KR-Leserin Martina ist in ihrem Leben unzählige Male umgezogen: Von Italien, wo sie in einem kleinen Dorf aufgewachsen ist, nach Freiburg. Dann kurz zurück nach Italien, über Gießen nach Darmstadt, Koblenz und Wiesbaden. Heute lebt sie mit ihrem Partner in Berlin. An keinem Ort konnte sie bisher Wurzeln schlagen. Darum fragt sich Martina: Wie kann man eine Heimat finden, die nicht der Ort ist, an dem man geboren wurde? „Es wäre schön, mit dem Gefühl durch die Welt zu gehen: Ich weiß, wo der Ort ist, an den ich immer wieder zurückkehren kann“, sagt sie am Telefon.
Ich kann das Bedürfnis nach einem Ort, den man Heimat nennen kann, gut nachvollziehen. Auch ich habe in den vergangenen Jahren an verschiedenen Orten gelebt. Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, besuche ich nur wenige Male im Jahr, um meine Familie zu sehen. Meine Freund:innen sind in ganz Deutschland verstreut. Viele von ihnen sehe ich, wenn es gut läuft, einmal im Jahr. Ich wünsche mir, an einem Ort anzukommen. Vielen Menschen in Deutschland geht es ähnlich: Im Rahmen einer Studie der Zeit, dem unabhängigen Sozialforschungsinstitut Infas und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung WZB aus dem Jahr 2019 wurden 2.070 Menschen zum Thema „Heimat“ befragt. 89 Prozent der Befragten haben angegeben, dass es für sie sehr wichtig ist, eine Heimat zu haben.
Ich frage mich also: Was meint dieser schwammige Begriff „Heimat“ eigentlich? Lässt er sich aus der schmuddeligen Ecke von Lederhosen, Kräuterschnaps und Stammtischparolen befreien? Und vor allem: Wie lässt sich eine neue Heimat finden? Um diese Fragen zu beantworten, habe ich mit einer Psychologin, einem Geographen, einer Coachin und mit der KR-Community gesprochen. Mein größtes Learning: Heimat ist nicht einfach da, sondern muss aktiv gestaltet werden.
Viele Menschen tun sich schwer mit dem Heimatbegriff. Das hat auch meine Umfrage in der KR-Community gezeigt. Rund 160 Leser:innen haben auf meine Fragen geantwortet. Viele von ihnen spüren die Sehnsucht nach einem Ort, der sich mit „Heimat“ beschreiben lässt. Einige weisen aber auch auf das nationalistische Potenzial dieses Begriffes hin. Thilo schreibt: „Heimat gibt es nicht. Es ist eine Idee einer Peergroup, wegen der man denkt, dass man anderen überlegen ist. Man denkt, man kann sich als Gruppe von anderen abheben und abgrenzen.“
Was Heimat eigentlich bedeutet
Beschäftigt man sich mit Heimat, wird schnell klar: Der Begriff ist schwammig und vieldeutig. Selbst die Forschung findet keine einheitliche Definition. Der Duden beschreibt Heimat als „Land, Landesteil oder Ort, in dem man (geboren und) aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt.“ Die Zeit, die wir an einem Ort verbringen, macht ihn also zur Heimat. Das erscheint mir zu einfach. Wären wirklich so viele Menschen auf der Suche nach einer Heimat, wenn es nur darum ginge, eine Weile an einem Ort zu bleiben?
Die Psychologin Beate Mitzscherlich forscht seit vielen Jahren an der Westsächsischen Hochschule Zwickau zu den Themen Identität und Heimat. Sie sagt: „Heimat ist nichts, was wir einfach vorfinden, sondern etwas, was wir so gestalten, dass es zu uns passt.“ Mehr als um die Orte an sich, geht es dabei darum, was ich mit diesen Orten persönlich verbinde, was ich dort erlebt habe und mit wem ich Zeit verbringe.
Aber was steckt hinter Martinas Sehnsucht nach einer Heimat, die ich nur zu gut von mir selbst kenne?
„Wir sehnen uns nach Geborgenheit und Schutz. Es geht darum, sozial eingebunden aber auch handlungsfähig zu sein“, sagt Mitzscherlich. Mit „handlungsfähig“ meint sie, dass man weiß, wie bestimmte Dinge funktionieren, ohne sich jedes Mal vorher den Kopf darüber zerbrechen zu müssen. Ich habe zum Beispiel ein Lieblingscafé und finde hin, ohne vorher Ewigkeiten auf Google Maps danach zu suchen. Ich weiß, wo die nächste Apotheke ist oder welches Ticket ich für die Bahn kaufen muss. Dass ich all das weiß, spart mir Energie im Alltag, die ich an fremden Orten ständig aufbringen muss.
Die US-Amerikanerin Heather Carlson hilft Menschen, damit sie sich schneller an neuen Orten und in neuen Situationen zurechtfinden. In Berlin arbeitet sie als Coachin für Expats, also für Menschen, die zum Beispiel wegen ihres Jobs langfristig in einem anderen Land leben. Sie sagt: „Es geht darum, dass man sich dort wohlfühlt, wo man ist, und dass man selbstbewusst genug ist, um nach draußen zu gehen und sich Ängsten zu stellen, die im Alltag auftreten. Als ich hierher zog, war ich total gestresst, wenn ich einkaufen gehen musste. Ich konnte die Sprache nicht und wusste nicht, ob alles genauso funktioniert wie in Amerika. Ich war total unsicher. Es war der Horror. Man muss Wege finden, solche Dinge zu überwinden.“
Heimat ist immer auch ein Idealbild
Wenn ich an Heimat denke, denke ich an den Geruch der Dampfnudeln, die ich als Kind geliebt habe (und noch immer liebe) und an die vielen Sonntage, die ich mit meiner Handballmannschaft in der Sporthalle verbracht habe. Bei vielen Menschen ist Heimat mit Kindheitserinnerungen verbunden und dadurch sehr positiv aufgeladen. Gleichzeitig entsteht dadurch oft ein Idealbild von Heimat, das im Erwachsenenalter kaum erreichbar ist. Wir tendieren dazu, rückblickend das Gefühl, das wir mit einer Lebensphase verbinden zu verzerren und prägen uns vor allem die positiven Dinge ein. Die Dinge, die wir als Schutz, Unterstützung und Geborgenheit wahrgenommen haben. Der Soziologe Hartmut Rosa hat in einem Interview mal gesagt, Heimat sei die Hoffnung auf einen Weltausschnitt, ein Sehnsuchtsziel, das auch immer ein utopisches Moment hat.
Heimat ist also ein subjektiver Begriff. Jede:r muss für sich selbst herausfinden: Was bedeutet Heimat für mich? Was brauche ich, um mich zugehörig und aufgehoben zu fühlen?
Gleichzeitig lässt sich das Ideal von Heimat kaum erreichen. Das heißt jedoch nicht, dass wir uns von dem Wunsch nach einer Heimat verabschieden müssen. Vielmehr sind wir selbst dafür verantwortlich, unsere kindliche Heimatssehnsucht in unser Leben zu integrieren. Beziehungen zu finden, in denen wir uns fallenlassen und Kindlichkeit zulassen können und uns unserem Ideal von Heimat so weit wie möglich anzunähern.
Doch wie funktioniert dieses Heimatschaffen? Erstmal: Die Vorstellung, dass Heimat etwas ist, das man aktiv herstellen muss, findet sich mittlerweile fast überall in der Forschung. Egbert Daum ist Geograph, war Professor für Sachunterricht an der Universität Osnabrück und hat jahrelang zum Thema Heimat geforscht. Mittlerweile ist er 82 Jahre alt und im Ruhestand. Das Thema Heimat lässt ihn aber nicht los. Er sagt: „Heimat ist Tatort, Ort der Tat.“ Auch Beate Mitzscherlich versteht Heimat als aktiven Prozess. Sie nutzt dafür den Begriff „Beheimatung“ und sagt, dass Heimat immer wieder hergestellt, emotional besetzt und reflektiert werden muss.
„Heimat ist dort, wo deine Herde ist“
Laut Beate Mitzscherlich hat Beheimatung drei Kernbestandteile: den Sense of Community, den Sense of Coherence und den Sense of Control. Sense of Community meint: Ich fühle mich zugehörig. Beate Mitzscherlich sagt, dass Heimat gerade in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr in sozialen Beziehungen gesucht und gefunden werde. Heimat ist also mehr als nur ein Ort. Auch vielen Menschen in der KR-Community geht das so. Sina hat mir geschrieben: „Verwurzelt oder verbunden fühle ich mich nicht mit einem physischen Ort, sondern mit Menschen. Meine Heimat ist das soziale Netz, das mich fängt und trägt, egal was passiert.“ KR-Leser Thomas schreibt: „Menschen sind Herdentiere und verkümmern alleine. Heimat ist dort, wo deine Herde ist.“
Anders als viele Tiere, die von Geburt an in der gleichen Herde bleiben, müssen wir uns unsere Herde suchen und aktiv Wege finden, uns in der Welt zu verankern. Beate Mitzscherlich sagt: „Ich kann mich von meiner Umgebung isolieren oder ich kann mich verbinden. Heimat hat etwas mit sich verbinden zu tun.“
Das Gespräch mit Coachin Heather Carlson hat mir gezeigt, wie überfordernd das sein kann und dass es dafür Mut braucht. Statt einzeln Leute zu treffen und kennenzulernen, kann es helfen, in Gruppen zu gehen, in denen es schon eine Gemeinschaft und feste Strukturen, wie regelmäßige Treffen gibt. Chöre oder Sportvereine eignen sich dafür zum Beispiel gut. KR-Leserin Ingtraud rät: „Zeige deiner Umgebung, dass du an ihr interessiert bist. Engagiere dich freiwillig. Werde Teil eines oder mehrerer Vereine und Initiativen im Ort. Sprich mit den Leuten in der Nachbarschaft.“
Heimat ist Tatort
Engagieren wir uns in Vereinen oder Initiativen, werden wir nicht nur Teil einer Gemeinschaft. Wir fangen auch an, unsere direkte Umgebung mitzugestalten. Beate Mitzscherlich nennt das Gefühl, das dadurch entsteht, den „Sense of Control“. Auch der Geograph und Heimatexperte Egbert Daum sagt: „Heimat entsteht, wenn ich die Dinge und Personen, mit denen ich zu tun habe, beeinflussen, umgestalten und mich schließlich selbst darin wiedererkennen kann.“ Es geht darum, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu bekommen. Dieses Gefühl kann durch kleine Dinge entstehen: Ich kann meinen Balkon bepflanzen oder meine Wohnung neu gestalten. Oder aber ich engagiere mich gesellschaftlich in Bürgerinitiativen oder Vereinen. All jene Strategien, die mir das Gefühl geben „Ich kann in meinem direkten Umfeld etwas verändern und ich kann mich in dieses Umfeld einfügen“, tragen zur Beheimatung bei. Auch KR-Leser Hans Peter schreibt auf die Frage, was man tun kann, um eine Heimat zu finden: „Engagiere dich. Trage dazu bei, das, was dir an diesem Ort gefällt, zu schützen und zu verbessern. Halte andere dazu an, dasselbe zu tun.“
Heimat suchen bedeutet Sinn suchen
Heimatsuche bedeutet oft Sinnsuche. Was mache ich hier? Warum bin ich an diesem Ort? Und warum ist es genau richtig, dass ich hier bin?
Coachin Heather Carlson erzählt: „Die innere Erzählung diktiert wirklich alles. Wenn man sich selbst sagt, dass man alles verpasst oder dass nichts funktioniert, wird genau das eintreten. Ich spreche mit meinen Klient:innen viel darüber, wie man diesen inneren Dialog positiv und dankbar hält.“ Wer innehält und sich fragt, was einem an seinem Wohnort gefällt, wird zufriedener sein. Es kann darum gehen zu merken: „Das Licht ist hier ganz anders als an dem Ort, an dem ich vorher war.“ Oder: „Hier habe ich eine Leidenschaft gefunden, die ich an einem anderen Ort nicht hätte finden können.“ Schlussendlich geht es darum zu erkennen, dass es für mich, aber auch für andere Menschen richtig und wichtig ist, dass ich genau an diesem Ort bin.
Subjektive Karten sind ein Mittel der Beheimatung
Egbert Daum hat als Professor für Sachkundeunterricht viele Jahre mit Kindern gearbeitet. Im Rahmen dieser Arbeit hat er das Konzept des „Subjektiven Kartographierens“ entwickelt. Man soll sich eine Karte des eigenen Lebens erstellen und sich fragen: Welche Orte sind für mich im Alltag bedeutend? Welche Orte besuche ich gerne und welche nicht so gerne? Welche Menschen sind für mich wichtig? Farben und Größen auf der Karte geben an, welche Dinge wichtig sind. Was das Ganze soll? „Durch das Kartographieren kann man sich die Bezüge im Raum viel besser bewusst machen und sich selbst in diesem verorten“, erklärt Egbert Daum. Wer das gemeinsam mit Freund:innen macht, kann die Karten vergleichen und so das eigene Umfeld und sich selbst besser verstehen lernen.
Anhand dieser Karten sehe ich, wo ich Gemeinschaft finde und welchen Menschen und Orten ich mich verbunden fühle. Sie können mir zeigen, wo ich mein Umfeld beeinflussen und prägen kann. Durch das Kartographieren können wir den Raum in ein persönliches und damit beeinflussbares Verhältnis setzen und dem Gefühl der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit entgegenwirken. Heimat wird gestaltbar.
Das ist Heimat anders gedacht
Lederhosen, Kräuterschnaps, Stammtischparolen: Natürlich kann man Heimat so verstehen. Und sicher tun das viele Menschen auch. Eine Sehnsucht nach Heimat, die mit Traditionalismus und Ausgrenzung anbandelt und nostalgisch in die Vergangenheit gerichtet ist. Versteht man aber, worum es bei der Sehnsucht nach Heimat geht, Geborgenheit, Sicherheit, Verbundenheit, wird Heimat zu etwas in die Zukunft Gerichtetem. Heimat wird zur Selbstermächtigung und zu einer Einladung, das eigene Umfeld mitzugestalten.
Vielen Dank an Martina für ihre Frage und alle, die sich an meiner Umfrage beteiligt haben: Catharina, Nico, Robert, Kate, Marie, Roland, Philipp, Verena, Manon, Marie, Claudia, Janine, Jürgen, Linda, Krisztina, Alexander, Martin, Thomas, Franziska, Hannes, Lukas, Tabea, Bettina, Axel, Nesn, Corinna, René, Anita, Susanne, Marcel, Julia, Hans Peter, Valdís, Henning, Sina, Silke, Christoph, Rita, Heike, Patrick, Tina, Claudia Marlen, Wolf, Christian, Tine, Thilo, Julia, Drea, Silvie, Jana, Nicolai, Morton, Claudia, Kolja, Paula, Sofia, Anke, Ilka, Reinhard, Robyn, Ulla, Katharina, Thomas, Tanja, Emem, Dieter, Pippa, Francesco, Christina, Leo, Christian, Marina, Patrik, Michael, Conny, Nils, Lisa, Marita, Susanne, Rudie, Rich, Ingtraud, Dorit, Bastian, Tom, Wolfgang, Günter, Kirstin, Christine, Micha, Astrid, Elena, Sabine, Maja, Karen, Simone, Gerhard, Gabi, Maria, Günter, Ute, Imke, Marion, Michael, Antigone, Christiane, Christine, Antje, Steffi, Anna, Marianne, Martin, Rafael, Conny, Tim, Marina, Thomas, Andrea, Arthur, Vivian, Nic, Andreas, Harald, Sabine, Phil, Friederike, Carmen, Paulina, Holger, Eva, Ella, Beate, Michael, Sebastian, Martin, Silas, Anne, Martin, Sarah, Dörte und Rolf.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger