Wir verdanken Fürst Pückler zwei Dinge: erstens ein Eissandwich aus Schokoladen-, Erdbeer- und Vanilleeis zwischen zwei Waffeln. Pückler war nämlich Feinschmecker.
Und zweitens ein Gefühl, das viele kennen: das Fernweh. Pückler benutzte dieses Wort 1835 als Erster in seinen Reiseberichten, um die Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach Abenteuern in der Ferne auszudrücken. Bis dato kannte man nur das Heimweh: das Gefühl von Einsamkeit und Unwohlsein an einem unbekannten Ort.
Fürst Pückler setzte damit in Gang, wofür besonders Deutsche in der ganzen Welt bekannt sind: die Reiselust. 2023 haben Deutsche so viel Geld für ihren Urlaub ausgegeben wie noch nie – durchschnittlich mehr als 1.500 Euro pro Kopf. Man reist, um sich zu entspannen, klar. Viele erwarten aber deutlich mehr von ihrem Urlaub: Reisen soll uns zu interessanten, gebildeten, weltoffenen Menschen machen.
Ich bin selbst ziemlich viel gereist: Couchsurfing im Kosovo, Trampen in Kirgistan, Wandern in Armenien. Ja, diese Reisen haben mich selbstbewusster, mutiger und oft ziemlich glücklich gemacht. Ich habe nun spannende Geschichten zu erzählen, wie die, als ein tadschikischer Grenzbeamter meine Tasche kontrollierte, einen Tampon rauszog und mich mit grimmiger Miene fragte, was das sein sollte. (Ich sagte ihm, das könne ich auf Russisch nicht erklären.)
Lange glaubte auch ich, Reisen mache mich zu einem besseren Menschen. Doch eines der wenigen Dinge, die mich das Reisen lehrte, war: Damit habe ich mich selbst belogen. Wir reisen aus allen möglichen Gründen. Die Welt kennenzulernen, gehört nicht dazu. Ich will wissen, warum das so ist.
Reisen ist wie ein Stromschlag, den man sich gegen die Eintönigkeit des Alltags versetzt
Seien wir ehrlich: Tourismus macht die Umwelt kaputt und schadet Orten wie Dubrovnik oder Venedig, die völlig überbereist sind. Tourismus ist weltweit für etwa acht Prozent aller Treibhausemissionen verantwortlich. Wie heftig diese Auswirkungen sind, hat die Corona-Pandemie gezeigt: Als der Flugverkehr 2020 beinahe zum Erliegen kam, fielen die globalen CO2-Emissionen um sechs Prozent, so viel wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. In Palma de Mallorca und Barcelona protestierten diesen Sommer Tausende Menschen gegen steigende Mieten und die Wasserknappheit, die der Tourismus verursacht. Für sie wurde das Wort „Over-Tourism“ erfunden: Von „Over-Tourism“ geplagte Orte leiden so sehr unter den Menschenmassen, dass sie für die Bewohner:innen kaum noch lebenswert sind.
Das allein wären eigentlich schon genug Gründe, zuhause zu bleiben. Mich interessiert aber eine andere Annahme, mit der viele Menschen ihre Fernreisen rechtfertigen: Reisen macht mich zu einem besseren Menschen. Reicht das als Grund, um 2024 noch reisen zu gehen?
Das möchte ich die Spezialisten fragen: Blogger:innen, die Reisen zum Beruf gemacht haben. Diese im Sommer zu erwischen, ist gar nicht so leicht. Denn Reiseblogger machen jetzt das, was Reiseblogger eben so machen: Reisen. Zwei Berufsreisende habe ich trotzdem gefunden: Claudia Sittner, 46, die den Blog „Weltreize“ betreibt, und ihr Partner Nicolo, 49 Jahre alt. Für Claudia ging es im Oktober 2015 ziemlich klassisch los: Sie nahm sich ein Jahr Sonderurlaub und buchte mit ihrem damaligen Partner ein Round-The-World-Ticket. Warum Claudia den Drang hatte, in die Welt hinauszugehen? „Mein Leben war oberflächlich betrachtet in Ordnung. Vollzeitjob, Beziehung, nette Altbauwohnung in Hamburg. Aber wenn ich so zurückgeschaut habe, dann war da nicht viel, woran ich mich erinnert habe“, sagt sie. Die Reise habe ihr Leben verändert, sagt Claudia. „Ich hatte oft den Drang, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Das konnte ich erst auf Reisen hinter mir lassen.“
Abwechslung vom Alltag ist der schönste Grund für eine Reise. Allein, damit man nicht regelmäßig einen Lagerkoller kriegt und den Arbeitskolleg:innen an die Gurgel geht. Reisen ist wie ein Stromschlag, den man sich gegen die Eintönigkeit des Alltags versetzt.
Reisen schärft außerdem die Sinne. Das merke ich auch bei mir: Mein Alltag ist so gewöhnlich, dass ich quasi im Autopilot durch mein Leben steuere. Doch bei einer Reise nach Armenien war ich auf einmal an einem Ort, wo mir so gut wie gar nichts vertraut vorkam. Ich musste besonders aufmerksam sein, und plötzlich fielen mir die kleinen Dinge wieder auf: das Plätschern der Wasserspender, die überall in der Hauptstadt Jerewan verteilt sind, oder der Duft eines Suppentopfes, der an einem Fenster köchelte. Ich konnte stundenlang auf einem Marktplatz sitzen und alten Männern beim Schachspielen und Plaudern zuschauen. Zeit dafür zu haben, alle meine Sinne zu benutzen, macht mich glücklich. Wie KR-Reporter Bent Freiwald schreibt: Unser Gehirn liebt Abwechslung. Und du machst es besonders dann glücklich, wenn du es mit neuen Eindrücken fütterst.
Und nicht zuletzt versprechen sich viele von einer Reise, mehr über die Welt zu erfahren. Nicolo, Claudias Partner, erzählt von seiner Weltreise: „Abends auf Borneo einem Orang-Utan zuzusehen, wie er sich sein Nest baut und wie ähnlich dieses Tier dem Menschen eigentlich ist. Das hat mich total begeistert.“ Wer reist, ist aufmerksamer für die Konflikte dieser Welt: Sieht man die von Kugeln durchlöcherten Hauswände in Sarajevo, setzt man sich mit den Jugoslawien-Kriegen auseinander. Und wer riesige Palmölfelder mit eigenen Augen sieht, begreift, wie Monokulturen die Umwelt zerstören.
Reisen ist vor allem eines: ein Statussymbol
Reisen ist heute viel mehr eine erwünschte Pause des Alltags. Aus dem Fernweh, das Fürst Pückler einst beschrieb, ist ein milliardenschweres Geschäft geworden. Wer gerne wandert, kann bei Globetrotter das ganze Reisebudget für Zip-Off-Trekkinghosen, einen super praktischen Faltrucksack und regenfeste Stirnlampen ausgeben, bevor es überhaupt losgeht. Auch Claudia Sittner, die Reisebloggerin, verdient an der Reiselust mit: Als Sabbatical-Mentorin berät sie heute Menschen, die sich eine längere Reiseauszeit wünschen, aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen.
Reisen ist ein Statussymbol und zwar das einer sich entwickelnden Mittelschicht. Als der deutsche Reiseboom in den 1970er Jahren begann, waren Flugreisen noch ein solches Privileg, dass bei der Ankunft eines Flugzeuges ein Fotograf die Aussteigenden knipste. Die Fotos sollten an das Jetset-Leben der Stars und Sternchen erinnern. Heute, wo man mit einer Flugreise niemanden mehr beeindrucken kann, muss man andere Leistungen bieten: Wie Lexie Alford, die mit 21 Jahren als jüngste Person der Welt jedes einzelne Land bereist hat. Dafür bekommt sie in den Kommentaren ihres Tedtalks vor allem Bewunderung. Aber auch, wer auf kleineren Bühnen Tipps zu den geheimsten Stränden in Thailand geben kann, steigert damit sein Ansehen. Zumindest mehr als jemand, der jedes Jahr nach Usedom fährt.
Trotzdem: Reisen stimuliert die Sinne und zeigt einem, was in der Welt alles schiefläuft. Aber macht das alleine zu einem besseren Menschen? Wenn „ein besserer Mensch“ heißt: eine bessere Fotografin, ein besserer Autor, besser in Spanisch oder der Geschichte des Balkans, dann ja, vielleicht. Aber nicht, wenn „ein besserer Mensch“ heißt: ein toleranter und welterfahrener Mensch. Jemand, der sich mit Menschen auf der ganzen Welt solidarisch verbunden fühlt. Denn das, glaube ich, wollen Reisende gar nicht.
Reisen kann dir ganz schön den Kopf verdrehen
Jean des Esseintes war 1884 voller Vorfreude nach Amsterdam gereist: Er hatte sich auf den rustikalen Lebensstil der Niederländer gefreut, auf Tavernen, in denen ausgelassen gefeiert wird und auf den Anblick rundgesichtiger Mädchen, die verträumt aus Fenstern schauen. Doch des Esseintes musste enttäuscht feststellen: Die Schönheit der Niederlande, die er suchte, gab es so konzentriert nur in den Galerien seiner Heimatstadt Paris.
Den exzentrischen Aristokraten Jean des Esseintes gab es nicht wirklich, er ist eine Romanfigur des Schriftstellers Joris-Karl Huysmans. Aber noch mehr als 200 Jahre nach der Veröffentlichung seines Romans „À rebours“ (dt. „Gegen den Strich“) haben Reisende mit Jean des Esseintes ziemlich viel gemeinsam. Sie suchen französische Eleganz in Paris, skandinavische Gelassenheit in Malmö, karibische Lebenslust in Grenada. Die Realität ist dann häufig verwässert von …, naja, der Wirklichkeit: Verkehr stinkt, Hitze nervt und wie verdammt nochmal kaufe ich ein Busticket?
Im Extremfall kann die Enttäuschung über die Wirklichkeit sogar krank machen: Über 60 Japaner:innen mussten zwischen 1988 und 2004 in Paris hospitalisiert werden, weil sie an Verwirrung, depressiven Symptomen oder Wahnzuständen litten. Der Grund? Die Pariser Realität hatte nichts gemein mit den sauberen Straßen, höflichen Menschen und der eleganten Mode, die sie sich von der sauer ersparten Reise erhofft hatten.
Reisen hat mich noch nie krankenhausreif gemacht. Aber eine meiner ersten Reiselektionen war, dass die meisten Orte mit meiner Traumvorstellung kaum etwas gemeinsam haben. Doch auch nach dieser Einsicht hat Reisen alleine kaum dafür gesorgt, dass ich mich einem Land oder seinen Menschen verbundener fühlte. Im Gegenteil, viele Länder waren mir nach einer Reise genauso fremd wie zuvor. Wenn ich sonnengebräunt und voller guter Erinnerungen aus einem Urlaub zurückkehrte, wusste ich zwar, welche Secret Spots in Kambodscha wirklich noch geheim waren. Aber ich wusste genauso wenig wie zuvor, welche Witze man im Norden über den Süden machte, wohin kambodschanische Familien selbst in den Urlaub fuhren oder welche Musik Kambodschanerinnen in meinem Alter hörten.
Ist Reisen wirklich besser, als ein Buch zu lesen?
Tourist:innen sind wie Kultgurus: Sie verschleiern gekonnt, wer sie wirklich sind. Sie erzählen sich, sie seien Backpacker, Bikepacker, digitale Nomaden oder unterwegs ohne Geld. Tourist:innen? Das sind die anderen.
Diese Erzählung ist Zielscheibe von zahlreichen Memes und Parodien geworden, weil sie so selbstentlarvend ist. Aber irgendwie ist sie auch verständlich. Denn viele Reiseziele gleichen heute einem Disneyland, in dem man authentische Reiseerlebnisse suchen muss. Ist es als Reisende:r überhaupt möglich, einen Ort „authentisch“ zu erleben?
Im Sommer 2019 trampte ich durch Zentralasien bis in das Wachan-Tal im Süden Tadschikistans. Ich konnte einen Stein über den Pandsch-Fluss nach Afghanistan werfen, dahinter erhob sich das Hindukusch-Gebirge. Es war magisch. Und ich ziemlich glücklich. Eine Woche lang kletterte ich auf jahrtausendealte Festungen und die Berge hinter den Dörfern. Irgendwann traute ich mich, mein brüchiges Russisch an einem Bauern auszuprobieren. Er erzählte mir, das Leben sei knüppelhart: viel schwere Arbeit, die doch kein Geld einbringt. Der Anblick der Berge deprimiere ihn, denn: „Nirgends können wir hin“, sagte er mit bitterem Blick. Nach Russland zu emigrieren, sei die einzige Möglichkeit, der Armut zu entfliehen.
Ich nickte verständnisvoll. Trotzdem hätte die Kluft zwischen uns kaum größer sein können: Die unberührte Berglandschaft, die mich in Euphorie versetzte, war für den Bauern eine Festung, die ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation verdeutlichte. Ich war stolz, dieses Gespräch geführt zu haben, und das auch noch auf Russisch. Aber für die Erkenntnis, dass in einem Tal im Süden Tadschikistans, durch das ziemlich viel afghanisches Heroin geschmuggelt wird, die Menschen ziemlich arm sind, hätte ich wahrscheinlich nicht nach Zentralasien reisen müssen.
Immer wieder machte ich diese Erfahrung: Viele der Länder, die ich bereiste, waren mir im Nachhinein genauso fremd wie zuvor. Zu groß war die Kluft zwischen mir und den Lebensrealitäten, die ich besser zu verstehen suchte. Nur selten hatte ich vor Ort Kontakte, die mir mehr zeigen konnten als das, was Tourist:innen sich eben so anschauen. So brachte mich allein das „Da sein“ einem Ort kaum näher. Und die Dinge, die ich durch das Reisen lernte, hätte ich auch in einem Buch oder einem Film erfahren können.
Mich nach einer Reise einem Land näher zu fühlen als vorher, gelang mir nur, wenn ich eine Verbindung dorthin hatte. Zum Beispiel in China, weil ich Sinologie studiere und mittlerweile zwei Jahre dort gelebt habe. Oder in der Ukraine, wo ich eine Freundin besuchte. Als wir gemeinsam durch Odessa schlenderten und sie mir von ihrer Kindheit in Donezk erzählte, waren mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt völlig egal. Ich verließ Odessa mit dem Gefühl, etwas über die Ukraine gelernt zu haben, das mir verwehrt geblieben wäre, egal wie lange ich auf die Potemkinsche Treppe gestarrt hätte.
Es gibt kein richtiges Reisen im falschen
Eine grundlegende Veränderung unseres Reiseverhaltens hat Corona nicht gebracht. Mittlerweile reisen wieder genauso viele Deutsche wie vor der Pandemie. Allerdings darf man nicht vergessen: Die Tourismusbranche hält die Wirtschaft vieler Länder über Wasser. Tourismus ist nicht per se das Problem, sondern die Ausmaße an besonders beliebten Zielen, die den Einwohner:innen das Zuhause nimmt. Wie sollen wir in Zukunft also verantwortungsbewusst reisen?
Ich würde am Ende dieses Textes gerne behaupten, dass ich dafür eine Lösung habe. Dass ich heute nur noch reise, wenn ich einen guten Grund dafür habe. Denn Reisen ist ein ziemliches Privileg, das sich nur wenige Menschen überhaupt leisten können. Und es ist heute (vor allem mit einem deutschen Pass) so einfach, dass ich mir kaum noch Gedanken darüber machen muss, was ich eigentlich von einer Reise will. So wie KR-Reporter Lars Lindauer schreibt: „Urlaub macht man halt, wie die Steuererklärung.“ Und wenn ich schon die Umwelt mit einem Flug oder einer Autofahrt belaste, dann sollte ich wenigstens einen guten Grund dafür haben, oder?
Die Wahrheit ist: Ja, es gibt einige Dinge, auf die ich mittlerweile achte. Ich reise überland, wo es nur geht, und nehme mir vor, nur noch an Orte zu reisen, zu denen ich eine Verbindung habe. Zum Beispiel, weil ich dort beispielsweise Freund:innen habe oder die Sprache spreche. Aber die Wahrheit ist auch: Es gibt keine völlig selbstlose Art des Reisens, die die Welt unbeschadet hinterlässt. Manchmal reise ich einfach nur, weil ich Lust darauf habe. Weil es mir ein Gefühl von Freiheit gibt, das mir im Alltag oft fehlt. Zu einem besseren Menschen macht mich das bestimmt nicht.
Und ehrlich gesagt: Vielleicht muss ich nicht ständig ein noch besserer Mensch werden. Urlaub macht man schließlich, um den Zwang zur Selbstoptimierung mal hinter sich zu lassen. Für mich ist es okay, einmal im Jahr dem Fernweh nachzugeben. Auch wenn ich dabei nicht interessanter oder gebildeter werde.
Redaktion: Brigitte Wenger, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert