Was passiert mit dir, wenn du Statistiken über Sex liest? Zum Beispiel eine, für die knapp 5000 Personen Auskunft darüber gegeben haben, wie oft sie in den letzten vier Wochen mit anderen Menschen geschlafen haben? 13 Prozent der Männer und 11 Prozent der Frauen zwischen 26 und 35 hatten in diesem Zeitraum mehr als zehnmal Sex, bei den 46- bis 55-jährigen waren es nur noch 6 Prozent. Bei den Befragten über 66 erreichte diese Häufigkeit niemand mehr (bei allen ging es um heterosexuellen Sex). Ich wette einen Jahresvorrat Müsliriegel darauf, dass du diese Zahlen soeben blitzschnell in deinem Kopf mit deinen eigenen abgeglichen hast.
Wir könnten diese Zahlen völlig neutral sehen. Weil sie keinerlei Auskunft über die Qualität des Sex geben, den wir erleben, egal wie viel oder wie wenig das sein mag. Aber wer sich bei Sexthemen mit anderen vergleicht, bleibt dabei selten entspannt. Warum? Weil wir wissen wollen, ob wir normal sind.
Diese Frage treibt Menschen beim Thema Sex wirklich um. Ich rede hier gar nicht von einem Gummienten-Fetisch, sondern von ganz banalen Fragen wie jenen, die in den Statistiken vorkommen: Ist es normal, wann und wie oft oder selten ich Sex will und mit wem? Und wann ich Bock habe? Ist es normal, wenn ich oder mein:e Partner:innen in einer langen Beziehung sehr unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse haben? Wer nicht glaubt, wie stark diese Fragen Menschen beschäftigen, kann Emily Nagoski fragen. Sie ist Sexualwissenschaftlerin, ihr neues Buch ist gerade auf Deutsch erschienen. „Kommt zusammen. Die Kunst (und Wissenschaft!) sexuell erfüllter Beziehungen“ heißt es. Wenn Nagoski anderen erzählt, was ihr Beruf ist, kommt als Erstes die Frage „Bin ich normal, wenn…?“
Was „normal“ wirklich bedeutet
Das ist eine gute Frage – so lange man sich keine Gedanken darüber macht, was „normal“ eigentlich heißen soll. Es gibt darauf nämlich eine wissenschaftliche Antwort. Wenn etwa tausend Menschen an einer Umfrage teilnehmen und eine Frage mit mehreren Antwortmöglichkeiten beantworten, zählen die Wissenschaftler:innen alle Ergebnisse zusammen. Danach teilen sie die Summe durch die Anzahl der Menschen, die gültig geantwortet haben. Das ergibt den Lageparameter, genauer gesagt den Mittelwert. „In diesem Kontext würde ‚normal‘ jede Antwort innerhalb von zwei Standardabweichungen vom Lageparameter einschließen“, erklärt Nagoski.
„Schatz, ich glaube, unsere Sexhäufigkeit liegt nicht innerhalb von zwei Standardabweichungen vom Lageparameter“ – vielleicht wäre ich gern jemand, der Beziehungsgespräche mit Sätzen wie diesem beginnt. Noch lieber wäre ich aber jemand, der sich die Frage „bin ich normal“ in Bezug auf die Menge an Sex in meiner Beziehung nie gestellt hat. Leider habe ich mir sie mir schon sehr oft und sehr zermürbend gestellt. Weil Sex mit dem Mann, den ich liebe, irgendwann keine selbstverständliche und einfache Sache mehr war. Laut der Anthropologin Helen Fisher dauert die Anfangsphase leidenschaftlicher Liebe in der Regel etwa zwölf bis 18 Monate (na, hast du deine Beziehung schon damit verglichen?). Da ich keinen wirklich guten Rat dazu gefunden habe, was man nach diesen 18 Monaten tun sollte, wenn man in Sachen Sex nicht langsam, aber sicher auf die Frührente zusteuern möchte, habe ich einmal ein Buch über diese Frage geschrieben. Spoiler: Ich habe keine wirklich gute Antwort gefunden.
Ich wünschte, ich hätte stattdessen Emily Nagoskis Buch geschrieben. Es ist viel besser. Ich bin der Idee hinterhergejagt, es gäbe irgendeinen Trick, einen schlauen Lifehack oder eine Methode, um Sex in einer langen Beziehung wieder so aufregend werden zu lassen, wie mit einer Person, die man erst ein paar Wochen lang kennt. Nagoski hingegen hat verstanden, was hinter einer solchen Jagd steckt: nämlich nichts als ein Klischee von gutem Sex, das wir alle uns irgendwann in Schule, Gesellschaft und über Medien angeeignet haben (und das fast alle Sexratgeber, die ich mir angesehen habe, bedienen). Dieses Klischee besagt, dass leidenschaftliches, spontanes sexuelles Begehren mühelos zu sein hat, dass Sex auf die richtige Weise funktioniert, wenn uns dieses Begehren überwältigt und mitreißt.
Nagoski hat mir gezeigt, wie wichtig es für die eigene Zufriedenheit ist, dieses Klischee gründlich zu verlernen. Dafür stützt sie sich, hurra!, auf wissenschaftliche Studien. Demnach ist egal, ob Paare…
- häufig oder selten Sex haben
- kinky oder eher vanilla sind
- Orgasmen erleben
- monogam oder nichtmonogam leben
- Pornos konsumieren
- konventionell gut aussehen
- spontan Lust auf Sex verspüren
- sich mit sexuellen Techniken auskennen
Hingegen gibt es drei Merkmale, die Partner:innen auszeichnen, die über Jahre hinweg eine starke sexuelle Verbindung miteinander haben:
- Ihre Freundschaft ist stark, das heißt: Sie vertrauen und bewundern einander.
- Sie sind sich einig darin, dass Sex in ihrer Beziehung wichtig ist.
- Sie übernehmen nicht die Meinungen anderer darüber, wie Sex funktionieren sollte. Sie wissen, was für sie tatsächlich gut ist.
Niemand will für Sex Hausaufgaben machen
Bei mir führt diese Liste erst einmal zu genau dem Durchatmen, das Sexhäufigkeitsstatistiken garantiert nicht auslösen. Eigentlich ist mir ja längst bewusst, dass es völlig in Ordnung ist, wenn mein Partner gleichzeitig mein bester Freund ist. Dennoch verfolgt mich seit Jahren eine These der international berühmten Paartherapeutin Esther Perel. Demnach verlieren Liebende unweigerlich an Anziehungskraft füreinander, weil zu viel alltägliche Nähe entsteht. Vertrautheit, Routine, Sicherheit bedeuten den Tod für Hitze und Begehren. Dieses braucht Luft und Raum, eine Distanz zur Partnerin oder zum Partner, die Sehnsucht erzeugt. Klingt überzeugend, nicht wahr? Fand ich auch. Es kann sich aber auch vernichtend anfühlen. Wie soll man es realistisch schaffen, in einem zugepackten Alltag auch noch Platz für Geheimnisse und Distanz zu schaffen? Wer will neben allem anderen auch noch eine erotische To-Do-Liste?
Die Sexualwissenschaftlerin und Autorin Emily Nagoski Foto: Paul Specht
Ich bin mit einem Paar befreundet, das seit mehr als zehn Jahren zusammen ist, sie sind Künstler:innen, haben keine Kinder und eine offene Beziehung. Noch nie habe ich Menschen erlebt, die sich mehr um die Distanz, Offenheit und Abwechslung bemüht haben, die Esther Perel vorschlägt. Einmal hat meine Freundin als Überraschung zum Geburtstag ihres Partners ein Hotelzimmer gemietet und für ihn so getan, als sei sie Sexarbeiterin. Für dieses Engagement habe ich Respekt. Tatsache ist, dass die beiden insgesamt nicht mehr und nicht weniger sexuell frustriert sind als die meisten anderen Paare, die ich kenne.
Nagoski rehabilitiert Nähe und Freundschaft in Liebesbeziehungen, sie macht sie zu etwas Wertvollem. Sie sieht darin sogar einen Schlüssel für eine starke sexuelle Verbindung. Sex zwischen Menschen, die sich lange kennen und vertrauen, meint sie, kann schön, verspielt, leicht und leidenschaftlich sein. Dafür braucht es keine To-do-Liste. Aber wir müssen uns von einem bekannten Drehbuch verabschieden.
Wenn du vom gesellschaftlichen Drehbuch abweichst, liegt es am Drehbuch, nicht an dir
Kaum eine Idee ist in unserer sexuellen Kultur so hartnäckig verankert wie der Mythos des spontanen Verlangens, also „dass die ‚natürliche‘ Art, Sex zu haben, spontan aus gegenseitiger Geilheit entsteht, ohne dass man darüber reden oder einen Plan fassen muss“, schreibt Nagoski. Sie nennt das auch den Begehren-Imperativ. „Wer kein spontanes Begehren empfindet, will Sex nicht ‚genug‘.“
Kommt dir diese Erzählung bekannt vor? Viele sprechen deswegen von schwachem sexuellen Verlangen, sorgen sich um ihre Beziehungen, bestellen unbequeme Unterwäsche und kontaktieren Therapeut:innen. Dabei ist der Begehren-Imperativ einfach Unsinn. Spontane gegenseitige Geilheit ist nur eine mögliche Variante von Begehren. Sie ist „ähnlich wichtig wie gleichzeitige Orgasmen, also ein netter Partytrick, aber nicht unbedingt notwendig für ein dauerhaft befriedigendes Sexleben“, so Nagoski.
Und: Es ist absolut normal, wenig oder gar kein spontanes Verlangen zu spüren, auch wenn das gesellschaftliche Drehbuch es anders vorsieht. „Wenn Sie von dem gesellschaftlichen Drehbuch abweichen, liegt das am falschen Drehbuch, nicht an ihnen“, sagt Nagoski.
Wie gut es tut, sich daran zu erinnern, zeigt eine Umfrage in der KR-Community, an der sich rund 1.300 Leser:innen beteiligt haben. Eine der Fragen, die ich darin gestellt habe, war: „Hat sich die Bedeutung von Sex für dich im Laufe der Zeit verändert?“ Kathi antwortete: „Total. Ich dachte immer, es geht beim Sex darum, dass beide unbedingt einen Orgasmus haben müssen. Dieser Druck hat bei mir dazu geführt, dass ich oft keine Lust hatte, mit meinen Partnern intim zu werden. Ebenfalls habe ich weder meine Vorlieben noch den Druck je kommuniziert. Dies ist in meiner aktuellen Partnerschaft anders. Wir kommunizieren, haben Sex aus Spaß und weil wir die Nähe und Intimität zueinander genießen. Es ist nicht wichtig, einen Orgasmus zu haben.“
Spontanes Begehren können wir nicht kontrollieren. Viele versuchen es trotzdem, was extrem frustrierend sein kann. Es ist eine demütigende Erfahrung, vor seinem Partner zu stehen und darauf zu warten, dass der Gott der Erotik kommt und macht, dass der Sex so wird wie im Fernsehen. Das ist aber auch gar nicht nötig. Nagoski schlägt eine Alternative vor: Wir können „Begehren“ mit „Vergnügen“ (Pleasure) ersetzen:
Vergnügen und Begehren, erklärt sie, betreffen unterschiedliche Systeme im Gehirn. Begehren ist mit Wunsch oder Motivation verbunden und hängt damit zusammen, wie stark ein Reiz unsere Aufmerksamkeit erregt. Vergnügen hingegen hat mehr mit einem Gefühl von Wohlbefinden zu tun. Begehren ist „Wollen“, Vergnügen ist „Mögen“. Begehren ist in einem großen Netzwerk von Dopamin-Schaltkreisen verankert, das die Intensität unserer Motivation widerspiegelt. Je stärker dieses Netzwerk aktiviert wird, desto intensiver bemühen wir uns, ein Ziel zu erreichen. Vergnügen entsteht in kleineren Bereichen des Gehirns, in denen Opioide und Endocannabinoide übermitteln, wie gut sich eine Erfahrung anfühlt. „Vergnügen ist gewissermaßen Befriedigung und Begehren ist Unzufriedenheit, denn Vergnügen bedeutet, eine Erfahrung zu genießen, während Begehren die Motivation ist, etwas anderes zu erreichen“, so Nagoski.
Quelle: Emily Nagoski, Come Together
Sex ist nicht immer besser als Fernsehen
Um zu genießen, brauchen wir keinen launischen Gott der Erotik, sondern einfach nur Aufmerksamkeit für das, was uns selbst und unseren Partner:innen guttut. Und die Bereitschaft, eine Situation zu schaffen, die Genuss ermöglicht. Es geht nicht in erster Linie darum, Genitalien zu stimulieren, sondern darum, einen Kontext zu schaffen, der es unserem Gehirn erlaubt, Gefühle und Empfindungen als sexy zu interpretieren. Das ist deswegen wichtig, weil sich die gleiche Berührung unter unterschiedlichen Umständen völlig anders anfühlen kann. Anders gesagt: Wenn ich gestresst bin und E-Mails beantworten muss, will ich nicht, dass mir jemand den Nacken küsst.
Kontext schaffen heißt: Arbeit, Familie, Freunde und Haushalt beiseite zu lassen und sich auf den eigenen Körper und den seiner Partnerperson einzulassen. Man wird nicht spontan von der Lust ins Bett getrieben, sondern steigt zusammen hinein und schaut, was passiert, ohne Erwartungen und Forderungen. Nagoski nennt das „responsives“ Verlangen. Im Gegensatz zur spontanen Variante verlangt es etwas Planung. Denn es ist sehr schwierig, für Lust empfänglich zu sein, wenn man die unerledigte Steuererklärung im Kopf hat. „Genuss entsteht nur unter ganz bestimmten Umständen, und die postindustrielle Welt des 21. Jahrhunderts schafft diese Umstände nicht sehr oft“, sagt Nagoski in einem Gespräch mit der New York Times. „Wir sind alle überwältigt, erschöpft, gestresst. Da muss man sich natürlich anstrengen, um aus dem alltäglichen Gemütszustand in einen sexy Gemütszustand zu gelangen.“ Nagoski rät daher zu geplanten Sex-Dates.
Wer das unsexy findet, könnte über eine Frage nachdenken, die sie in einer Ausgabe ihres Newsletters stellt: „Ich bin mir nicht sicher, wie wir als Kultur an einen Punkt gelangt sind, an dem die automatischen, unwillkürlichen Reaktionen unseres Körpers, wie das spontane Verlangen, als bessere Indikatoren dafür angesehen werden, was wir wollen und mögen, als unsere absichtlichen, bewussten Handlungen.“ Also: Warum eigentlich sollte es authentischer und natürlicher sein, wenn wir spontan oder intuitiv reagieren, als überlegt und bewusst?
Zu einer bewussten Handlung gehört auch die Frage, welcher Sex es wert ist, nicht vielleicht doch die Steuererklärung fertig zu machen. Oder ins Sofa zu versinken, knusprige Dinge zu snacken und fernzusehen. Sex ist nur dann Priorität, wenn wir ihn dazu machen. Deshalb ist die Frage wichtig: Welche Art von Sex ist so gut, dass es sich wirklich lohnt, alles andere links liegenzulassen? Das ist nicht immer leicht zu beantworten. Schließlich ist nicht jeder Sex spannender, als endlich die finale Folge von „Russian Doll“ zu sehen.
Wir funktionieren wie ein Auto
Wenn wir wissen, welcher Sex sich lohnt, können wir Situationen schaffen, in denen er möglich wird. Um das begreiflich zu machen, zieht Nagoski einen Vergleich: Das sexuelle Reaktionssystem ist wie ein Auto. Es gibt ein Gaspedal, das voll auf Sex zusteuert. Es registriert alles in unserer Umgebung, das unser Körper als relevant für Sex wahrnimmt – was wir sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken, denken, glauben oder uns vorstellen. Dieser Prozess läuft ständig und meist unbewusst ab. Alles Mögliche kann das Gaspedal aktivieren. Die Stimme der Partnerperson, der Anblick ihrer nackten Unterschenkel, aber auch, wenn sie etwas tut, wofür wir sie bewundern – zum Beispiel dafür, wie effizient sie die Steuererklärung macht.
Wenn wir nur wenig Erregung und Lust empfinden, glauben wir oft, es liege daran, dass das Gaspedal zu wenig betätigt wird. Das stimmt aber nicht. Ebenso gut kann es daran liegen, dass die Bremsen zu stark greifen. Die Bremse erfasst alle Gründe, warum es gerade nicht der richtige Moment ist, erregt zu sein. Sie nimmt alles wahr, was wir sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken, denken, glauben oder uns vorstellen, und alles, was unser Gehirn als potenzielle Bedrohung gespeichert hat. „Abturnen!“, blinkt auf. Auch das ist ein ständiger und meist unbewusster Prozess. Beziehungsstress kann die Bremse aktivieren, Erschöpfung oder wenn man den eigenen Körper nicht mag. Oder auch einfach, wenn die Kinder nebenan spielen und jederzeit ins Zimmer platzen könnten.
Die Idee von Gas und Bremse, bekannt als das „Duale Kontrollmodell“, stammt nicht von Nagoski, sondern wurde in den Neunzigerjahren am Kinsey Institute entwickelt.
In den Neunzigern! Als ich das erfahren habe, musste ich vor Frust einmal tief durchatmen. Warum erfahre ich das jetzt erst? Warum legen fast alle sexuellen Ratschläge, die ich gelernt habe, so viel Wert darauf, das Gaspedal durchzudrücken – statt darauf, die Bremse zu lösen?
Um die Bremse zu lösen, schlägt Nagoski ein Konzept aus der affektiven Neurowissenschaft vor, das auf den Emotionsforscher Jaak Panksepp zurückgeht. Panksepp hat im Gehirn sieben grundlegende emotionale Systeme identifiziert und benannt. Vier dieser Systeme sind genussfreundlich: LUST, SPIEL, SUCHE und ZUWENDUNG, drei wirken Genuss eher entgegen: PANIK/KUMMER, FURCHT und WUT (Panksepp benutzte Großbuchstaben, um hervorzuheben, dass es um fundamentale, evolutionär tief verwurzelte Mechanismen geht). Nagoski fügt diesen Bereichen noch zwei Bonus-Bereiche hinzu: den DENKENDEN GEIST oder das BÜRO, wo wir planen und überlegen, sowie die BEOBACHTENDE DISTANZ, eine Art Aussichtspunkt, um unser eigenes inneres Erleben vorurteilsfrei zu betrachten. „Die sieben primären Emotionsbereiche plus die Bonus-Bereiche bilden unseren inneren Kontext“, schreibt Nagoski.
Das mag kompliziert klingen, vor allem wenn man eigentlich einfach nur mehr Spaß im Bett mit seiner Partnerperson haben möchte. Aber wenn es einfach wäre, über Jahre oder Jahrzehnte eine starke sexuelle Verbindung zu einem Menschen zu haben, müssten sich Tausende Therapeut:innen einen neuen Job suchen.
Man kann sich die emotionalen Bereiche wie Räume im Gehirn vorstellen oder, wie Nagoski vorschlägt, den Grundriss eines Hauses (sie rät sogar dazu, diesen für sich zeichnen). LUST ist dann ein Raum in diesem Grundriss, der an manche Räume angrenzt, von anderen aus aber gar nicht zugänglich ist. Je nachdem, wo auf diesem Grundriss wir uns aufhalten, ist der Weg in die Nähe des LUST-Bereichs leichter oder schwerer. Gut möglich etwa, dass es vom TRAUER-Raum keinen direkten Übergang zu LUST gibt, dafür aber vielleicht von ZUWENDUNG aus oder von SPIEL. Der Trick ist, nicht direkt in den LUST-Raum marschieren zu wollen, sondern in den Raum direkt daneben.
Für Nagoski etwa ist SUCHE ein Raum, der an LUST angrenzt. Sie liebt Forschung und findet es tatsächlich erregend, sich mit anderen intellektuell auszutauschen. Ihr Mann, der Künstler ist, kann damit wenig anfangen. Dafür finden beide den Übergang zu LUST durch SPIEL. „Lachen und die freundschaftbildende Wirkung von SPIEL könnten der am meisten unterschätzte, aber zugleich häufigste Weg zur LUST sein“, schreibt Nagoski. Ihr Humor half Nagoski und ihrem Partner in einer Phase, in der ihr Sexleben eine echte Flaute erlebte. Sie litt in dieser Zeit unter beruflichem Stress, Gesundheitsproblemen und Erschöpfung. „Ich konnte Ja zu Sex sagen, wenn wir beide bereit waren, gemeinsam über die Tatsache zu lachen, dass ich eine Sexpertin war, die sich nur mit Mühe von der Couch ins Bett schleppen konnte“, erzählt sie.
Wie wichtig der Raum neben der Lust ist, erkennen manche Menschen instinktiv. Bei meiner Umfrage in der KR-Community antwortete etwa Lilo: „Uns hilft, wenn wir uns besonders an stressigen Tagen am Abend Zeit zum Kuscheln nehmen, daraus dann häufig mehr wird und wir dann nach dem Sex entspannter schlafen können. Dann beginnt der nächste Tag häufig auch entspannter. Manchmal fühlt sich das wie ein Kreislauf an.“
„Kommt zusammen!“ von Emily Nagoski ist am 2. September bei Knaur erschienen.
Unter bestimmten Umständen können auch die eher genussfeindlichen Räume an LUST angrenzen. Wenn eine Trennung droht oder bereits passiert ist, benutzen Menschen Sex als Bindungsverhalten. Dann mischen sich ZUWENDUNG, WUT und LUST. Von WUT motivierte LUST kann allerdings auch extrem destruktiv sein. „Dann wollen Sie Sex mit jemandem haben, um diese Person zu zerstören. Doch das ist kein Sex, sondern sexuelle Gewalt – weil Sex dabei als Waffe benutzt wird. Dazu ein pauschales Nein“, schreibt Nagoski.
Meistens ist es aber ziemlich schwierig bis unmöglich, von den genussfeindlichen Räumen zur LUST zu kommen. Das ist besonders dann eine Herausforderung, wenn man längere Phasen des Lebens in diesen Räumen verbringt, was sich kaum vermeiden lässt. Alle erleben irgendwann Trauer, Wut oder Angst. Nagoski glaubt, dass ein bestimmtes Gefühl Partner:innen durch schwierige Zeiten tragen kann, auch sexuell. Dieses Gefühl ist Bewunderung.
Die Liste unserer Schwächen ist lang
Jede:r weiß, dass es ganz schön schwierig sein kann, seine Partnerperson(en) zu bewundern. Denn, mal ehrlich, wie sehr nerven die manchmal? Mein Mann etwa sitzt gerne auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaut auf dem Handy Tischtennisturniere. Das Quietschen der Turnschuhe der Spieler und das Klacken der Bälle lässt mich mit den Zähnen knirschen, bis ich nach wenigen Minuten unfreundlich frage: „Könntest du bitte Kopfhörer benutzen?“ Und habe ich schon erwähnt, dass er in der Küche immer das Brett, auf dem er sich ein Brot geschmiert hat, liegen lässt? Überall sind Krümel! Ich mag es nicht, Krümel zu sehen! Er wiederum könnte sich zu recht darüber aufregen, dass ich extrem geräuschempfindlich bin, weswegen ich eine Stimmung verbreite wie ein schlechtgelaunter Kampfpudel, wenn ich Tischtennisbälle höre. Die Liste unserer Makel und Schwächen ist lang. Und dabei habe ich unsere anstrengenden Charaktereigenschaften noch gar nicht erwähnt.
Zum Glück gibt es laut Nagoski Methoden, das Gefühl der Bewunderung in einer Beziehung zu stärken. Eine besteht darin, sich klarzumachen, dass die besten Eigenschaften eines Menschen untrennbar mit den schlechtesten verbunden sind. „Dickköpfig wird zu hartnäckig. Unkonzentriert wird zu freidenkend, kreativ. Fordernd wird zur Ansicht, dass wir gemeinsam das Beste verdienen“, schreibt sie.
Natürlich ist das eine vereinfachte Formel. Wenn sich ein Mensch in einer Beziehung völlig daneben benimmt, zum Beispiel nie die Kinder abholt oder das Bad putzt, ist das vielleicht ein Teil seiner oder ihrer charmanten Verträumtheit, aber praktikabel ist es trotzdem nicht.
Dennoch finde ich den Vorschlag sehr schön, „Leidenschaft“ durch „Bewunderung“ zu ersetzen. Wenn wir dann noch die Frage „Bin ich normal?“ mit „Habe ich Vertrauen und Freude?“ ersetzen, ist es vielleicht ganz einfach, Sex weniger mit Bedeutungen zu überfrachten und ihn mehr als eine Art Hobby zu sehen, wie Nagoski vorschlägt. Warum eigentlich nicht?
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert