„Mama, es ist alles gut, wir schaffen das“
Jana, 43 Jahre alt, Hamburg
Meine Mutter wäre eine Premium-Babysitterin gewesen. Sie war sehr kinderlieb und als mein Sohn geboren wurde, war sie total im Himmel. Leider hatten sie nicht viel Zeit miteinander. Sie war gerade 60 Jahre alt geworden, als bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt wurde. Mein Sohn war da ungefähr ein halbes Jahr alt. Das war 2013. Ihre Blutwerte hatten sich plötzlich verschlechtert. Meine Eltern gehören zur Generation „Man hat ja nichts“, deshalb hat es relativ lange gedauert, bis meine Mutter sich untersuchen ließ, die Diagnose feststand und die Chemotherapie anfangen konnte.
Während ihrer Krankheit fuhr ich oft mit meinem kleinen Sohn zu meinen Eltern nach Niedersachsen. Meine Mutter und ich standen uns immer sehr nah. Ich erzählte ihr viel aus meinem Alltag und wir sprachen auch über meine Freunde. Sie kannte alle beim Namen, auch wenn sie sie nie getroffen hatte. Es war hart, als mir bewusst wurde, dass wir nicht mehr viel Zeit miteinander haben würden.
Etwa zwei Wochen vor ihrem Tod ging es ihr noch einmal besser. Ich erinnere mich daran, wie sie auf dem Sofa lag und ich ihr die Füße massierte. Damals konnte ich ihr noch ein paar Fragen stellen, die ich schon länger im Kopf hatte. Ich wollte wissen, wie es für sie als junge Mutter war, mit mir als Baby und der Selbständigkeit meines Vaters. Ich glaube, damals stand sie ziemlich unter Druck, sie wirkte oft traurig auf mich. Es war ein großes Geschenk, darüber mit ihr doch noch sprechen zu können.
Etwa drei Tage vor ihrem Tod habe ich sie wieder zu Hause besucht. Draußen war es warm und sommerlich. Für mich war klar, dass ich mein zweijähriges Kind mitbringen würde, auch wenn wir eigentlich alle Hände voll mit meiner Mutter zu tun hatten.
Als wir ankamen, lag sie bereits im Bett und war nicht mehr ansprechbar. Ihr Atem ging schwer und röchelnd, ein Zeichen dafür, dass der Tod nah war. Wir verbrachten die meiste Zeit bei ihr im Schlafzimmer. Ich habe meinem Sohn aus meinen alten „Pettersson und Findus“-Büchern vorgelesen, wir haben zusammen gemalt und gespielt. Meine Mutter hat davon vermutlich nichts mehr mitbekommen, aber sie war die ganze Zeit bei uns. Nach und nach wurde ihre Atmung ruhiger und flacher. Ich legte meinen Sohn zum Mittagsschlaf in mein ehemaliges Kinderzimmer und ging zurück an ihr Bett. Sie atmete ruhig und langsam. Ich hatte das Gefühl, sie konnte nicht loslassen, weil sie immer die war, die sich um alle gekümmert hat. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, nahm sie in den Arm und sagte ihr: „Mama, es ist alles gut, wir schaffen das. Du kannst gehen, wenn du möchtest.“ Kurz darauf starb sie. Meine Schwester schloss ihre Augen, dann umarmten wir uns. Mein Vater, meine Schwester und ich, wir heulten alle. Mein Sohn schlummerte währenddessen. Ich glaube, meine Mama hat mit dem Sterben gewartet, bis er sicher schlief.
Eine Woche später wurde meine Mutter auf dem Dorffriedhof beigesetzt. Es kamen unglaublich viele Menschen. Ich hatte kaum Klamotten dabei und musste mir vorher noch schwarze Sandalen kaufen. Einen schwarzen Rock und ein T-Shirt hatte ich noch. Obwohl meine Eltern nicht besonders gläubig waren, hielt ein Pastor die Andacht. Draußen schien die Sonne, aber die Friedhofskapelle war dunkel und zwielichtig. Mein Vater hatte sich gewünscht, dass „I Am Sailing“ von Rod Stewart beim Ausmarsch aus der Kapelle gespielt wurde. Meine Eltern haben dieses Lied immer zusammen auf dem Motorrad gehört, wenn sie in den Urlaub gefahren sind. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass dieses Lied kommen würde. Es riss mich mit und ich weinte haltlos.
Im gleichen Moment ging die Kapellentür auf. Von draußen fiel das Licht der Sonne hinein. Mein Mann hatte mit unserem Sohn draußen gewartet, als der Kleine mich sah, rief er laut „Mama!“, kam zu mir gelaufen und sprang mir auf den Arm. Es war gleichzeitig so schön und so schrecklich. Ich glaube, die ganze Trauergemeinde war erleichtert, dass er diese traurige Situation ein wenig aufheiterte.
Ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Mutter spürte ich den Wunsch, noch ein Kind zu bekommen. Bis dahin dachte ich immer, ich habe dieses eine Kind und ich liebe das so abgöttisch, dass ich mir nicht vorstellen konnte, noch ein weiteres Kind zu haben. Doch jetzt dachte ich: Meine Mama hat einen Platz freigemacht, den könnten wir jetzt wieder füllen. Acht Monate später war ich schwanger. Der Pastor, der unser zweites Kind taufte, traute mich und meinen Mann am gleichen Tag. Plötzlich war ich eine verheiratete Frau mit zwei Kindern – genau wie meine Mama früher. Der Gedanke, dass unsere Leben miteinander verbunden sind, gibt mir bis heute Kraft.
„Ich versuche immer, nicht ‚Auf Wiedersehen‘ zu sagen“
Robert, 32 Jahre alt, Sachsen
Ich arbeite als Notfallsanitäter im Rettungsdienst. Einer meiner ersten Einsätze führte mich zu einer Frau um die 70. Sie litt an Krebs oder einer anderen schweren Krankheit, ganz genau weiß ich das nicht mehr. Als wir bei ihr ankamen, herrschte in der Wohnung eine ruhige und bedachte Stimmung. Der Ehemann und zwei Geschwister waren auch da. Die Frau lag in einem Pflegebett und konnte schon nicht mehr sprechen. Es war offensichtlich, dass sie bald sterben würde. Sie hatte vorher verfügt, keine lebensverlängernden Maßnahmen zu wollen. Wir konnten sie also nur begleiten. Retten konnten wir sie nicht mehr. Der Notarzt hatte ihr Morphin in die Bauchfalte gespritzt, um ihre Schmerzen sanft, aber langanhaltend zu lindern. Mehr konnten wir in dieser Situation nicht tun. Es ist ein erfüllendes Gefühl, jemanden beim Sterben begleiten zu können, auch wenn wir eigentlich darauf trainiert sind, Leben zu retten. Da wir nichts weiter tun konnten, wünschten wir der Familie alles Gute und verließen die Wohnung. Ich achte immer darauf, nicht „Auf Wiedersehen“ zu sagen.
„Ich habe mir das Sterben irgendwie unwürdiger vorgestellt“
Susanne, 51 Jahre alt, Düsseldorf
Meine Mutter erkrankte vor sieben Jahren an Demenz. Mit der Zeit wurde sie immer apathischer, bis sie kaum mehr sprach. Eine Woche vor ihrem Tod wurde sie ins Krankenhaus verlegt. Sie hatte schon wahnsinnig viel Gewicht verloren, das Essen behielt sie nur noch im Mund, ohne zu schlucken.
Als ich von ihrem Zustand erfuhr, war ich unsicher, ob ich es ertragen würde, sie so zu sehen. Mein Vater schickte in unsere Familiengruppe immer wieder verstörende und unwürdige Fotos und Videos meiner sterbenden Mutter. Ich fand das entsetzlich. Aber ich wusste auch, dass ich es bereuen würde, nicht zu ihr zu fahren, also machte ich mich auf den Weg. Mein Bruder holte mich am Bahnhof ab.
Zuhause angekommen saßen wir einfach schweigend an ihrem Bett oder erzählten einander Geschichten aus unserer gemeinsamen Kindheit. Wir sprachen über schöne Erinnerungen und Probleme mit unseren Eltern. Das waren sehr innige und verbindende Momente. Auf einmal waren wir Kinder, die ihre Mutter verlieren. Aber ich dachte mir: „Mein Bruder ist ja da.“ Obwohl er sonst eher nüchtern ist, sagte er, es sei schön, dass ich da sei.
Meine Mutter war so aktiv und fröhlich! Sie hätte ein munteres und lustiges Alter verdient. Viele beschrieben sie als warmherzig und liebevoll. Manchmal fühle ich mich meinem Bruder und seiner Frau gegenüber mies, weil ich weggezogen bin, und sie sich um unsere Eltern kümmerten. Doch in diesem Moment war ich da, und er hat das gesehen.
Am Tag nach meiner Ankunft entschieden wir, meiner Mutter keine Flüssigkeiten mehr zu geben, wie sie es in ihrer Patientenverfügung gewünscht hatte. Ihr Arzt wollte das nicht, und es war echt schwer, sich gegen ihn durchzusetzen. Weil wir Angst hatten, dass unsere Mutter ohne Flüssigkeit verdursten könnte, riefen wir bei einem Palliativ-Netzwerk an. Die Berater konnten uns diese Sorge nehmen. Eine Sterbende verdurstet nicht, sagten sie uns. Als die Kanüle gezogen wurde, war ich allein bei ihr. Das war schrecklich, aber ich war auch froh, im entscheidenden Moment da zu sein. Wir wussten, dass sie nun noch 24 bis 72 Stunden zu leben hatte. So hatte es uns eine der Krankenschwestern gesagt.
Ihr Zimmer war weiß und steril. Wir stellten frische Blumen hin und Fotos von ihr, die wir in der Drogerie ausgedruckt hatten. Mein Vater stellte ihr Hochzeitsfoto dazu. Selbst wenn meine Mutter es nicht mehr sah, sollte wenigstens das Pflegepersonal sehen, wie sie früher war.
Ich weinte oft, vor allem, wenn ich mit ihr allein war. Es half mir, den Schmerz zu verarbeiten. Überraschend war, wie zärtlich ich plötzlich zu ihr sein wollte. Wir waren nie besonders körperlich miteinander, aber jetzt wollte ich ihr ständig die Hand streicheln. Ihre Haut war so weich, alles an ihr war klein und zart geworden. „Meine kleine, arme, liebe Mama“, sagte ich zu ihr – Worte, die ich sonst nie benutzt hätte.
Manchmal zeigte ich ihr Videos von der Nordsee auf meinem Handy. Einmal fragte ich: „Mama, du hast das Meer immer so geliebt, oder?“ Sie antwortete leise: „Ja.“ Das war unser letzter Dialog. Es war ein schöner Abschied, besser als die grausamen Videos auf Whatsapp.
Eine Stunde vor ihrem Tod machte ich mich auf den Heimweg nach Düsseldorf. Wenn ich gewusst hätte, dass sie kurz darauf sterben würde, wäre ich noch geblieben. Ich hätte gerne miterlebt, wie sie stirbt, war sogar neugierig. Aber ich wollte auch nach Hause und meine Kinder sehen. Mein Vater und mein Neffe waren bei ihr. Sie haben ihr ihr Lieblingslied vorgesungen und mein Neffe hat ihre Hand gehalten, als sie friedlich eingeschlafen ist. Das Sterben habe ich mir irgendwie unwürdiger vorgestellt.
„Ich dachte immer, ich halte es nicht aus, wenn mein Vater stirbt. Und jetzt war es okay“
Philipp, 47 Jahre alt, Kiel
„Meine Herren, ich danke Ihnen für ihre Mühe. Aber ich habe keine Lust mehr. Ich habe mein Leben gelebt“, sagte mein Vater zu den Ärzten, als sie ihm die anstehende Operation erklären wollten. Er hatte nach zwei Schlaganfällen und Vorhofflimmern eine Engstelle an der Aortenklappe. Nun stand die nächste Operation an. Ich konnte ihn mit meinen Schwestern und seiner Frau überreden, den Eingriff zu wagen, aber kurz vor dem OP-Termin sagte er ab. Am nächsten Tag starb er, kurz vor seinem 78. Geburtstag.
Am Morgen dieses Tages war ich auf dem Weg zur Arbeit, als einer meiner besten Freunde aus Korea anrief und fragte, wie die OP verlaufen sei. Ich erzählte ihm, dass mein Vater die Operation abgesagt hatte und wohl bald sterben würde. Er sprach davon, wie viel es ihm bedeutet hatte, bei seinem Vater zu sein, als der starb. Da wurde mir klar: Natürlich muss ich zu ihm! Jetzt ist nicht die Zeit, zur Arbeit zu gehen!
Meine Schwester und ich fuhren sofort ins Krankenhaus. Dort lösten wir meine Stiefmutter ab, die die ganze Nacht an seinem Bett verbracht hatte. Sie war ganz verfroren und wollte nur kurz nach Hause, um sich umzuziehen. Fünf Minuten nachdem sie gegangen war, hörte mein Vater auf zu atmen. Ich hielt seine Hand. Meine Schwester und ich sagten nichts. Wir riefen auch niemanden an. Wir blieben einfach bei ihm.
Ich half der Krankenschwester, seinen Körper zurechtzumachen. Gemeinsam legten wir ihn ordentlich hin, entfernten die Zugänge und schlossen seine Augen. Es sollte friedlich aussehen. Das war so eine entrückte Situation! Der Moment fühlte sich transzendent an, ähnlich wie bei einer Geburt. Die existenzielle Tiefe war spürbar. Wir wurden ganz still.
Ich habe meinen Vater sehr geliebt und bewundert. Nach dem Tod meiner Mutter, als ich 16 war, dachte ich, ich würde seinen Tod nicht ertragen. Doch jetzt war es okay. Gleichzeitig war es auch himmelschreiend traurig.
Er war Kinderchirurg, eine Instanz. Belesen, gebildet, respektiert – von mir, von vielen meiner Freunde. Aber er trug auch immer einen Schmerz in sich. Seinen eigenen Vater hat er im Krieg verloren. Ich fühlte mich ohne Eltern zuerst allein auf der Welt, obwohl ich eine tolle Familie und Freunde habe.
Am Abend vor seinem Tod sagte mein Vater: „Ich gehe nur ein Zimmer weiter.“ Vielleicht wollte er uns damit trösten, aber dieser Satz bleibt bei mir. Bei seiner Beerdigung habe ich gesagt, dass er mir gezeigt hat, wie man in Würde stirbt. Er hatte keine Angst. Er war mit dem Sterben einverstanden. Das finde ich beruhigend.
„Es war traurig und dramatisch, aber auch bereichernd.“
Stefanie, 57 Jahre alt, Hannover
Katja und ich waren dabei, gute Freundinnen zu werden. Ich lernte sie über Daniel kennen, einen guten Freund, für den ich arbeite. Sie war seine Partnerin, und weil ich oft bei ihm zu Hause war, trafen wir uns regelmäßig. Wir mochten uns total gerne, auch wenn wir nicht richtig eng befreundet war.
Letztes Jahr an Ostern waren sie und Daniel in Dänemark als Katja auf einmal brüllende Kopfschmerzen bekam. Die Ärzte fanden nichts, die Schmerzmittel halfen kaum. Sie brachen den Urlaub ab und kehrten zurück. Als ich am Mittwoch darauf zur Arbeit kam, sagte Katja, es gehe ihr viel besser. Sie wollte mit Daniel einkaufen gehen. „Wir sehen uns gleich wieder“, rief sie. Zehn Minuten später rief mich Daniel an: „Katja ist zusammengebrochen.“ Er bat mich, den Notarzt zu rufen, damit er sich um Katja kümmern konnte. Sie hatten vor der Haustür mit einer Freundin aus dem Haus gesprochen, als Katja plötzlich wegsackte. Die Nachbarin war Hebamme und hielt ihr die Füße hoch. Daniel redete ihr gut zu. „Es wird alles gut“, sagte er, „tief durchatmen.“ Ich ging runter und brachte Kissen und Decken mit. Immer wieder rollten Katja die Augen nach hinten, es war furchtbar. Ihre Atmung war schon sehr unregelmäßig, sie war nicht mehr ansprechbar. Wenig später kam der Notarzt. Später kam heraus, dass sie ein Hirn-Aneurysma hatte, also eine Ausbuchtung an einer Arterie im Kopf, das geplatzt war. In den Tagen danach hatte sie zusätzlich Krämpfe im Gehirn. Ihr Gehirn hatte dadurch so schwere Schäden erlitten, dass sie selbst dann nicht mehr hätte kommunizieren können, wenn sie aus dem Koma erwacht wäre. Sie hatte in ihrer Patientenverfügung festgelegt, in diesem Fall keine lebensverlängernden Maßnahmen zu wollen.
Katja war eigentlich eine fitte Frau, Anfang 50. Ohne Nahrung wurde sie in den folgenden zwölf Tagen immer schwächer. Die Ärzte erhöhten die Morphindosis nach und nach. Als Katja starb, war sie allein im Zimmer. Daniel und zwei Freundinnen, die im Krankenhaus waren, hatten sie auch immer wieder alleine gelassen, um ihr Raum für ihren letzten Schritt zu geben.
Erst als klar war, dass sie sterben würde, kam ich ins Krankenhaus. Auf der Intensivstation hatte ich sie nicht besuchen dürfen. Ich sagte ihr noch, dass wir alles getan hatten, es aber nicht gereicht hat. Ich musste ihr nochmal sagen, wie leid mir das tat. Manchmal hielt ich nur ihre Hand und sagte ihr, wie schade es war, dass wir uns nicht besser kennenlernen konnten. Und dass wir alle uns um ihre Kinder kümmern würden.
Ich finde, so richtig kennt man einen Mensch erst, wenn man sich einmal von ihm getrennt hat. So kommt mir das hier auch vor. Wie jemand aus dem Leben geht, diese Erfahrung macht man nur einmal. Bei Katja dabei gewesen sein zu dürfen, ist ein Geschenk für mich. Es war traurig und dramatisch, aber auch bereichernd und wertvoll, ihre Reise begleiten zu dürfen.
Hinweis: Der folgende Abschnitt enthält Darstellungen von Suizid.
„Ich weiß, wie wichtig es ihr war, den Tod frei zu wählen“
Florence, 30 Jahre alt, Berlin
Meine Mutter war sehr krank. Eigentlich schon mein ganzes Leben lang. Die genaue Diagnostik ist schwierig, jede Klinik sagte etwas anderes. Ich persönlich glaube, dass sie viele psychosomatische Belastungen und eine Depression hatte. Ab 2013 litt sie unter chronischen Schmerzen. Irgendwann missbrauchte sie ihre Schlaf- und Schmerztabletten und Antidepressiva und wurde abhängig. Sie lebte nur noch von Tablette zu Tablette.
2020 hat sie dreimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Schmerzen würden unerträglich werden und sie sehe keine Aussicht auf Besserung, meinte sie. Sie wünschte sich, ihr Leben zu beenden und bat meinen Bruder und mich, ihr dabei beizustehen. Jedes Mal brach ich diese Gespräche ab, um zu verhindern, dass der Suizid für sie eine greifbare Option werden könnte.
Im Oktober bat ich sie zum ersten Mal, eine Woche lang keinen Kontakt mir mir zu haben, weil es mir zu viel wurde. Bis dahin war ich immer für sie erreichbar, sprach täglich mit ihr und auch nachts, wenn sie Panikattacken hatte. Diese Pause löste Schuldgefühle in mir aus, da ich wusste, wie sehr sie auf mich angewiesen war. Nach einer Woche versuchte ich, sie zu erreichen, doch sie ging nicht ans Telefon – was sonst nie vorkam. Auch zwei Tage später nahm sie nicht ab. Wollte sie mir Zeit geben? Sie hatte oft Schuldgefühle, weil sie so viel von mir forderte. Mein Bruder ging schließlich bei ihr zu Hause vorbei und fand meine Mutter tot auf dem Sofa.
„Flo, unsere Mama ist tot. Ich habe sie gerade gefunden“, sagte mein Bruder am Telefon. Er schaltete auf Videoanruf und zeigte mir, wie sie das Zimmer hergerichtet hatte. Sie hatte Fotos um sich herum platziert und scheinbar noch ein wenig von ihrem Lieblingswein getrunken. Sie lag auf dem Sofa, das ihr so viel bedeutete – auf dem sie so oft gesessen und gelitten hatte. Wenn man sterben muss, dann so?
Ich rief meinen Vater an, um ihm von Mamas Tod zu erzählen. Obwohl die beiden lange getrennt waren und er nicht besonders einfühlsam ist, sagte er: „Es tut mir leid, dass du das jetzt auch noch durchmachen musst.“
Dann habe ich ein alkoholfreies Bier getrunken, Kerzen angezündet und die Lieblingslieder meiner Mutter gehört: „I Will Always Love You“ von Whitney Houston – erst da wurde mir klar, wie passend dieses Lied gerade war. Und „Kiss Me“ von Sixpence None the Richer, zu dem sie immer gerne tanzte, wenn es ihr gut ging.
Meine Mutter war äußerst sensibel. Eine Löwenmama. Das war ihr wichtig. Sie identifizierte sich stark mit uns und setzte sich immer bedingungslos für uns ein. Charmant und wunderschön, sportlich und stets elegant gekleidet. Gleichzeitig war sie sehr naturverbunden. Wenn sie in den Wald ging, hat sie immer eine Plastiktüte mitgenommen, um Müll einzusammeln. Die Leute im Ort nannten sie Kräuterhexe, weil sie auf einem Hügel wohnte und ihren eigenen Weg ging. Das konnten die Leute nicht immer gut einordnen.
Zwei Jahre nach ihrem Tod haben wir ihre Asche auf dem Gipfel ihres Lieblingsberges in den Alpen verstreut. Das war ihr Wunsch. Ich bin nicht besonders sportlich, mein Bruder hingegen schon. Auf den letzten Metern über das Geröll hat er mir geholfen. Es war schön, dass wir uns gegenseitig unterstützt haben. Ich hatte ein Vesper vorbereitet, und wir haben unsere Mama ins Gipfelbuch eingetragen. Das Ascheverstreuen war fast witzig, wie sich die Wolke in der Luft verteilte und ein wenig Asche uns entgegenwehte.
Ich würde sagen, dass ich sie auf ihrem Weg begleitet habe, auch wenn ich nicht direkt dabei war. Ich weiß, wie wichtig es ihr war, den Tod frei zu wählen.
Es ist traurig, dass meine Mama nicht mehr da ist. Ich habe mich ihr immer sehr nahe gefühlt. Meistens bin ich nicht wütend, aber manchmal ärgert es mich, dass ich mein Leben nicht mehr mit ihr teilen kann. Dennoch verstehe ich ihre Entscheidung und sage ihr in Gedanken: „Du bist jetzt frei.“ Darüber freue ich mich für sie, auch wenn ich sie sehr vermisse.
„Ich bin tumorfrei“
Lars, 38 Jahre alt, Berlin
Knack-Knack-Knack-Knack-Knack. Fünfmal knacken die Halswirbel meiner Mutter, als wir sie aus ihrem Liegestuhl heben und auf den Boden legen. Diese Scheißwirbel, die ihr so viele Schmerzen bereitet haben. Kurz davor hatten wir das Beatmungsgerät abgestellt. Mein Bruder, seine Freundin und ich waren bei ihr, wie sie es sich gewünscht hatte. Wir wickelten sie in das Büffelfell, das mein Bruder ihr geschenkt hatte. Er ist Jäger und hat den Büffel selbst geschossen. Neben ihren Körper stellten wir zwei Kerzen in Suppenschalen, weil wir nichts anderes fanden. Ich setzte mich neben sie und fühlte mit dem Handrücken ihre Wangen, ob sie schon so kühl waren wie ihre Beine am Abend zuvor. Das war 2014.
Drei Jahre zuvor hatte ich sie das erste Mal todkrank gesehen, am Abend vor meinem 25. Geburtstag im Oktober. Ich kämpfte mit den Tränen und hoffte, dass sie nicht an diesem Tag stirbt. Ich wollte ihn für mich behalten, sie sollte einen eigenen Todestag haben. Ich wollte sie nicht gehen lassen. Die Ärzte sagten, sie habe Brustkrebs im Endstadium, nichts zu machen. Der Krebs hatte schon gestreut, vermutlich würde sie Weihnachten nicht erleben. Sie bekam Morphium, kam auf die Palliativstation und überraschend ging es ihr bald besser. Sie kehrte nach Hause zurück.
Drei Jahre lang hat sie jede Tablette pflichtbewusst geschluckt, versäumte kaum einen Arzttermin. Zwischendurch hat sie sich den Arm gebrochen, hatte eine Lungenembolie, lag immer wieder im Krankenhaus. Trotzdem versuchte sie, positiv zu bleiben. Wir hangelten uns durch, ich, meine Brüder und die Pflegerin. Sie hatte auch eine Heilpraktikerin, einen Schamanen und einen Heiler. Auf dem Esstisch, wo sie meistens am Kopfende saß, weil man mit dem Rollstuhl gut hinfahren konnte, stand ein kleiner Aufsteller mit den Worten: „Ich bin tumorfrei.“
Im Sommer 2013 konnte mein Vater plötzlich nicht mehr schlafen und schwitzte nachts die Bettwäschen durch. Aus der diagnostizierten Zyste wurde Leberkrebs, dann Bauchspeicheldrüsenkrebs. Nur wenige Monate später starb er, noch vor meiner Mutter.
Im gleichen Jahr hörte sie kurz vor Ostern plötzlich auf, ihre Tabletten zu nehmen. Stattdessen steckte sie die Pillen in ein leeres Plastiktütchen in ihrer Weste. Wir widersprachen nicht, sondern entsorgten die Tabletten heimlich. Die Stimmung war anders als damals im Krankenhaus. Nach wenigen Tagen starb sie. In der Nacht danach dachte ich: Jetzt bin ich Vollwaise. Das ist das einsamste Gefühl der Welt, ein tiefes, schwarzes Loch, mitten im Körper. Ich spüre das Loch immer noch. Und doch beruhigt mich der Gedanke, dass sie selbst entschieden hat, wann die Zeit gekommen ist.
An diesem letzten Abend, neben ihrem kleinen, in Büffelfell gehüllten Körper, musste ich nicht weinen. Wir hatten drei Jahre lang alles versucht, um meine Mutter am Leben zu halten. Dass sie zu Hause sterben durfte, in ihrem Liegestuhl, war ihr Geschenk.
Erste:r Ansprechpartner:in bei einer Depression und/oder Suizidgedanken ist der Hausarzt oder die Hausärztin, der:die Betroffene an eine:n Psychotherapeut:in oder Psychiater:in überweisen kann.
Betroffene können sich außerdem an das Infotelefon Depression wenden (0800-3344533) oder an die Telefonseelsorge (unter 0800-1110111, 0800-1110222 oder 116123). Bei der Telefonseelsorge findet auch Beratung per Chat oder Mail statt.
Wenn jemand einen konkreten Suizidplan äußert und bereit ist, diesen in den nächsten Minuten oder Stunden durchzuführen, sollte man als beobachtende oder involvierte Person sofort die Telefonnummer 110 oder 112 anrufen.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger