Kandidaten sich in einer der ersten Shows beklagten, sie hätten ihren Song vom Sender aufgezwungen bekommen, tobten die Zuschauer bei Twitter und Facebook. Weil das so schön zum Image passte, das RTL sich über Jahre erarbeitet hat. Letztlich war die Zahl der Beschwerden in den sozialen Medien überschaubar. Aber als die ersten Schlagzeilen in den Medien sich auf den Zwist beriefen, hatte „Rising Star“ seinen Ruf weg.

Dabei sei tatsächlich niemand gezwungen worden, Titel zu singen, auf die er keine Lust hatte, erklärt Jilg im Rückblick. „Aber der musikalische Leiter muss sagen können: Der Song passt nicht zu dir, oder: Du kannst nicht so gut Englisch, sing was Deutsches; oder: Wir haben schon zwei Mal Whitney Houston – und die anderen sind besser.“

Twittern in der Werbepause

Egal. Nach sieben von zehn Shows zog RTL die Notbremse, „Rising Star“ ist seitdem TV-Geschichte und die riesige Bildschirmwand war einen Tag danach schon wieder abgebaut. Jilg sagt, es sei trotzdem eine positive Erfahrung gewesen. „Weil ich eine Show in dieser Größenordnung noch nie gemacht hatte.“ Zweimal zweieinhalb Stunden pro Woche live. Für ein Millionenpublikum. Und für Leute, die es nicht gewohnt sind, dass ihnen der Moderator aus dem Fernsehen in der Werbepause auf Twitter antwortet. „Nur so macht’s richtig Bock“, meint Jilg, der bei RTL mit Lockerheit, Witz und Krisenfestigkeit gezeigt hat, dass er eine ziemlich gute Besetzung für die große Bühne ist.

https://twitter.com/rineair/status/507805734911111168


Spätestens als „Rising Star“ bei RTL über die Bildschirme flimmerte, hätten sich eigentlich die Verantwortlichen bei ARD und ZDF fragen müssen: Warum macht der sowas nicht für uns? Eine große, moderne Abendshow, die das ewige Quizeinerlei zu variieren versucht!

Immerhin ist der 36-Jährige beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk journalistisch groß geworden, nachdem er anfangs ein paar Mal für MTV im Einsatz war. Als es dort nicht weiterging – „Ich glaub, ich war denen damals zu langweilig“ – dockte Jilg während des Studiums in Offenburg beim SWR und dessen Jugendprogramm Dasding an, erst im Radio, später bei Dasding.tv. (Wo auch seine Kollegin Vivian Perkovic gestartet ist, mit der er sich jetzt bei den BR-Reportagen abwechselt.)

„MTV war vielleicht cooler. Aber wir hatten nachher bessere Quoten. Und das haben die Promoter ganz genau gewusst. Es war halt manchmal schwer, Metallica klarzumachen, dass sie mehr Leute erreichen, wenn sie nach Baden-Baden ins Studio kommen als nach Berlin.“

Nach regelmäßigem Sender- und Städtehopping von Offenburg nach Baden-Baden, Stuttgart und Mainz wohnt Jilg inzwischen in München. Wenn er nicht gerade in lustigen Gasthöfen übernachtet, weil er vorher mit dem „Jetzt mal ehrlich“-Team Bürgermeister, Jungsanitäter oder Wasserfilterexperten auf dem bayerischen Land interviewt hat. „Ich kann wegen meines Nomadentums inzwischen mit recht wenig Dingen auskommen. Da, wo mein Macbook sich automatisch ins WLAN einwählt, ist Heimat.“ Eigentlich könnte das bei den großen Sendern genauso sein. Dummerweise haben die, wenn selbst aufgebaute Talente sich bei ihnen einzuloggen versuchen, immer gerade keinen Empfang.


„Jetzt mal ehrlich“ läuft nach einer Osterpause immer montags um 20.15 Uhr im BR, als nächstes zu den Themen „Dachau - die ewige KZ-Stadt?“ und „München - Weltstadt ohne Herz für Mieter?!“. Auf br.de und bei Youtube sind zahlreiche ältere Reportagen in voller Länge abrufbar.


Aufmacherfoto: BR/Julia Müller