Wenn sich KR-Leserin Stefanie mal etwas nicht traut, sagt sie sich:
Stell dir vor, du wärst ein wagemutiger Pirat! Was würde der jetzt tun?
Ein Pirat würde sich nicht aufhalten lassen, denkt sie. Und dann traut sich Stefanie. 1999 segelte sie etwa 14 Monate um die Welt. Aber auch in ihrem Alltag versucht sie, Piratin zu sein. Zu reden, wenn andere schweigen, zu handeln, wenn andere zögern.
Pirat sein rät sie als Coachin auch ihren Patient:innen. Und schon seien alle viel mutiger, machten sich weniger Gedanken um das Urteil anderer, erzählt sie am Telefon.
Ein Pirat würde schließlich frei von Konventionen handeln, sagt Stefanie. Darum sind Piraten ihre Vorbilder. Als uns Stefanie ihre Fragen und Gedanken zu Vorbildern geschickt hat, habe ich das erst nicht verstanden. Piraten als Vorbilder? Und überhaupt dachte ich, dass oft nur Kinder so ein klares Vorbild haben. Doch als wir telefonierten, verstand ich diese Kraft des Piratenbildes.
Ich will wissen: Warum haben Vorbilder so eine Wirkung auf uns? Und: Ist es eher hilfreich oder eher schädlich, im Leben Idole oder starke Vorbilder zu haben?
Schließlich können Vorbilder ermutigen und inspirieren. Sie können aber auch einschüchtern. Fußballer wie Lionel Messi scheinen unerreichbar und wer wagt es schon zu sagen, dass Mutter Teresa das eigene Vorbild sei. Schließlich besteht die Gefahr, dass man sich zumindest im Ansatz an den Taten dieser Personen messen lassen muss.
Ich wollte verstehen, wie sinnvoll Vorbilder sind. Dafür habe ich mit einer Expertin für Sigmund Freud, einem Professor für Religionspädagogik und mit euch, der KR-Community, gesprochen. Ich habe gelernt: Das Vorbild sollte besser nicht zu vorbildlich sein. Und, dass ein Vorbild zu haben, nicht nur etwas für Kinder ist – sondern auch für Erwachsene sinnvoll sein kann.
Gestatten: Das Über-Ich
Den Psychoanalytiker Sigmund Freud kann man als den Begründer der Vorbildtheorie bezeichnen. Er spricht von Identifizierung, also davon, dass sich eine Person wünscht, so zu sein wie eine andere. „Das Ich möchte sich Eigenschaften des idealisierten anderen Ichs aneignen“, sagt Daniela Finzi, die wissenschaftliche Leiterin der Sigmund Freud Privatstiftung. Dabei geht es zunächst um die Beziehung zwischen dem Kind und den ersten Bezugspersonen, meistens den Eltern.
Sich Verhaltensweisen anzusehen und zu übernehmen, sei laut der Freud-Expertin ein zentraler psychischer Vorgang für das Heranwachsen. Der Mensch bildet sich erst durch andere Menschen, durch das Beobachten. Wie geht die Person mit Streit um? Wie äußert sie Liebe? In welchen Situationen ist sie mutig, in welchen zurückhaltend? Und wie finde ich das? All diese Fragen stellen sich viele unterbewusst, wenn sie auf andere blicken. „In diesem dynamischen Prozess wird das eigene Ich geschaffen und geformt“, sagt Finzi. Freud selbst schreibt: „Jeder Einzelne ist ein Bestandteil von vielen Massen.“
Dabei scheint es, als gebe es in unserer individualisierten Gesellschaft kein höheres Ziel, als gerade nicht aus anderen Einflüssen zu bestehen. Jede:r will möglichst individuell sein. Und am Ende kaufen doch alle Adidas Sneaker (ich auch). Wer andere imitiert, gilt als Nachahmer, als Mitläuferin und damit als langweilig und unoriginell. Annie Murphy Paul schreibt in ihrem Buch „The Extended Mind“: „Die Naturforscher des späten 19. Jahrhunderts bezeichneten die Nachahmung als die Gewohnheit von Kindern, Frauen und Wilden und hielten den originellen Ausdruck für die Domäne des europäischen Mannes. Innovation kletterte an die Spitze des kulturellen Wertesystems, während Nachahmung auf einen ungewohnten Tiefpunkt sank.“ Dabei ist Imitieren eines der geläufigsten Mittel, wie wir lernen und uns weiterentwickeln. Mensch und Tier imitieren von klein auf.
Der kanadische Psychologe Albert Bandura prägte hierfür den Begriff „Lernen am Modell“. Dadurch, dass wir andere nachahmen, können wir innerhalb kürzester Zeit neue Fähigkeiten lernen. Sein Experiment ist inzwischen berühmt: Er ließ Kinder beobachten, wie sich Erwachsene einer Puppe gegenüber aggressiv verhalten, anschließend schlugen auch die Kinder die Puppe. Damit bewies er, wie schnell Kinder (die davor aggressives Verhalten nicht kannten) etwas nachahmen. Gleiches gilt für Erwachsene. Auch sie lernen, indem sie beobachten, wie sich andere in gewissen Situationen verhalten. Und, auch das zeigte Bandura: Das Modell oder das Vorbild muss nicht direkt anwesend sein, damit andere davon lernen. Wir schauen uns das Verhalten von anderen also auch ab, wenn wir sie nur auf Social Media sehen oder etwas über sie lesen.
Erwachsene vergöttern subtiler als Kinder
Geht es um Vorbilder, geht es also nicht nur um die Frage, an wem sich Kinder und Jugendliche orientieren. „Wir sind allesamt Wesen, die nie abgeschlossen sind und immer in Bewegung und auf der Suche sind“, sagt Daniela Finzi. Darum haben auch Erwachsene sehr wohl Vorbilder und orientieren sich am Verhalten anderer, das sie nachahmenswert finden, nur kleben sie Zimmerwände nicht mit Postern voll. Erwachsene vergöttern subtiler.
Vorbilder sind zunächst die Personen, die da sind: Eltern, Lehrer, aber auch Stars, bekannte Figuren aus der Geschichte. Das zeigt auch unsere KR-Umfrage, bei der sich rund 60 Mitglieder beteiligt haben. Ich wollte erstmal wissen: Wer oder was ist dein Vorbild?
Marie Curie, Prince, Jesus und Pippi Langstrumpf wurden genannt. Und: meine Oma, mein Sohn, meine Partnerin, mein Vater, ein Kollege, eine gute Freundin.
KR-Leser Samuel schreibt, sein Vorbild sei der Musiker und Produzent Steven Wilson: „Mich beeindruckt, wie er Musik macht und, dass er sich musikalisch ständig weiterentwickelt, immer Neues ausprobiert und versucht, sich nicht zu wiederholen, obwohl er dadurch schon oft Fans verärgert hat. Wenn ich merke, dass ich mich nicht mehr weiterentwickle oder meine Offenheit verliere, denke ich an Steven Wilson und bin motiviert, neue Dinge auszuprobieren und mich zu verändern.“
Für Philippa ist ihre Mutter ihr Vorbild. Sie schreibt: „Ich habe in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Vorbilder. Für mich sind das Menschen, die etwas so machen oder einen Umgang mit Situationen, Menschen, Dingen haben, den ich bewundernswert finde und von dem ich gerne lernen oder den ich adaptieren möchte. Meine Mama ist zum Beispiel mein Vorbild, wenn es darum geht, meine Meinung zu sagen im Privaten wie in der Öffentlichkeit und Dinge nicht als gesetzt hinzunehmen.“
Die Mutter ist regelmäßig in den Top 3 des Vorbilder-Rankings
Mit dem, was man aus der Vorbilderforschung weiß, deckt sich das. „Meine Mutter“ führt regelmäßig die Top-Liste der Vorbilder an. Auch in der aktuellen Shell-Jugendstudie geben 74 Prozent der 12- bis 25-Jährigen an, dass ihre Eltern Vorbilder seien.
„Wenn die eigenen Kräfte nicht reichen, sucht man sich Menschen, die einem den Weg weisen“, sagt Hans Mendl. Er ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Passau und forscht unter anderem zu der Frage, wer sich als Vorbild eignet. Die kurze Antwort ist: Jede:r.
„Trotzdem neigen wir dazu“, sagt Mendl, „den Blick nach oben zu richten und zu verlangen, dass ein Vorbild eine perfekte Person sein muss.“ In den Top Ten der Vorbilder stehen neben der Mutter und dem Vater deshalb fast nur berühmte Personen wie Nelson Mandela, Albert Schweitzer, Martin Luther King und Dalai Lama. Wer auf einem Sockel thronen darf, muss es sich verdient haben, scheint es.
Dein Vorbild muss nicht makellos sein
Als am 12. September 2009 eine Gruppe Jugendlicher in München Schüler:innen bedroht, greift ein 50-Jähriger ein. Als einziger. Er schützt die Schüler:innen, ruft die Polizei, wird von den Jugendlichen verfolgt und angegriffen. Kurz darauf stirbt er an den Verletzungen. Heute gilt Dominik Brunner als Held für Zivilcourage.
Im Gerichtsprozess stellte sich die Frage: Ist Brunner überhaupt ein Held? Hatte er nicht die Jugendlichen provoziert? Gar zuerst zugeschlagen? Kann er noch als Vorbild gelten?
Wenn es nach Mendl geht, ist die Antwort: Ja. Perfektion schadet eher, sagt er. Die Heiligenfiguren etwa, das hat der er gemerkt, die eignen sich nicht so gut als Vorbilder. Sie sind zu glatt, zu perfekt, zu makellos und darum nicht anschlussfähig und zu weit weg. Sie scheinen unerreichbar. Und statt zu motivieren, schüchtern sie ein. Was Helden taten, trauen sich nur wenige zu. „Wenn wir uns mit Personen wie Alexander der Große vergleichen, können wir nicht anders, als Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln“, sagt Mendl.
Suche dir Vorbilder, die in einem Aspekt vorbildlich sind
Zu perfekte Menschen demotivieren, das weiß man inzwischen. Mendls Lösung: kleine Helden. Er nennt sie: Helden des Alltags. „Das sind Menschen wie du und ich, aber sie unterscheiden sich in einem Bereich, in dem sie sich engagieren“, sagt er. Die einen setzen sich für Geflüchtete ein, andere arbeiten ehrenamtlich im Altenheim oder gründeten Selbsthilfegruppen. Sie inspirieren, ohne einzuschüchtern. Und sie zeigen, dass man in einem kleinen Teilbereich seines Lebens auch vorbildlich sein kann. Sie machen frei von dem Druck, gänzlich perfekt und vorbildlich sein zu müssen.
Auch ein KR-Leser schreibt: „Es gibt für mich kein bedingungsloses Vorbild. Es können immer nur Teilaspekte vorbildlich sein.“ Womöglich offenbaren sich die Macht und der Einfluss von Vorbildern erst, wenn man sie nicht auf den Sockel stellt. Wenn man die Fehler sieht und sich die nachahmenswerten Aspekte herauspickt.
Irgendwann überwindet man sein Vorbild
Und Vorbilder haben noch einen Vorteil: Sie helfen bei Unsicherheiten. Das sagen auch viele KR-Leser:innen. KR-Leserin Janine nimmt sich beispielsweise weibliche Filmstars wie Cate Blanchett, Kate Winslet, Gillian Anderson zum Vorbild, die sich für Feminismus einsetzen: „Ich habe erst lernen müssen, regelmäßig den Mund aufzumachen. Ich zweifle zu oft, ob ich jetzt wirklich was sagen soll. Ich möchte gern selbst Vorbild für andere, jüngere Frauen sein. Die genannten Frauen leben und argumentieren so, dass es mich unterstützt, für mich selbst und andere einzustehen. Ich kasteie mich viel weniger, wenn mal was schiefging und ich nicht perfekt eloquent war.“
Andere lassen sich von Freund:innen oder Kolleg:innen inspirieren. Sie gehen neue sportliche Herausforderungen an oder nehmen sich ein Beispiel an deren Gelassenheit. Sebastian schreibt: „Es hilft mir in Situationen, in denen ich mich selbst überwinden muss. Dann kann ich mir sagen: Mein Vorbild würde das auch schaffen.“
Darum, sagt Mendl, eignet sich jeder Mensch als Vorbild. Selbst einer, dessen Charakterzüge oder Verhaltensweisen man ablehnt. „Vorbilder haben nicht nur den Zweck, dass man ihnen nachahmt – man entwickelt durch die Beobachtung seine eigenen Ideen eines guten Lebens“, sagt Mendl. Das funktioniert auch in Abgrenzung von Personen.
Wie findet man ein Vorbild?
Wählen wir also ein Vorbild, hilft es uns, mutiger zu sein, Hindernisse zu überwinden (auch wenn wir uns nur selbst im Weg stehen). Aber wie findet man nun ein geeignetes Vorbild?
Vermutlich muss man erstmal die eigenen Schwachstellen finden und anerkennen. Wo will man an sich arbeiten? Und wer kann helfen, das zu überwinden? Ist man zu unsportlich? Dann kann man sich mit einem sportlichen Freund unterhalten, wie er den richtigen Sport für sich gefunden hat und wie er es schafft, Zeit dafür zu finden. Ist man zu unsicher? Dann kann man sich in einer schwierigen Situation fragen: Was würde jetzt diese eine selbstbewusste Freundin tun?
So mache ich das oft. Immer, wenn ich an mir zweifle, denke ich an eine Freundin. Sie ist mutig, tritt für sich ein und widerspricht, auch wenn scheinbar alle der gleichen Meinung sind. Vermutlich ist sie meine ganz persönliche Piratin.
Egal, welches Vorbild jemand wählt, irgendwann löst sich das Vorbild auf. Die Begeisterung verschwindet und mit ihr die Poster für die Zimmerwände. Das gilt für Kinder wie für Erwachsene. „Das beste Vorbild ist das, das sich überflüssig macht“, sagt Mendl. Man ist so sportlich, wie man es sich wünscht oder traut sich, in schwierigen Situationen für sich einzustehen. Vielleicht folgt dann ein neues Vorbild. Aber das alte, das braucht man nicht mehr, weil man selbst (zumindest beinahe) vorbildlich handelt.
Mit bestem Dank an alle KR-Mitglieder, die sich beteiligt haben: Ronnie, Frank, Rüdiger, Sarah, Samuel, Sabine, Veronika, Jana, Louisa, Sebastian, Philippa, Agnes, Mike, Lani, Julia, Johannes, Robert, Felix, Kristina, Vera, Janine, Heidi, Wolfgang, Dija, Barbara, Bettina, Corinna, Markus, Antonia, Christian, Gerda, R, Wanda, Vera, Johannes, Renate, René ,Uschi, Conny, Roland, Jessica, Melanie, Klaus, Hannes, Barbara, Thomas, Peter, Simone, Claus-Dieter, Urs, Frank, Götz, Conny, Kai.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert