Johanna Glasers Leben beginnt mit dem Tod. Nicht sie ist gestorben, nicht ihre Mutter oder ihr Vater, sondern ihr Bruder.
Es war 1961, ein Sommertag. Johann und seine Mutter gingen zurück zum Bauernhof, auf dem sie lebten. Der Fünfjährige rannte vor. Blieb an der Straße stehen, guckte rechts und links, weil ihm das seine Mutter zurief. Ein Lkw fuhr vorbei. Johann rannte los. Ein Motorrad kam hinter dem Lastwagen hervor.
Drei Jahre nach dem Unfall kommt Johanna Glaser zur Welt, es ist eine schwere Geburt. Als sie später ihre Mutter fragt, warum sie nochmal ein Kind bekam, obwohl der Vater keines mehr wollte, sagte sie: „Ich hatte vier Kinder und wollte wieder vier.“ Weil es Johann nicht mehr gab, sollte es Johanna geben.
Johanna Glaser ist ein sogenanntes Ersatzkind. Ein Kind, das geboren wurde, um eine Lücke zu schließen, die ein anderer Menschen hinterlassen hat, um die Familie zu heilen und zu trösten. Eines, das – im besten Falle – so sein soll wie das Verstorbene. Weil so wirklich wieder alles perfekt sein könnte. Das Ersatzkind soll helfen zu verdrängen, zu vergessen. Aber wie lebt ein Mensch ein Leben, wenn man wie ein Toter sein soll?
Es ist ein nasskalter Samstag Ende März, Johanna Glaser sitzt am Küchentisch und Bruce Springsteen schallt durch ihre Dachgeschosswohnung. Glaser schließt die Augen. Als die Gitarre einsetzt, hat sie geweint, sagt sie. Vor wenigen Monaten im Bad.
„Big black train comin’ down the track
Blow your whistle long and long
One minute you’re here
Next minute you’re gone“
„So kam Johann um“, sagt Johanna Glaser.
Mit den zwei größeren Brüdern und der älteren Schwester wächst sie in Niederbayern auf. Im Wohnzimmer hängt ein Porträtfoto eines Jungen. Dass der Junge darauf ihr Bruder ist, weiß Johanna. Auch von seinem Tod erfuhr sie schon als Mädchen. Aber mehr wusste sie nicht. „Ich spürte, dass es meine Mutter belastet hat, also fragte ich nicht weiter“, sagt Glaser.
Johanna bekommt einen Spitznamen: Herzi-Puppe
Was so logisch wirkt – nämlich, dass Johanna Johann ersetzt –, war es lange nicht, sagt Johanna Glaser heute. Ihre dichten braunen Haare fallen in Wellen auf die Schultern, sie trägt eine grüne Cordhose, einen blauen Pullover und wirkt jünger als 59 Jahre. Oft unterbricht sie sich. Sie springt auf, holt ein Buch, „Das andere Mädchen“ von Annie Ernaux etwa. Die Literaturnobelpreisträgerin und sie, das Waidlermädel, wie sie über sich sagt, also das Mädchen aus dem Wald, haben etwas gemeinsam. Beide sind Ersatzkinder. „Aber eines verstehen viele falsch: Ich habe mich nicht wie jemand anders gefühlt“, sagt sie, „ich habe mich gar nicht gefühlt.“
Darum, glaubt Johanna Glaser, erinnert sie sich auch kaum an ihre Kindheit. Vieles hat sie vergessen. Einiges weiß sie aus Erzählungen.
Sie weiß, dass die Familie funktioniert hat: Die Eltern führten die Landwirtschaft, die Kinder gingen zur Schule, halfen im Haushalt und auf dem Hof. Aber da war kein Gefühl, sagt Glaser. Keine Freude, keine Herzlichkeit, keine gemeinsamen Abendessen. Und da ist keine Zusammengehörigkeit. Auch nicht unter den Geschwistern.
Die drei älteren Geschwister waren durch den Tod des Bruders traumatisiert. Genauso der Vater und die Mutter, die sich mehr und mehr zurückzog und still trauerte. Dann kam Johanna. Sie war eine weitere Konkurrentin im Kampf um die Zuneigung und Aufmerksamkeit der Eltern, vor allem der Mutter, denn der Vater wirkte noch abwesender. Johanna gewinnt, ohne überhaupt zu kämpfen. Als Johanns Nachfolgerin siegt sie automatisch. Sie wird behütet und viel gedrückt, sagt Glaser. Ihr Spitzname: Herzipubbe. Bayerisch für Herzi-Puppe.
Johanna Glaser empfindet Schuldgefühle, obwohl sie keine Schuld trägt
In ihrem Leben strauchelt Johanna Glaser, sie stolpert und fällt. Sie bricht die Schule nach der Mittleren Reife ab, obwohl sie gute Noten hat. Warum? Das weiß sie nicht. Sie beginnt eine Ausbildung als Familienpflegerin in München und zweifelt. Darf sie weg? Sie fühlt sich schuldig. Heute kann sie das Gefühl deuten: Sie warf sich vor, ihre Mutter alleine zu lassen, eine Frau, die doch schon ein Kind verloren hatte. Aber damals spürt Glaser nur diese Schuld und weiß nicht, warum und wohin damit.
Sie entwickelt Ängste vor Keimen. Sie befürchtet, dass sie sich ansteckt und zugleich, dass sie andere infizieren könnte. Wenn sie sich bei anderen Menschen die Hände wäscht und an einem Handtuch abtrocknet, hat sie Angst, dass jemand sterben wird, sobald die Person das Handtuch anfasst. In ihr lauert der Tod, denkt sie.
Mit Mitte 20 verliebt sie sich. Wieder fühlt sie sich schuldig. Es wäre ein weiterer Schritt, sich abzunabeln, von der Mutter zu lösen und ihre Eigenständigkeit als Johanna, als Frau auszuleben. Dazu kommt es nicht. Ihr Körper sträubt sich. Ein Juckreiz bricht aus, in der Scheide. Es ist nicht der einzige Grund, doch die Beziehung endet.
Johanna Glaser schreibt einen Brief, den sie nie verschickt
Glaser stolpert weiter. Sie schult zur OP-Schwester um, obwohl der Beruf nicht zu ihr passt. Sie, die Angst vor Keimen hat, soll im Krankenhaus arbeiten? Wieder fürchtet Glaser, dass sie jemanden umbringt – aus Versehen. Sie prüft Instrumente zig mal, reinigt sie wieder und wieder, weint und bittet Kollegen, ihre Arbeit zu überprüfen, damit auch ja nichts schief geht.
Sie sucht sich Hilfe, geht wöchentlich zur Gesprächstherapie und einmal sogar zu einem Medium, das heißt zu einer Person, die behauptet, mit Toten sprechen zu können. „Damit es einem besser geht, macht man ja alles Mögliche“, sagt sie. Mit Mitte 30 ist sie zum ersten Mal in einer Klinik. Sie ist verzweifelt, hilflos, kann nicht sagen, warum genau und wird nicht verstanden. Sie denkt, sie verliert den Verstand. Nach den zwölf Wochen geht es ihr nicht besser. Erst später begreift sie: Sie war damals genauso alt wie ihre Mutter, als Johann starb.
2010 ist sie 45 Jahre alt und hat ein Hauptziel: irgendwie weiterleben. Therapien und Klinikaufenthalte liegen hinter ihr, als sie sich an den Küchentisch setzt, an dem sie auch heute sitzt. Sie nimmt ein Blatt Papier und schreibt, wie sie es so oft tut, wenn sie einen Gedanken für sich festhalten will. Sie beginnt und hört erst auf, als der Brief fertig ist:
„Liebe Mutter,
es reicht. Ich habe diese Entwicklung durchschaut. Endlich. Ich habe dir mein Leben geopfert, ich wollte dich retten, aber ich kann es nicht. Hansi ist gestorben, du bist mit ihm gegangen. … Ich habe so viel geopfert, mein Liebesleben, meine Berufung, meinen Körper, nur um dich zu retten. … Natürlich kannst du mich nicht gehen lassen. Ein weiteres Kind zu verlieren, könntest du nicht ertragen.“
Wie spät es war, welcher Tag, welche Jahreszeit, das alles weiß Glaser nicht mehr. „Alles war sumpfig“, sagt sie. Jeder Tag fühlt sich damals trüb an. Aber das ist der Tag, an dem sie zum allerersten Mal im Leben denkt: Ich bin ein Stellvertreterkind.
Ihr Problem hat einen Namen: Ersatzkind-Syndrom. Und: Sie ist damit nicht allein.
Sie googelt, findet den Begriff „Ersatzkind“ und den Namen Kristina Schellinski, eine Expertin für das Thema. Sie entschließt, ihr zu schreiben und schickt den imaginären Brief mit. Schellinski versteht und antwortet sofort. „Das war mein Geburtstag“, sagt Glaser. Der Tag, der alles ändert. Sie ist nicht gescheitert, ihre Schuldgefühle sind nicht wirr, ihre Ängste nicht konfus. Ihr Problem hat einen Namen: Ersatzkind-Syndrom. Und: Sie ist damit nicht allein.
In ihrer Praxis in der Schweiz behandelt Kristina Schellinski viele erwachsene Ersatzkinder. Sie hält Vorträge, betreibt eine Website, forscht. Wie beeinflusst uns das, was vor unserer Geburt passiert ist? Und warum? In der Forschung spricht man von Überlebensschuld, sagt die Psychoanalytikerin in einem Gespräch via Zoom, im Hintergrund stehen Regale mit Büchern, auch ihr eigenes, „Individuation for Adult Replacement Children“, findet sich da.
Bekannt wurde der Begriff der Überlebensschuld in den 1960ern. Holocaust-Überlebende fühlten sich schuldig, am Leben zu sein und litten darunter, dass andere sterben mussten. Darum wird dieses Phänomen auch Holocaust-Syndrom genannt. Ähnliche Dynamiken wirken beim Ersatzkind, sagt Schellinski. Es fühlt sich schuldig, dass es lebt und jemand anderes tot ist, dass es lebt, weil jemand anderes tot ist. Und: „Es wird immer das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein“, sagt Schellinski, „nicht genug zu leisten, nicht so zu sein wie das idealisierte tote Kind.“
Ein Ersatzkind muss nicht zwangsläufig eines sein
Offizielle Statistiken zur Anzahl von Ersatzkindern gibt es nicht. Wozu es Zahlen gibt, sind Totgeburten in Deutschland, 2022 waren es rund 3.200, und zur Kindersterblichkeit. Demnach erleben jedes Jahr etwa 16.000 Kinder nicht ihren fünften Geburtstag.
„Nicht jedes Kind, das auf ein verstorbenes folgt, ist ein Ersatzkind“, sagt Schellinski. Wenn die Eltern trauern, dem Kind einen anderen Namen geben, ihm keinen Zweck zuschreiben, es als eigenständige Person ansehen, dann ist das Kind kein Ersatzkind. Schaffen die Eltern all das nicht, passiert, was Johanna Glaser erlebt. Die Betroffenen lehnen sich selbst ab, fühlen sich als zweite Wahl, spüren Erwartungen, die sie nicht erfüllen können, sie zerbrechen.
Diese Bürde und Aufgabe, ihre Mutter vor dem Schmerz zu schützen, einen Toten zu ersetzen – all das begreift Johanna Glaser an diesem Tag vor 14 Jahren zum ersten Mal. Sie versteht, dass sie ihre eigenen Beziehungen zerstörte und die Schule abbrach, nur um ihrer Mutter näher zu sein.
So sehr sie diese Erkenntnis schmerzt, so sehr spürt sie auch Erleichterung. Was für ein Kampf um Anerkennung ihr bevorsteht, ahnt sie noch nicht.
Traumata können vererbt werden
Sie geht wieder in eine psychosomatische Klinik und erzählt von ihrer Aufgabe, Johann zu ersetzen. Eine Therapeutin unterbricht sie, sagt, dass das alles ja sehr spannend klinge, sie aber eine Dramaqueen sei. Das sei doch alles vor ihrer Geburt passiert. Wo also liege das Problem?
Anfang 2013 denkt Johanna Glaser, dass sie wahnsinnig wird. Sie hat endlich begriffen, warum es ihr schlecht geht, will das ändern, doch bekommt keine Hilfe. Wieder versteht niemand so richtig ihr Problem. Statt an den Therapeut:innen zu zweifeln, fragt sich Glaser, ob sie nicht doch falsch liegt. Vielleicht stimmt es ja: Das war alles vor ihrer Geburt! Und überhaupt, muss man nicht mal loslassen und die Sache abhaken können, fragen Freunde und Bekannte.
Als sie am Küchentisch sitzt und über diese Zeit spricht, höre ich ihrer Stimme den Kampf an. Sie klingt müde, zermürbt. Aber auch wütend. Kristina Schellinski erzählt, dass das Ersatzkind-Syndrom noch nicht ausreichend bekannt sei. Oft bleibt unentdeckt, wieso die Patient:innen leiden.
Johanna Glaser lässt sich in eine letzte Klinik einweisen, erzählt ihre Geschichte, bis ein Arzt fragt:
„Haben Sie schon mal was von transgenerationalem Trauma gehört?“
„Ich schon, aber viele Ihrer Kollegen offenbar nicht“, sagt sie.
Vier Jahre sind vergangen, bis sie in Deutschland jemanden findet, der sie ernst nimmt und unterstützt. Erst dann bekommt sie die Hilfe, die sie sucht und kann zu Schellinskis Praxis in die Schweiz. Die Krankenkasse stimmt zu und übernimmt einen Teil der Kosten.
Wenn das Leben fremdbestimmt wurde, ist es schwer, zu einem selbstbestimmten zu finden
Wenig später sitzt Johanna Glaser mit ihrer Mutter im Auto. Sie erzählt von der Schweiz, von der Therapie und den Kosten. „Und dann sagte meine Mutter: Was die Krankenkasse nicht bezahlt, zahle ich.“ Johanna Glasers Stimme bricht weg, als sie das erzählt. Sie hatte damals nichts darauf gesagt. Das war auch nicht nötig. Sie wusste: Ihre Mutter versteht, warum es ihr so schlecht geht.
Zwei Wochen lang ist Johanna Glaser bei Kristina Schellinski. Jeden Tag reden sie mehrere Stunden, sie malt ihre Träume mit Buntstiften und begreift immer ein Stückchen mehr. Die Schuldgefühle, der Juckreiz, alles nur, damit sie nah bei ihrer Mutter bleibt und kein selbstbestimmtes Leben lebt. Auch den Job, der so gar nicht zu ihr passte, wählte sie, weil das der Mutter entsprach, die früher den Opa pflegte. Sie richtete ihren Lebensstil an dem der Mutter aus – und an den unausgesprochenen Erwartungen, so zu sein wie Johann. Johanna Glaser hatte versucht, mal wie ihre Mutter und mal wie Johann zu sein.
Zurück in Deutschland startet sie wieder eine Therapie und Wut und Trauer weichen Mitgefühl. Ihre Mutter hatte es schwer, sagt Johanna Glaser. Niemand tröstete sie und Hilfe zu holen war undenkbar. Als ihre Mutter mit 87 Jahren zu einer Selbsthilfegruppe für Mütter geht, die ein Kind verloren haben, wird ihr abgeraten, wiederzukommen. Bei ihr sei es schon zu lange her, habe die Leiterin gesagt. So erzählt es Johanna Glaser.
„Meine Mutter hatte eine wahnsinnige Stärke“, sagt Johanna Glaser. Ihre Mutter war zwar innerlich abwesend und zurückgezogen – ein Phänomen, das der bereits verstorbene französische Psychoanalytiker André Green als „tote Mutter“ bezeichnet –, aber sie ist nicht ganz daran zerbrochen, sagt Glaser.
Dann im Februar 2015 stirbt ihre Mutter. Der Vater war schon Jahre zuvor verstorben. Und nun? Was macht ein Mensch, der für den Zweck geboren wurde, die Mutter über den Tod eines Kindes hinwegzutrösten? Johanna Glaser schweigt.
Die Sonne ist längst untergegangen. Auf dem Küchentisch flackert eine Kerze.
„Wenn mich etwas ganz tief berührt, ist mein Kopf leer“, sagt sie. „Und, was war die Frage? Ach ja!“
Der Kompass ist weg, sagt sie. Und damit der Sinn. Oder die Aufgabe, die ihr aufgetragen wurde: die Mutter zu schützen.
Jetzt muss sie für sich selbst leben. Johanna Glasers Leben beginnt mit dem Tod.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger