Als die Spanierin Beatriz Flamini, 51 Jahre alt, am 14. April 2023 aus jenem 70 Meter tiefen Loch stieg, das für 500 Tage ihre Heimat gewesen war, strahlte sie. Draußen klickten die Kameras und zückten Reporter:innen aus aller Welt ihre Mikros. Flamini aber wünschte sich erstmal eine Dusche.
Eine lange Zeit hatte die Bergsteigerin und Abenteurerin in einer Höhle in den spanischen Bergen nördlich der Stadt Motril gelebt. Ohne Tageslicht, ohne Kalender, ohne Uhr, ohne Handy. Und das auf eigenen Wunsch. Während Flamini in der Höhle ein Campingzelt aufgestellt hatte, in dem sie die meiste Zeit verbrachte, verpasste sie das Ende der Corona-Pandemie, den Start des Ukraine-Krieges, den Tod von Königin Elisabeth II. aus England.
Von all dem bekam Flamini nichts mit. Denn ein Team aus Wissenschaftlerinnen und Freiwilligen hatte sie in der Höhle zwar mit einer Stirnlampe und ein paar Campinglichtern, zwei GoPro-Kameras zur Überwachung, für den Notfall mit einem Laptop und speziell für diesen mit einem Wlan-Router ausgestattet. Aber eben nur für den Notfall. Flamini saß in der Höhle, weitestgehend im Dunkeln, völlig allein. Sie hatte sich außerdem auferlegt: kein Außenkontakt.
Sie las und zeichnete, manchmal machte sie ein bisschen Gymnastik. Sie schlief viel und träumte. Ihr Freiwilligenteam versorgte sie mit Fertiggerichten, die sie in einem Schacht der Höhle abstellten. Wenn Flamini zur Toilette musste, entleerte sie sich in einer Plastiktüte, die die Freiwilligen später einsammelten. So verging die Zeit.
Was macht so ein Experiment mit einem? Und wieso tut sich jemand so etwas an?
Ich wollte es wissen. Weil ich Flaminis Vorhaben, das für mich viel mehr nach Hölle als nach Höhle klang, einfach nicht fassen konnte. Zum Interview treffen wir uns via Zoom. Flamini ist aus ihrem Mini-Van zugeschaltet, in dem sie in den Bergen im Süden Spaniens lebt. Ein bisschen gedrungen sitzt sie auf der umgeklappten Rückbank und strahlt in die Kamera, ein Headset auf dem Kopf, eine Outdoorjacke am drahtigen Leib. Langes, rot-blondes Haar umrahmt ihr Gesicht, sie wirkt wach und so, als würde sie sich auf unser Gespräch freuen. Ihr Agent Yosuah Barea ist ebenfalls zugeschaltet, aus Oslo. So wollte es Flamini. Denn Beatriz spricht weder Englisch noch Deutsch, ich kein Spanisch. Das Gespräch führen wir deswegen auf Englisch, Yosuah übersetzt für Beatriz und mich.
Beatriz, meine erste Frage liegt auf der Hand: Warum wolltest du anderthalb Jahre in einer Höhle leben?
Ich bin eine Person, die gerne die eigene Komfortzone verlässt. Ich wollte mit der Zeit in der Höhle meine mentale und emotionale Stärke trainieren. Das ist mir sehr wichtig, weil ich zu Fuß die Wüste Gobi in der Mongolei durchwandern will. Bei diesem Projekt will ich vollkommen auf mich allein gestellt sein. Und darauf wollte ich mich vorbereiten.
Warum ausgerechnet 500 Tage? Und nicht 400 oder 600?
Weil ich eine runde Nummer wollte. Und weil ich dachte: „Okay, den Rekord hat Milutin Veljković in den 1970ern aufgestellt, als er 464 Tage in einer Höhle gelebt hat. Und wenn das möglich war, ist es auch möglich, 500 Tage zu schaffen!“
500 Tage in einer Höhle oder einmal die Wüste Gobi durchqueren: Was suchst du in solchen Extremsituationen?
Als professionelle Bergsteigerin möchte ich so effizient wie möglich sein. Persönlich, beruflich, mental und emotional. Um dieses Ziel zu erreichen, fordere ich mich selbst heraus.
Du hast aber nicht immer dieses Extremleben gelebt. Bis du 40 Jahre alt warst, hattest du das, was man ein klassisches Leben nennen würde: einen Partner, ein Haus, einen Job, ein Auto. All das gabst du dann auf, um in einem Van in den Bergen zu leben. Warum? Was hat gefehlt?
Ich habe das Leben vermisst. Ich meine, als Profisportlerin habe ich schon immer gern in den Bergen trainiert, für mich selbst, aber auch andere Sportler:innen. Ich hatte eigentlich alles, was man haben sollte. Aber es war nicht das, was ich wollte.
Was wolltest du?
Mich mit mir selbst wohlfühlen. Spüren, dass das, was ich tue, das Richtige ist. Diese Fülle zu haben. Und ich wollte das erreichen, was wir meiner Meinung nach alle auf persönlicher und beruflicher Ebene anstreben, nämlich eine Einheit von Leben und Arbeit.
Ich verstehe das nicht wirklich. Wenn man für anderthalb Jahre in eine Höhle geht, ganz bewusst, ohne wirklichen Außenkontakt, verzichtet man ja auf viel Leben. Vor allem auf ein Privatleben.
Nein, das stimmt nicht. Ich bin der Meinung, dass ich, um eine gesunde Beziehung zur Außenwelt und zu anderen zu haben, zuerst mich selbst kennen muss. Ich muss wissen, was meine Schwächen sind.
Das also ist es, was du in der Einsamkeit findest?
Man lernt sich selbst kennen. Einsamkeit auszuhalten, ist generell sehr schwer. Aber für viele Extremsportler:innen ist sie der Hauptgrund, warum sie aufgeben. Es gibt so viele Sportler:innen, die sagen, dass sie im Sport Einsamkeit aushalten, aber das stimmt oft nicht. Während ihrer Expeditionen haben sie Kontakt mit den Menschen vor Ort, mit den Einheimischen. Das ist keine echte Einsamkeit. Einsamkeit bedeutet Abwesenheit.
Quelle: privat
Und darauf wolltest du dich vorbereiten?
Ich bin eine Entdeckerin, ich erkunde gerne. Die Expedition, die ich in der Mongolei plane, erfordert eine große mentale und emotionale Stärke, damit ich sie ganz allein und auf mich selbst gestellt durchführen kann. Also trainiere ich diese Stärke, so wie meine Kondition oder meine Schnelligkeit. Damit ich in der Mongolei keine Angst vor der Einsamkeit haben muss und mich allein auf die physischen Anforderungen konzentrieren kann. Damit ich dieses Projekt schaffe.
Du bist in der Höhle wirklich in die Einsamkeit und Dunkelheit eingetaucht: Du hattest kein Radio, kein Tageslicht, keine Uhr, wusstest nicht, ob es draußen Tag oder Nacht ist, auch nicht, welches Datum der Kalender zeigte. Es ist eine sehr außergewöhnliche Erfahrung. Was passiert mit einem, wenn man für eine derart lange Zeit nur mit sich ist?
Das Erste, was in der Höhle passierte: Ich bereute meine Entscheidung. Weil mein Gehirn sich wie im Stich gelassen fühlte von der Außenwelt; als wäre ich verlassen worden. Aber es fühlte sich auch so an, als hätte ich die anderen im Stich gelassen. Mein Verstand reagierte mit Ablehnung. In einem zweiten Schritt muss man lernen, diese Gedanken und Gefühle des Verlassenseins zu managen. Wenn man im normalen Alltag allein ist, ist man irgendwann gelangweilt davon. Das ist Teil des Prozesses. Weil man keinen Input von außen hat. Um uns herum gibt es so viele Stimuli, die ganze Zeit. Aber wenn man ohne diese ganzen Stimuli ist und wenn man es schafft, diese Gedanken und Emotionen zu überwinden, dann geht man in sich – und findet irgendwann sich selbst. Mit allem, was dazugehört. Und das ist das Wichtigste.
Das heißt?
Plötzlich entdeckst du Teile von dir: Wie du geistig bist, wie du emotional bist, wie dein Bewusstsein funktioniert. Und du hast keine andere Wahl, als dich mit dir selbst anzufreunden.
Die meisten Menschen würden an dieser Stelle wohl einwenden: „Aber es sind doch auch die Personen um mich herum, die mein Selbst formen. Meine Kinder, mein Partner, meine Freund:innen, meine Kolleg:innen, meine Eltern.“ Würdest du sagen, du hast in der Höhle dein wahres Ich gefunden, obwohl du vollkommen allein warst?
Nein, das ist falsch. Ich ignoriere das alles nicht. Ich liebe meine Familie, ich liebe meine Freunde, ich liebe die Umwelt. Aber was ich brauche, um eine gute Grundlage zu haben, um eine gesunde und ausgewogene Beziehung zur Außenwelt zu führen, bin ich selbst. Es gibt viele Menschen, die sich sehr gut fühlen, wenn andere da sind. Für solche Menschen ist der Kontakt zu anderen essentiell. Aber in meinem Fall ist das nicht so. Ich fühle mich gut, wenn ich allein bin. Ich mag das. Für mich ist es viel leichter, mit mir allein zu sein als mit anderen.
Was hast du da unten in der Höhle gemacht?
Ich war in der ersten Zeit in der Höhle sehr zufrieden, dort zu sein. Das zu tun, was ich tun wollte, und das zu erleben, was ich erleben wollte.
Aber ganz konkret: Wie hast du deine Zeit verbracht und woran hast du dich orientiert?
An meinen Bedürfnissen. Wenn ich etwas aufschreiben wollte, habe ich geschrieben. Wenn ich lesen wollte, habe ich gelesen. Wenn ich meditieren wollte, habe ich meditiert. Und wenn ich schlafen wollte, habe ich geschlafen. Dabei habe ich versucht, immer den klaren Gedanken im Kopf zu behalten: Ich möchte stärker hier rausgehen, als ich reingegangen bin, als eine bessere Person. Dieses Versprechen hatte ich mir selbst gegeben, als ich in die Höhle reingegangen bin, als einzige Bedingung.
Quelle: privat
Wie hat sich deine Realität in der Höhle verändert? Ohne die ganzen äußeren Stimuli und Orientierungspunkte wie Tageszeiten, Kalendertage oder Jahreszeiten. Wenn man nur mit den eigenen Gedanken ist, woher weiß man, was noch real ist?
Ich weiß nicht, ob das, was mir in der Höhle passiert ist, auch bei allen anderen Menschen in einer solchen Situation so wäre. Weil ja jeder Mensch einzigartig ist. Aber in meinem Fall hat sich die lineare Vorstellung von Zeit – mit einer Vergangenheit, einem gegenwärtigen Moment und einer Zukunft – komplett aufgelöst. Es gab keine Vergangenheit und Zukunft mehr, alles war ineinander verschmolzen, alles existierte gleichzeitig. Meine Erinnerung war meine Zukunft war meine Gegenwart. Vielleicht so wie in der Quantenphysik. Für mich hat es sich angefühlt, als sei der Tag, an dem ich die Höhle verlassen würde, derselbe, an dem ich hineingegangen bin. Auch jetzt, ziemlich genau ein Jahr, nachdem ich aus der Höhle wieder rausgekommen bin, fühlt es sich an, als hätte ich die Höhle erst heute Morgen verlassen. Ich weiß natürlich, dass das nicht so ist. Es ist nur ein Gefühl, ein Gedanke. Nicht die Realität.
Als du in der Höhle bemerktest, dass du gerade das Konzept von Zeit verlierst, hat dir das Angst gemacht?
Am Anfang hatte ich keine Angst. Da dachte ich lediglich: „Wie wird sich diese verändernde Wahrnehmung auf die Realität und meine Beziehungen zu anderen auswirken?“ Die offensichtliche Herausforderung besteht aber darin, sich von dieser verschobenen Realität nicht mitreißen zu lassen. Sich nicht anders zu verhalten, weil die Realität sich anders anfühlt. Man darf nicht in den Wahnsinn gehen, also in eine Realität, die nicht real ist. Und hier kommt das Training der mentalen und emotionalen Stärke ins Spiel. Das heißt, ich bin mir bewusst, dass meine zeitliche Realität und Wahrnehmung sich im Vergleich zu 99,9 Prozent der Menschen verändert hat. Von linear zu sphärisch.
Du meinst, jetzt auch noch?
Ja.
Also dieses verschobene Zeitgefühl hält immer noch an?
Genau.
Wie lebst du dann? Nach einem Kalender? Nach Terminen, Uhrzeiten? Hat all das überhaupt noch eine Bedeutung für dich?
Ich tue so, als würde ich weiterhin auf der zeitlichen Linie leben. Aber in Wirklichkeit, in meiner Realität, ist das nicht so. Ich habe einen Kalender, so wie jede:r andere auch, ich habe die Dinge im Kopf, die ich erledigen muss, so wie jede:r andere. Aber wenn ich jetzt mit dir rede, gibt es nur diesen Moment. Keine Vergangenheit, keine Zukunft.
Ich möchte nochmal auf die Zeit in der Höhle zurückkommen: Wenn sich die Zeit so sehr aufgelöst hat und damit auch ein Stück weit deine Wahrnehmung der Realität, was ist dann mit deinen Träumen passiert? Haben sie sich in der Höhle verändert?
Ja, ich habe viel geträumt in der Höhle. Ich weiß nicht, ob das luzide Träume waren, aber sie waren schon sehr klar. Ich träumte zum Beispiel, dass ich träumen würde.
Hat das angehalten bis jetzt?
Nein. Aber ich vermisse diese Träume. Ich würde gern wieder so träumen können.
Was war das Beste an der Zeit in der Höhle?
(Sie überlegt länger.) Zu wissen, wer ich jetzt bin.
Und was hast du am meisten genossen in der Höhle?
Den Moment, als ich sie wieder verließ. Obwohl das gleichzeitig auch sehr schwierig war. Denn ich wollte die Höhle nicht verlassen, ich wollte nicht aufhören. Aber zu spüren, dass ich mein Vorhaben geschafft hatte, dass ich mich mir selbst mit allen Gefühlen und Gedanken gestellt hatte, war ein sehr guter Moment.
Quelle: privat
Wieso wolltest du die Höhle nicht verlassen?
Wegen allem, was ich dort gefunden hatte. Mir war sehr bewusst, dass ich all das draußen nicht finden würde.
Lass mich an dieser Stelle nochmal nachhaken: Was ist es, was du in der Höhle gefunden hast?
Die klarste Variante meiner selbst. Ohne Ablenkungen und Manipulationen von außen.
Ist es sehr schwer, dieses Selbst in der normalen Außenwelt zu behalten?
Ich versuche, mich jeden Tag daran zu erinnern, wer ich in der Höhle war. Die mentale Arbeit, die ich momentan mache, besteht darin, diese Emotionen und Gedanken auf eine sehr sanfte Weise zu bewahren.
Die Beatriz, die du in der Höhle gefunden und kennengelernt hast, ist das eine sehr andere Beatriz als die, die du draußen bist?
Auf diese Frage habe ich immer noch keine Antwort gefunden. Aber ich kann sagen: Als ich in der Höhle war, habe ich die Bea vermisst, die ich draußen war – und nun, wo ich wieder draußen bin, vermisse ich die Variante von mir, die ich in der Höhle war.
Was war das Schwierigste an deinem Leben in der Höhle?
Die Möglichkeit des Scheiterns. Ich hatte immer diese Angst, es vielleicht nicht zu schaffen. Und damit verbunden die Sorge darum, dass ich etwas falsch machen könnte, was jeder einzelnen Person meines Teams draußen Schaden zufügen könnte. Vielleicht war das meine größte Angst von allen Ängsten. Denn mein Team draußen tat ja alles, damit ich die 500 Tage durchhalten würde.
Gab es einen Punkt in der ganzen Zeit, an dem du ans Aufgeben gedacht hast und hinschmeißen wolltest?
Nein.
Keinen einzigen?
Nein.
Nach etwa 300 Tagen unter der Erde gab es einen Zwischenfall: Der Wlan-Router in der Höhle streikte und funktionierte nicht mehr. Dein Team beschloss daraufhin, sie würden jemanden in die Höhle schicken, um ihn auszutauschen. Du nahmst kurzerhand dein Zelt, trugst es in Richtung des Ausgangs und stelltest es dort auf, um einen direkten Kontakt zu verhindern. Du bliebst acht Tage oben. In dieser Zeit wurde der Router in der Höhle repariert. Aber am Ausgang trafst du doch ungeplant auf ein Mitglied deines Teams. Gab es in diesem Moment nicht die Versuchung, das ganze Experiment abzubrechen? Vor allem ja auch, weil du den Rekord von 464 Tagen jetzt schon nicht mehr brechen konntest.
Nein. Auch zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Zweifel. Ich wusste, dass ich die 500 Tage bewältigen und zurück in die Höhle gehen würde.
Warst du während dieser acht Tage die ganze Zeit im Zelt oder bist du auch draußen herumgelaufen?
Ich habe das Zelt nur verlassen, wenn ich auf Toilette musste. Alle zwei Tage bin ich zurück in die Höhle, um Wasser und Essen zu hohlen.
Als du dann wieder zurück in die Höhle gegangen bist, war das schwer? Der Moment, in dem du dich aufgemacht hast, noch ungefähr weitere 200 Tage in der Höhle zu verbringen?
Nein. Es war das Einzige, was ich wollte.
Du hast in diesen restlichen 200 Tagen deinen 50. Geburtstag unter der Erde gefeiert, ganz allein. Hast du in der Höhle überhaupt gewusst, wann dein 50. Geburtstag war?
Nein (sie lacht). Aber ich habe mich schon vor Jahren dafür entschieden, meinen Geburtstag nicht zu feiern. Also für mich hat das keine Relevanz.
Verstehe. Gab es irgendwann mal einen Punkt, an dem du dich depressiv gefühlt hast?
Nein. Nur als ich daran dachte, dass ich die Höhle irgendwann wieder verlassen muss, war ich sehr traurig. Aber ich hätte nicht viel länger bleiben können. 600 Tage hätte ich zum Beispiel nicht durchgehalten. Es ist zu anstrengend, mental, aber auch physisch. In der Höhle hat sich immer alles wiederholt, die Zeit lief wie in Schleife; es war, als wäre ich verdammt dazu, immer wieder das Gleiche zu tun und zu erleben.
Gab es so etwas wie Halluzinationen?
Laut der Psychiaterin, die Teil meines medizinischen Teams war und die das Material der GoPro-Kameras ausgewertet hat: nein.
Und deinem eigenen Gefühl nach, unabhängig dessen, was die Kameras zeigten? Hattest du selbst mal das Gefühl: „Okay, jetzt verliere ich wirklich die Kontrolle und werde langsam verrückt“?
Nein. Ich glaube, dass ich versucht habe, immer im jeweiligen Moment zu sein und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, hat mir sehr geholfen.
Das hört sich bei dir so einfach an: sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, die eigenen Gedanken zu managen. Aber den meisten Menschen fällt das extrem schwer. Wie macht man es?
Erstens musst du dir selbst zuhören. Wenn du einen wiederkehrenden, negativen Gedanken hast, den du nicht haben willst, musst du diesen Gedanken erst einmal akzeptieren. Es bringt nichts, ihn zu verdrängen – du musst dem Gedanken in die Augen sehen, mit ihm sprechen, ihn sein lassen. Du stellst dich ihm und versuchst, mit dem Gedanken zu arbeiten. Dann kannst du ihn lösen, er verschwindet. Das ist ganz einfach. Je eher man sich damit auseinandersetzt, desto eher hört das repetitive Denken auf, desto besser geht es einem mit sich selbst.
Wie lebst du mittlerweile? Und wo?
Ich lebe wieder im Süden Spaniens, in meinem Mini-Van. So wie in den Jahren vor dem Höhlenprojekt. Ich trainiere jeden Tag für meine Gobi-Durchquerung. Aber wann genau die stattfinden wird, kann ich noch nicht sagen. Nicht vor nächstem Jahr, vermutlich.
Wie war dein vergangenes Jahr außerhalb der Höhle, zurück in der Realität?
Ich gewöhne mich immer noch daran. Es ist schwer, sich wieder anzupassen. Meine Umgebung jetzt, diese Welt, in der ich lebe, kommt mir heute vor wie eine Lüge. Wenn du so viel Zeit in der Dunkelheit verbracht hast, nur mit dem Nötigsten und nur mit sich selbst, und dann zurückkommt in die normale Welt, realisierst du, dass alles, was uns umgibt, absolut unnötig ist. Alle Worte, all der Stress, all der Ärger und die Schwierigkeiten, die wir in unseren Leben durchmachen, die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben, aber auch die guten, schönen Dinge, die wir tun: All das ist unnötig. Deswegen kommt es mir jetzt vor wie eine Lüge. Das soll nicht heißen, dass ich das Außen, diese Welt, nicht verstehe. Nur meine Wahrnehmung hat sich verändert.
Das klingt sehr traurig. Bist du jetzt vielleicht einsamer, als du es in der Höhle jemals warst?
(Sie überlegt länger.) Physisch nicht, nein. Ich schätze die Menschen in meinem Leben sehr, die ich liebe und die mich lieben. Aber ohne jemanden verletzen zu wollen: mental und emotional ja, sehr einsam sogar. Weil niemand in der Lage ist, meine Erfahrung wirklich zu verstehen.
Glaubst du, dass dieses Gefühl der Entfremdung von der Welt sich jemals wieder legen wird? Und du vollkommen zurückkehren kannst?
Stell dir vor, du verbringst anderthalb Jahre in deinem persönlichen Paradies, wie auch immer das aussieht und wo immer das ist. Und dann kommt jemand, nimmt dich dort raus und verpflanzt dich zurück an deinen ganz normalen Arbeitsplatz…
…Horror!
Schließe deine Augen und stelle dir diese Situation vor. Stelle dir die Trauer vor, diese Sehnsucht nach dem Paradies – und das multiplizierst du dann zum Beispiel mit drei.
Fühlt sich ziemlich schrecklich an.
Deine Gedanken, Gefühle und Erinnerungen kehren immer wieder an diesen Ort, ins Paradies zurück – dein Körper ist aber gleichzeitig hier. Es war anfangs wirklich sehr schwer, nicht mehr an die Höhle zu denken. Aber das hat im ersten halben Jahr nachgelassen. Bis ich angefangen habe, damit umzugehen und zu akzeptieren, dass ich wieder in meinem beschissenen Job bin, sozusagen. Mittlerweile fällt es mir wieder leichter, mein jetziges Leben wertzuschätzen.
Wie muss ich mir einen ganz normalen Tag im Leben von Beatriz Flamini vorstellen?
Ich wache früh am Morgen auf, frühstücke, dann wandere ich 20 Kilometer, jeden Tag. Wenn ich zurückkomme, esse ich, ruhe kurz aus und arbeite dann an meinen Kursen, die ich für Firmen und Profisportler gebe. Damit verdiene ich mein Geld.
Nach all dem, worüber wir jetzt gesprochen haben, habe ich nur noch eine Frage: Wenn so vieles in unserer Welt so unnötig ist, was ist es dann, das wirklich zählt? Für dich?
Zu existieren. Und authentisch zu sein.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert