„Wir können nicht verstehen, dass du deine Mutter pflegst, nach all dem, was sie dir angetan hat“, hatten Freundinnen zu ihr gesagt.
Das erzählt Hanna, als ich sie an einem Freitagmittag im April 2024 in einem Gebäude einer Universität in Berlin treffe. Sie hat längere dunkelblonde Haare und trägt eine Brille und eine gelbe Funktionsjacke. Sie wirkt zurückhaltend und sympathisch.
Hanna fällt nicht auf, aber mit ihren über 40 Jahren ist sie älter als die Studierenden, die an uns vorbeilaufen. Sie fängt mit vorsichtiger Stimme an zu erzählen, tastet sich langsam vor in ihre Vergangenheit. Erst in ihre Kindheit und Jugend, in der sie ihre Mutter gehasst hat. In ihre Zwanziger, in denen sie aus dem eigenen Elternhaus geschmissen wurde und schließlich zu dem Jahr, in dem ihre Mutter dement wurde – und sie sich entschloss, sich trotz allem zu kümmern. Ich wollte verstehen, wieso.
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Als Hanna geboren wurde, war ihre Mutter schon 38, der Vater 47. Hanna war die Nachzüglerin in einer Familie, in der die Erwartungen groß und die Empathie der Eltern klein waren. Hanna hat zwei ältere Schwestern, die eine ist heute Professorin für Psychologie, die andere hat einen Doktor.
In der Schule war Hanna noch genauso gut wie die Schwestern. Aber sie hatte Angst, mit einer schlechten Note nach Hause zu kommen. Hanna wollte nicht aus dem Rahmen fallen. Hannas Mutter war Ärztin, hatte in der Abendschule nach der Arbeit ihr Abitur nachgeholt und ihr Medizinstudium sogar mit Bestnote abgeschlossen. Immer wieder hat sie damit geprahlt.
Hanna bekam immer mehr Angst vor den Erwartungen ihrer Mutter. Irgendwann so viel, dass ihre Angst zu Wut wurde und das familiäre Gebilde sprengte. Immer wieder schrien sie sich an. Ihre Mutter mischte sich in alles ein, auch in die Beziehung mit ihrem ersten Freund, wollte nicht, dass Hanna ein Au-Pair-Jahr macht. Es sei unter Hannas Würde, irgendwelchen Kindern die Windeln zu wechseln.
Hanna wechselte irgendwann die Straßenseite, wenn sie ihrer Mutter im Ort begegnete.
Nach dem Abi ging sie weg aus Berlin, zum Medizinstudium in eine mittelgroße Stadt nicht allzu weit weg von Berlin: eine Art Friedensangebot an ihre Mutter. Aber Hanna brach ihr Studium nach zwei Semestern ab. Das habe ihre Mutter persönlich genommen.
Die Polizei sagte: „Wir sind nicht für innerfamiliäre Konflikte zuständig“
Ihre Eltern brachten sie nach dem Abbruch des Studiums in eine psychiatrische Klinik, ihr wurde eine schwere Depression diagnostiziert. Besucht habe ihre Mutter sie nur, um Kontrolle auszuüben, erzählt Hanna heute: Sie habe beim Arzt herausfinden wollen, was Hanna in den Therapiestunden erzählte. Der Arzt erzählte Hanna davon, aber ihrer Mutter erzählte er nichts.
Hanna hat dann erneut versucht zu studieren, dieses Mal Psychologie. Aber auch das Studium brach sie ab und zog wieder bei ihren Eltern ein.
Das war Anfang 2000. Hanna war Mitte 20 und fühlte sich verloren. Sie hing zuhause rum, hatte nichts zu tun. Einerseits habe sie sich nach Orientierung gesehnt, nach jemandem, der ihr sagt, welchen Weg sie einschlagen sollte. Gleichzeitig habe sie sich von ihren Eltern übergriffig behandelt gefühlt.
Immer häufiger gab es Streit. Sie machte ihren Kleiderschrank kaputt, schmiss Geschirr, knallte die Türen so sehr, dass sie brachen, ihre Eltern holten mehrmals die Polizei. Auch ihr Vater reagierte mit Gewalt auf die Situation und auch Hanna rief einmal die Polizei, nachdem er sie geschlagen hatte. Irgendwann sagten die Beamten: „Wir sind nicht für innerfamiliäre Konflikte zuständig.“
Hannas Eltern setzten eine Räumungsklage gegen die eigene Tochter durch
Zurück im Unigebäude bleibt Hannas Stimme ruhig, als sie sagt: „Und dann hatten sie halt ein Papier in der Hand, um zu sagen, du bist jetzt nicht mehr berechtigt, hier zu wohnen.“
Hannas Eltern setzten eine Räumungsklage gegen ihre eigene Tochter durch.
Die Räumungsklage hat Hanna immer noch zuhause liegen, wie eine Erinnerung an diese Person, die sie heute nicht mehr ist – und wie eine Erinnerung an die Beziehung zu ihrer Mutter, die sich zum Ende komplett gedreht hat.
Sie schickt mir die Klage ein paar Tage nach unserem Gespräch per Whatsapp.
Als ich sie lese, verstehe ich, was ihre Freundinnen meinten, als sie sagten: Wir können nicht nachvollziehen, dass du dich trotz allem kümmerst.
In der Begründung der Klage steht zum Beispiel, dass die „Kläger“, ihre Eltern, sich „intensiv darum bemüht“ hätten, ihre Tochter dazu „zu veranlassen“, eine Ausbildung oder ein Studium aufzunehmen. Sie sei dazu „jedoch nicht bereit“ gewesen. Mit Bleistift hat Hanna „nicht bereit“ unterstrichen und ein Ausrufezeichen und ein Fragezeichen daneben gemalt.
Weiter unten steht, dass Hanna sich nicht um einen eigenen Wohnraum bemüht habe. Daneben hat sie gekritzelt: „Weil ich nicht mehr konnte!!!“
Ihre Eltern argumentieren Hanna aus dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Ich frage mich spätestens jetzt: Wie viel kann eine Familie aushalten? Wie sich später zeigt: ziemlich viel.
Also zog Hanna aus, lebte auf Sofas von Freunden oder bei ihrer Cousine. Ohne soziales Netz wäre sie zu diesem Zeitpunkt wohl obdachlos geworden. Über Hartz IV bekam sie etwa ein halbes Jahr nach dem Rausschmiss eine Wohnung zugeteilt. In dieser Zeit hatten Hanna und ihre Eltern kaum Kontakt, schrieben sich nicht einmal zum Geburtstag.
Dann veränderte sich was, genauer gesagt: Ihre Mutter veränderte sich. Ihre Mutter benutzte Wörter, die es nicht gab. Sie stöpselte alle Steckdosen im Haus aus. Sie gratulierte Hanna zum 15. Geburtstag, dabei war die mittlerweile schon über 30. Hanna begann, sich Sorgen zu machen. Was passierte mit der Frau, die sie kannte, die so stark, so störrisch, so intellektuell gewesen war? Sie bekamen sie nicht zum Arzt.
Im Jahr 2017 rastete ihre Mutter nachts aus, schmiss den Fernseher und die Stühle im Wohnzimmer um. Der Vater rief den Notarzt. Im Krankenhaus wurde festgestellt: Ihre Mutter ist dement.
Die Wut in Hanna wandelte sich von einem auf den anderen Tag in Sorge um
Hanna fuhr jetzt mehrmals die Woche zu ihren Eltern, wusch ihre Mutter, putzte ihr die Zähne, weil ihr Vater sich darum nicht kümmerte, fuhr einkaufen, redete mit ihr. Sie trat in Facebook-Gruppen ein, in denen sie sich Tipps holte, und organisierte einen Lehrgang über Demenzerkrankte für sich und ihren Vater.
Die Wut in Hanna wandelte sich von einem auf den anderen Tag in Sorge um. Hanna beschreibt es so: Sie konnte Wut und Sorge einfach nicht gleichzeitig fühlen. Zum Glück für ihre Mutter war das Unterhosen wechseln bei ihrer Mutter nicht unter Hannas Würde.
Hanna unterstützte ihren Vater, so gut es ging. Auch weil sie befürchtete, dass er es allein nicht hinkriegen würde. Sie vertraute ihm nicht. Einmal habe er die Mutter geschlagen, weil er dachte, es würde sie vielleicht „zur Besinnung bringen“.
Hannas Schwestern wollten nichts mit der Mutter zu tun haben, Hannas Freundinnen verstanden sie nicht. Hanna machte es trotzdem. Es ist für Außenstehende vielleicht schwer zu verstehen, aber Hanna hatte keine Angst mehr vor der Mutter. Sondern jetzt Angst um sie. Das machte einen großen Unterschied. Ihre Mutter brauchte sie jetzt und vielleicht war genau das der richtige Kleber für den kaputten Rahmen, den Hanna irgendwann mit ihrer Angst und ihrer Wut gesprengt hatte.
Hannas Mutter fing an, sich als Mensch zu zeigen, der Angst kennt
Ihre Mutter fing an, vom Krieg zu erzählen, was sie früher nie getan hatte. Sie fing an, sich als Mensch zu zeigen, der Angst kennt. Sie wollte ungern allein sein und Hanna konnte sie sogar umarmen. Zuvor hatte Körperlichkeit in der Familie nur gewaltvoll existiert.
Hanna kramt ihr Handy raus, sucht ein Video, schiebt das Handy über den Tisch. Die Kamera zeigt auf ihre Mutter, eine kleine, zusammengesunkene Frau mit kurzen, grauen Haaren im bunten, selbstgestrickten Wollpulli. Die erzählt von einer Hochzeit, scheinbar zusammenhangslos, die Hände vor sich verschränkt, ihr Gesicht dabei regungslos. Ihre Augen starren ins Leere.
Man hört Hanna, wie sie fragt, welche Farbe das Kleid haben soll. Sie geht auf ihre Mutter ein, auch wenn es für Außenstehende keinen Sinn macht. So hat sie es in der Selbsthilfegruppe gelernt.
„Orange“, sagt die Mutter. „Und der Bräutigam?“, fragt Hanna. „Orange.“ „Das wird ja eine bunte Hochzeit“, sagt Hanna. Sie redet mit ihrer Mutter wie mit einem Kind, das noch nichts Schlechtes auf der Welt verursacht hat. Ihre Stimme ist sanft, die ihrer Mutter vernuschelt. Wer heiraten soll, bleibt unklar. Vielleicht Hanna und ihre Mutter oder Hanna und ein Mann.
Zurück im Jahr 2024 sagt Hanna: „Das einzig Echte bei der Demenz sind die Gefühle, die Gedanken sind ja schon kaputt.“ In der Selbsthilfegruppe auf Facebook habe ihr jemand gesagt, „das Herz wird nicht dement.“ Dieser Satz habe sie durch die Zeit getragen. Ihre Mutter habe eine Verletzlichkeit zeigen können, wie es ihr vorher nicht möglich war.
Demenz ist auch eine Ansammlung von Situationen, in denen man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Einmal hat Hanna ihrer Mutter Deo mit in das Pflegeheim gebracht, hat es abgestellt und ist dann kurz auf die Toilette. Als sie zurückkam, roch das gesamte Zimmer blumig-süß, Marke „Fa“. Hanna riss die Fenster auf.
Hanna hat jetzt ein eigenes Leben
Hannas Therapeutin fand es gut, dass sie sich kümmern wollte. Weil ihr das die Möglichkeit gab, es ein letztes Mal zu versuchen, sich mit ihrer Mutter zu versöhnen.
2020 klingelte nachts um 3 Uhr das Handy von Hanna. Sie dachte erst, es sei ein Spamanruf, ging nur ran, weil sie die Berliner Vorwahl auf dem Display erkannte. Ihre Mutter war tot. Sie fuhr hin, saß zwei Stunden am Bett der Mutter. Wie in Trance sei sie gewesen.
Seit dem Tod schicke ihre mittlere Schwester Hanna immer wieder Ausschnitte aus ihrem Tagebuch, schreibt dazu: „Da, schau mal, was sie uns angetan hat.“
Hanna ist ihrer Mutter nicht mehr böse. Die Zeit mit ihr am Ende ihres Lebens hat Hanna geholfen zu verzeihen.
Als wir aufstehen, um zu gehen, frage ich, warum wir uns in der Uni getroffen haben. „Ich habe gleich ein Seminar“, sagt Hanna so unaufgeregt, wie sie ihre ganze Lebensgeschichte erzählt hat. Hanna hat nochmal angefangen zu studieren, Englisch und Deutsch auf Lehramt.
Hanna heißt eigentlich anders. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger