Warum wir einen Auszug aus einem literarischen Erzählband veröffentlichen? Weil es ein sehr besonderes Buch ist.
Es ist das Debüt einer Achtzigjährigen.
Als ich, Lea, das Buch vor ein paar Wochen auf dem Büchertisch in einer Buchhandlung in Berlin-Friedrichshain entdeckte, legte ich die anderen zwei Bücher in meiner Hand zurück. Und kaufte nur das.
Es war der beste Kauf dieses Jahr (und dabei habe ich mir auch schon einen Beamer gekauft und eine sehr schöne Hose!), weil das Buch etwas mit mir gemacht hat.
Diesen Buchauszug hat Lea Schönborn ausgewählt
Lea schreibt über Gesellschaft und Politik und interessiert sich sehr dafür, wie junge und alte Menschen übereinander denken. Hier begründet sie, warum du diesen Buchauszug lesen solltest.
Jane Campbell, die Autorin, erzählt die Geschichten von dreizehn verschiedenen Frauen. Alternden Frauen. Die Geschichten sind zwar fiktiv, aber sie sind eine Sammlung der Menschen, die Campbell in ihrem Leben getroffen und der Geschichten, die sie gehört hat.
Campbell stellt dabei alles auf den Kopf, was wir meinen, von alten Frauen zu wissen. In ihrem Buch spüren die Frauen sexuelles Verlangen, sie können töten und sich neu verlieben, sie können enttäuscht werden und trotzdem mit erhobenen Kopf aus der Sache rausgehen. Ich habe mich beim Lesen ertappt gefühlt, weil ich alte Frauen unterschätzt habe.
Ich würde sagen: Es ist das perfekte Geschenk für jede Mutter oder Großmutter. Aber ich trage keine Haftung für die Gedanken, auf die die Leser:innen durch die Lektüre kommen könnten.
Katzenbuckel
Heute Morgen, während ich den Regen übers Meer auf uns zukommen sah, habe ich die Katze gebürstet. Sie ist eine Siamesin, glatthaarig und wie ich ziemlich alt, und ihr Fell ist nicht so kräftig oder widerstandsfähig, wie es einmal war, aber sie machte vor Behagen einen Buckel und hob den Kopf, damit ich an ihren Hals herankam, ihre verletzlichste Stelle. Und als ich sie so auf die festen, gleichmäßigen Striche reagieren sah, musste ich an mich selbst im Bett mit einem von meinen ehemaligen Liebhabern denken, sah mich den Rücken durchbiegen und mich anbieten und fragte mich, ob sie sich hinterher so ähnlich fühlte, wie ich mich immer gefühlt hatte, wenn es vorbei war, also ob sie froh und dankbar war, gebürstet worden zu sein. Anders gesagt, empfand sie nur im Moment Genuss, oder wirkte er auch nach?
Als ich fertig war, verzog sie sich, während ich mit einiger Mühe aufstand. Beim Bürsten liegt sie der Länge nach ausgestreckt auf dem Küchenfußboden, und ich knie neben ihr. Neuerdings merke ich, dass ich mich an der Küchentischkante festhalten muss, um wieder auf die Beine zu kommen, aber ich sage mir, dass es eine gute Übung für meine Schenkel ist. Und dann kommen mir unweigerlich die anderen Übungen in den Sinn, in die meine Schenkel einst involviert waren.
Ich weiß natürlich, dass wir nicht das Gleiche sehen
Die Küchentür stand offen, und ich konnte das Wasser im Großen Sund sehen, das an diesem frühen Morgen beschichtetem Metall ähnelte, auf dem die kleinen Höcker der Inseln ruhten. Ich ging zur Tür und beobachtete, wie alles, Horizont, Meer und Land, im stärker werdenden Regen wolkig wurde. Die Katze saß neben meinen Füßen. Wir blickten beide hinaus. Ich weiß natürlich, dass wir nicht das Gleiche sehen. Ihre Wahrnehmung ist in jeder Hinsicht anders als meine. Ich spüre und rieche die Feuchtigkeit und höre auch die Regentropfen auf ganz andere Weise als sie. Aber sie sitzt da bei mir und beobachtet alles mit dem gleichen Maß an Zufriedenheit.
Eine solche Aussicht jederzeit zur Verfügung zu haben, ist fantastisch und ich schätze mich überaus glücklich. Die Küche geht zur Veranda hinaus, wo ein Haufen Stühle und Tische und ein großes Ecksofa stehen. Die Katze und ich sitzen hier stundenlang. Der Blick ist wie ein mobiles Panorama für alte Leute, denn irgendwo ist immer etwas in Bewegung. Zum einen sind da natürlich die großen, regelmäßig verkehrenden Fähren für Leute aus dem Ort, dazu in der Ferne die klobigen, mit Touristen vollgestopften Ozeanriesen, die draußen beim Dockyard vor Anker liegen, aber davon abgesehen herrscht ein ständiges Hin und Her kleiner Boote.
Manchmal zum Beispiel, wenn das Meer durchsichtig blau in der Sonne liegt, treibt eine kleine Jacht mit weißen Segeln über die immense, faszinierende Farbenfläche, und ich verfolge sie von einer Seite des Sunds zur anderen, stelle mir die Menschen darauf vor, erfreue mich an ihrem ruhigen Fortkommen in den Meeresbrisen. Abends verwandeln sich die Boote in ein Muster aus leuchtend grünen, roten und orangen Lichtern und tuckern heimwärts, um an den Anlegern der glücklichen Hausbesitzer festzumachen.
Ich frage mich, ob sie etwas von Einsamkeit weiß
Die Katze und ich beobachten all dies gemeinsam. Wir sind in Bermuda. Dem Touristenparadies. Reiche Heimat für reiche Geldgeber wie meinen großzügigen Sohn. Wir wissen, dass wir sehr viel Glück haben. Mein Sohn ist fast fünfzig, seine neue Frau Ende dreißig. Gar kein so großer Altersunterschied. Sie macht ihn glücklich. Wenigstens hoffe ich das. Die Katze und ich kennen ihn natürlich schon viel länger. Na ja, ich, seit er auf der Welt ist, und die Katze seit vielen Jahren.
Während wir unsere Aussicht betrachten, stricke ich, denn das soll gut für alte Finger sein, während die Katze nichts tut, als weise zu blinzeln und ihre Wärme an meinen Oberschenkel abzugeben. Ich frage mich, ob sie etwas von Einsamkeit weiß, allerdings heißt es ja, Katzen interessierten sich für nichts als ihre eigene Behaglichkeit.
Ich gelte als zu alt, um allein zu leben
Ich liebe diesen Ausblick, aber es ist natürlich nicht meiner. Er gehört mir genauso wenig, wie mir die Katze gehört. Sie und ich, wir werden von meinem Sohn beherbergt und verpflegt, denn ich gelte jetzt als zu alt, um allein zu leben. Die Katze weiß das nicht, und da ich diejenige bin, die morgens als Erste aufsteht und sie füttert, bevor ich die Küchentür öffne, meint sie vielleicht, ich sei verantwortlich für ihre Grundversorgung, wenn man das so nennt, und daher auch ihre Besitzerin. Und es ist auch mein Bett, in das die Katze nachts nach dem Jagen kommt, um sich unter der Decke zwischen meinen Knien zusammenzurollen. Es ist seltsam, sie dort zu haben, aber ich glaube, bevor mein Sohn verheiratet war, hat sie immer bei ihm geschlafen. Ich beklage mich nicht; zwischen meinen Beinen ist mir dieser Tage alles willkommen.
Mir gehört heute nichts, außer meinem Körper und meinem Geist, nehme ich an, so wie sie nach den vielen Jahrzehnten des Gebrauchs nun eben sind. Schlechten Gebrauchs mitunter. Aber immerhin wurden sie gebraucht, vergeudet habe ich sie nicht, Gott sei Dank. Das kann ich meinem Sohn natürlich nicht sagen. Er betrachtet uns beide so wohlgefällig, wenn wir am Abend zusammen dasitzen, die Katze auf meinen Knien, während ich auf den Bildschirm schaue. In seinem Kopf wie in den Köpfen aller Welt sind eine alte Frau und ihre Katze ein bezauberndes Bild der Unschuld.
Die Katze und ich lernen mehr und mehr über den Prozess der Enteignung
Die Katze und ich lernen mehr und mehr über den Prozess der Enteignung. Das Altern wird oft als eine Phase der Kumulation dargestellt, der Anhäufung von Krankheiten, Beschwerden, Falten, aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen. Ich konnte Männer früher ziemlich leicht verführen, natürlich erst, nachdem ich meinem Mann entkommen war. Es waren verheiratete Männer, deshalb war ich bei ihnen sicher. Wir konnten gemeinsam in Wellen der Lust, des Verlangens und Sehnens ertrinken, gefolgt von kurzen ekstatischen Phasen der Befriedigung und Freude und ungeheurer Dankbarkeit für das schiere Glück unserer Lage. Es fiel uns so leicht, einander glücklich zu machen. Und auch das ist eine Enteignung: dass man niemanden mehr glücklich macht. Wenn ich früher den Rücken durchbog oder wölbte und lustvoll miaute, erregte das meine Liebhaber, weil es sie ihrer Potenz versicherte. Jetzt habe ich bloß noch meinem Sohn ein paar Zentimeter Gestricktes zu geben. Es ist ein furchtbarer Verlust.
Da ich also niemanden mehr glücklich machen kann, versuche ich, wenigstens nützlich zu sein. Und nicht abstoßend. Gestern hat die Katze sich übergeben. Das passiert ihr mitunter. Sie jagt, hat immer gejagt, aber ich glaube, sie ist jetzt weniger erfolgreich darin als früher. Da ist er wieder, der Verlust. Sie fängt die langsameren Beutetiere und frisst kleine Teile davon, und vielleicht sind auch sie schon schwächlich oder krank.
Es ist ein schrecklicher Gedanke, aber bei mir geht etwas Ähnliches ab, wie die jungen Leute sagen. Ich habe meinen Sohn gesehen, als er die kleine Pfütze grüner Kotze aufwischte, daher weiß ich, was er für ein Gesicht machen wird, wenn ich eines Tages die Kontrolle verliere und mir auf den Rock kacke und er dann einen braunen Fleck sieht und ihn auch riecht und um meine Schande weiß. Enteignet, verstehen Sie, der Kontrolle und Eleganz beraubt und all der Reize, die ich einst im Überfluss besaß.
Einst war das Fortbewegen auf Händen und Knien eine provozierende Pose
Wir haben beide ein kleines Gewichtsproblem. Der Tierarzt hat ihr eine Diät verschrieben, weshalb sie jetzt drei feste Mahlzeiten am Tag bekommt, anstatt hier und da naschen zu dürfen wie die meisten Katzen. Ich versuche, weniger zu essen, bin aber pummelig und formlos geworden. Wenn ich mich die ganze Zeit auf Händen und Knien fortbewegen würde (wobei mir natürlich der liebe S. einfällt), würde auch mein Bauch bis auf den Boden herabhängen. Einst war das eine so provozierende Pose.
Seit Kurzem habe ich einen leichten Husten. Na ja, inzwischen wohl seit ein paar Monaten. Meine Schwiegertochter ist letzte Woche mit mir zum Arzt gegangen, und er hat gesagt, es könnte eine Allergie sein. Ich finde das lächerlich. Als ich ein Kind war, hatte niemand Allergien. Heutzutage gibt es Erdnussallergien, Milchallergien, Glutenallergien. Die Liste ist lang. Wir hatten nur Essen oder kein Essen. Und Haustiere. Meinen Sie Asthma, habe ich ihn gefragt. Aber der Arzt, jung und smart, der meine alten Hängebrüste nicht anschauen mochte, als er mich abhorchte, so demütigend, äußerte sich nicht klar dazu. Er schaute meine Schwiegertochter an, mit einer Art Augenzwinkern, so wie Erwachsene es tun, wenn Kinder dabei sind.
Wieder zu Hause, hielt ich den Mund, in der Hoffnung, das Thema würde sich von selbst erledigen, aber heute Morgen hat mein Sohn mir gesagt, der Arzt gehe davon aus, dass ich allergisch gegen die Katze geworden sei. Unsinn, habe ich gesagt. Schließlich lösten Siamesen von allen Katzen am seltensten Allergien aus, das wisse doch jeder. Und wir lebten ja nun auch schon drei Jahre lang Seite an Seite. Aber er blieb dabei; der Arzt sei sich seiner Diagnose sehr sicher.
Ich habe Angst um mich und um die Katze
„Er meint, wenn wir älter werden, können wir neue Allergien entwickeln, selbst gegen Siamkatzen“, sagte er.
„Und was willst du jetzt tun?“, fragte ich. Er war spät dran, musste zur Arbeit und sagte, wir würden am Abend darüber sprechen, wenn er zurück sei. In ein paar Stunden kommt er nach Hause. Ich habe Angst. Angst um mich und um die Katze.
Manchmal schaue ich zu, wie sie sich putzt. Sie leckt und leckt sich, und ich wüsste gern, wie sich das anfühlt. Ich wünschte, ich könnte mich auch lecken. Darin war P. am besten. Er liebte es, verschwand stundenlang dort unten zwischen meinen Beinen. Nein, ich übertreibe natürlich, aber ich habe nie ganz verstanden, warum ihm das so viel Spaß machte. Ich bog natürlich den Rücken durch und miaute und schnurrte wie üblich und konnte ihn auf diese Art genauso glücklich machen wie er mich. K. hingegen tat nichts dergleichen. „Die Jungs würden sagen, wer Muschis lutscht, würde alles lutschen“, sagte er öfter zu mir, und ich lächelte; wie albern. Er war in mancher Hinsicht derart prüde und in anderer so lasziv. Aber wer neben mir schlief, wie die Katze, das war C. Er war mein Schläfer. Ich beobachte, wie die Katze sich einrollt und denke, so waren wir. Wie ein Körper, Muskeln und Haut nahtlos aneinandergeschmiegt.
Ich hasse Stricken genauso, wie ich einmal glaubte, Katzen zu hassen oder zumindest nicht zu mögen. Das war zu der Zeit, als ich allein lebte. Ich brauchte meine Freiheit und Raum für mich allein und niemanden, der von mir abhing. Aber die Katze ist jetzt meine Mitgefangene, und ich glaube, wir verstehen uns.
Sie hat ein alterndes Gesicht, so wie ich natürlich. Ihre Augen sind so blau und groß wie eh und je und ihre Ohren immer noch bezaubernd fledermausartig, aber ihre schwarze Nase ist keine junge Nase, und ihr Maul ist ein altes Maul. Die Lippen, wenn man sie denn so nennt, sind uneben und verfärbt. Und obwohl das Fell an ihrer Schnauze immer blass war (sie ist eine Blue Point), kommt es mir jetzt weißer vor als früher. Sie hat so gut wie keine Zähne. Die sind bei Siamkatzen ein Schwachpunkt. Was sicher das Jagdproblem verschärft. Ich habe meine Zähne noch, wenn auch schwer verblendet und überkront und so fort. Sie tun ziemlich oft weh. Manchmal denke ich, es wäre einfacher, sie mir alle ziehen zu lassen, wie es bei der Katze gemacht wurde.
Auch jetzt werde ich wohl geliebt, soll aber zuckersüß und pflegeleicht sein
Ich habe meine Schwiegertochter etwas von einem Baby sagen hören und dass sie glaubt, die Katze habe Keime. Daran denke ich jetzt, während ich sie streichle und ihr gelassenes Profil bewundere. Aber ich werde den Mund halten. Man hat mir manchmal vorgeworfen, ich spräche zu scharf mit Kindern.
Meine Schüler hatten früher Angst vor mir oder zumindest vor meinen gelegentlichen Standpauken. Ich hatte den Ruf, ein ziemlich strenges Regiment zu führen, aber es war ein Ruf, den ich pflegte. Einmal schimpfte ich eine Schülerin aus, und danach benahm sie sich nie wieder schlecht, und später hörte ich von einer Kollegin, dass sie gesagt habe: „Sie war böse auf mich, aber ich wusste, dass sie mich trotzdem liebte.“ Und so war es auch. Und ich wurde meinerseits geliebt und gefürchtet. Es war ein gutes Arrangement. Auch jetzt werde ich wohl geliebt, soll aber zuckersüß und pflegeleicht sein. Und ruhig. Was für ein Schicksal.
Bald kommt mein Sohn nach Hause. Meine Schwiegertochter bleibt heute Abend länger weg. Ich denke, er wird das Katzenthema ansprechen, solange sie nicht da ist, dann kann er behaupten, es sei ihre Sorge. Wenn sie die Katze weggeben würden, wo käme sie dann hin? Meine Schwiegertochter hält sich viel darauf zugute, bei Tieren nicht sentimental zu sein.
Die Wahrheit ist wohl, dass sie sie töten würden, und ich soll dann für das Baby stricken.
Manchmal frage ich mich, ob es nicht meine Aufgabe wäre, die Katze bis auf den Tod zu verteidigen. Ich zögere nur, weil ich mir, wie bei allen Liebesbeziehungen, nicht sicher bin, wie viel Altruismus tatsächlich darin steckt. Schließlich könnte ich sie dann auch nicht mehr bürsten. Ich werde sie schrecklich vermissen.
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Und wer jetzt noch mehr lesen möchte: Alle 13 Kurzgeschichten gibt es auf Englisch unter dem Titel „Cat Brushing“ bei Riverrun und auf Deutsch unter dem Titel „Kleine Kratzer“ beim Kjona Verlag zu kaufen.
Jane Campbell, 1942 geboren, hat als Psychoanalytikerin in Oxford gearbeitet, wo sie auch heute das halbe Jahr über lebt. Den Rest ihrer Zeit verbringt sie auf den Bermudas. 2017 schickte sie ihre Story „Katzenbuckel“ unverlangt an die renommierte „London Review of Books“, die sie prompt veröffentlichte und begeisterte Zuschriften erhielt. „Kleine Kratzer“ ist ihr erstes Buch.
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Rebecca Kelber, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert