Ein Baby wird von einer älteren Frau auf dem Arm getragen. Es trägt eine hellblaue Mütze mit Bärenohren.

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Leben und Lieben

Warum manche Babys Kuscheltermine brauchen

Mirco liegt seit seiner Geburt auf der Herzstation im Krankenhaus. Seine Mutter besucht ihn nur selten, sein Vater gar nicht. Deswegen braucht er Menschen wie Petra Graf.

Profilbild von Esther Göbel
Autorin

In Zimmer 12 der kinderkardiologischen Intensivüberwachung steht Schwester Conny vor einem Gitterbettchen und konzentriert sich. Es ist acht Uhr an einem Sonntagmorgen, draußen vor dem Fenster des Deutschen Herzzentrums rauscht ein Krankenwagen über das Berliner Charité-Gelände und durch den Januarfrost, drinnen prüft Schwester Conny jetzt den Tropf. Sie muss vorsichtig sein mit ihrem Patienten. Er darf sich nicht aufregen, schon das Trinken und die morgendliche Pflegerunde strengen ihn an.

Schwester Conny kontrolliert das Gewicht: 4.020 Gramm. Sie schaut auf den Puls: 140. Sie überprüft beide Zugänge, die in den Körper ihres Patienten führen. Erst die dünne Magensonde, die aus seiner Nase herausragt. Die Pfleger:innen von Station 24i haben sie mit einem kleinen Pflaster in Herzform fixiert. Alles in Ordnung. Dann noch die Kopfsonde, über die Kochsalz in den Körper des Patienten läuft, zwei Milliliter pro Stunde. Passt. Die Mini-Windel hat Schwester Conny schon gewechselt, gewaschen ist ihr Patient auch.

Mirco*, so heißt er. Ein hübsches Baby: der Kopf kreisrund, die Glieder schmal, der Blick aufgeweckt. Mirco ist klein für seine vier Monate, ein zartes Kind. Er liegt im Krankenhaus, weil er an einem schweren Herzfehler leidet. Der ist so massiv, dass das Baby es nicht schafft, allein ausreichend zu trinken und fortwährend überwacht werden muss. Der Monitor neben Mircos Bettchen misst den Herzschlag, die Sauerstoffsättigung und die Atemfrequenz, rund um die Uhr. Eng eingepackt in drei Decken liegt der Kleine in seinem Bettchen, das viel zu groß für ihn wirkt. Meistens liegt er dort allein. Ab und zu piept eine Maschine, ansonsten ist es still in Mircos Einzelzimmer. Seine Mutter kommt ihn nur unregelmäßig besuchen, alle paar Tage, höchstens. Den Vater hat Schwester Conny noch nie auf Station gesehen, und auch sonst niemand ihrer Kolleg:innen.

Frau Graf wird Mirco in den Armen wiegen. Dabei kennen sie sich gar nicht

Schwester Conny will Mirco jetzt das Fläschchen geben, gestillt werden kann er gar nicht. Alle drei Stunden muss Mirco gefüttert werden, von den 70 Millilitern, die in seinem Fläschchen stecken, trinkt er maximal 20. Heute nur zehn. Mirco ist unruhig und quengelt. „Bauchschmerzen“, sagt Schwester Conny und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, „kommt von den Medikamenten.“

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Pünktlich um neun Uhr geht die Zimmertür auf. Petra Graf tritt ein. Blonder Pagenkopf, herzliches Lächeln, die Wimpern hinter der Brille getuscht. Wenn Frau Graf irgendwo den Raum betritt, geht die Sonne auf. So ein Mensch ist sie. Sie sieht jünger aus als 73. Ein gepflegtes Äußeres ist Frau Graf als gelernte Einzelhandelskauffrau wichtig, wegen der Kunden. Seit 27 Jahren arbeitet sie im gleichen Laden in Berlin-Charlottenburg, einem Geschäft für Lederwaren, mittlerweile auf 450-Euro-Basis. Die anspruchsvollen Kunden schickt der Chef immer zu ihr. Weil Frau Graf nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen ist.

Jetzt ruft sie ein offenes, aber sanftes „Hallo!“ ins Zimmer. In der einen Hand hält sie eine große Einkauftstasche, voll mit Kuscheltieren. „Frisch gewaschen!“, sagt sie fröhlich. Sie stellt die Geschenktiere ab, die alle in Mircos Bett wandern werden. Dann noch Hände desinfizieren. Erst danach tritt sie an Mircos Bettchen. Die beiden kennen sich noch nicht, es ist ihr erster Termin. Frau Graf ist gekommen, um Mirco zu kuscheln.

Je sicherer sich ein Kind gebunden fühlt, desto sicherer steht es später in der Welt

Die meisten Menschen mögen das: sich streicheln lassen, gehalten werden, ganz nah beieinander liegen. Geschieht diese Form der Intimität freiwillig, ist sie meist mit direktem Wohlbefinden verknüpft. Viele Menschen leiden darunter, wenn sie nie oder nur selten berührt werden. Das gilt vor allem für Babys. Körperliche Nähe und Bindung sind für die Entwicklung eines Kindes so wichtig wie zu essen und zu atmen. Je sicherer sich ein Kind gebunden fühlt, desto sicherer steht es als Erwachsene:r in der Welt. Und diese früh erlernte Sicherheit ist essenziell. Vor allem, wenn es später darum geht, selbst langfristige, gesunde Beziehungen zu führen. Die meisten Mütter und Väter, die ihr Baby nur wenige Tage nach der Geburt aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen dürfen, tragen es deswegen oft so nah und so viel bei sich, wie es nur geht.

Nicht jedes Baby hat dieses Glück. Manche kommen zu früh oder krank auf die Welt und müssen lange im Krankenhaus bleiben. Mirco lebt wegen seines schweren Herzfehlers seit der Geburt in der Klinik. Er leidet unter einem veränderten Aortenbogen, einem Loch in der Ventrikelwand, einer Engstelle der Aortenklappe und an einer Fehlmündung der Lungenvenen. Seine Welt sind das Piepen der Maschinen, die Sonden, die in seinen Körper führen, das Trinken aus der Flasche, das tägliche Wiegen, die Schwestern, Pfleger und Ärzt:innen von Station 24i. Für Babys wie ihn wäre es besonders wichtig, dass jemand am Bettchen sitzt, spricht, mit ihm kuschelt. Weil Mirco oft unruhig ist und Schmerzen hat.

Aber nicht immer schaffen es die Eltern, einem Neugeborenen möglichst viel Nähe und Berührung zu geben. Vielleicht ist eine Mutter alleinerziehend und hat bereits Kinder, die ebenfalls betreut werden müssen, vielleicht lebt sie außerhalb Berlins, vielleicht sogar in prekären Verhältnissen, vielleicht gibt es keinen Kontakt zum Vater. Vielleicht war das Kind nicht gewollt. All das können Gründe dafür sein, dass eine Mutter ihr Kind zwar im Krankenhaus besuchen kommt, aber eben nur ein-, zweimal die Woche. Und nicht jeden Tag für mehrere Stunden.

Ein Baby hat mehrere Kuscheltermine pro Woche

Deswegen gibt es Menschen wie Frau Graf. Sie gehört zum ehrenamtlichen Kinderkrankenhausbesuchsdienst des Deutschen Roten Kreuzes Kreisverband Berlin-Zentrum. Das DRK hat über das ganze Stadtgebiet und verschiedene Krankenhäuser hinweg ein Netz aus Ehrenamtlichen gesponnen, die die Eltern unterstützen wollen. Was im Falle von Frau Graf bedeutet: Mehrmals in der Woche macht sie sich auf den Weg ins Krankenhaus, um dort ein Baby in ihren Armen zu wiegen.

Es ist eine Bindung auf Zeit. Und keine exklusive: Ein Baby kann jederzeit aus dem Krankenhaus verlegt oder entlassen werden. Und damit es dort so viel Nähe erhält, wie nur irgend möglich, bekommt ein Neugeborenes möglichst viele „Kuscheltermine“ pro Woche, auch von mehreren Ehrenamtlichen.

Schwester Conny hebt Mirco langsam aus dem Bettchen. Sein Puls liegt bei 137, er ist unruhig und quengelt immer noch. Frau Graf hat es sich mittlerweile auf einem Stuhl bequem gemacht. Sie streckt die Arme nach Mirco aus, Schwester Conny legt ihn hinein, ganz vorsichtig. „Ja, wer bist du denn?“, säuselt Frau Graf direkt los, „du bist ja ein Hübscher! Du hast Bauchschmerzen? Ich würde mich auch gegen die Sonden wehren, da hast du ganz recht!“ Sie wiegt Mirco sachte hin und her, blickt ihn aufmerksam an. Nach einigen Minuten beruhigt Mirco sich langsam. Die Pulskurve im Monitor zeigt 126. Irgendwann fallen ihm die Augen zu. Sein Puls sinkt weiter, auf 124, dann auf 118.

Jedes Kind reagiert anders auf Kontakt, möchte anders gehalten werden. Frau Graf hält sie alle: die ganz Kleinen, die Schreibabys, die mit Herzfehler, die ohne. Eine Stunde, zwei, manchmal drei. Sie wiegt, singt, summt, lächelt. Manchmal darf sie auch das Fläschchen geben. Je nach Krankenhausregel. Nur eine Sache ist tabu: küssen. „Nein, das macht man nicht!“, sagt Frau Graf. Diese Form der Nähe bleibt den Eltern vorbehalten.

Frau Graf hat keine eigenen Kinder. Das hat sie früh in ihrem Leben so entschieden. Obwohl sie den leiblichen Sohn ihres ersten Mannes mit großzog. Das reichte ihr. „Ich bin immer an so Männer geraten, die eher an sich gedacht haben“, sagt sie. „Und ich hatte dann das Gefühl, ich stehe so daneben. Da wollte ich kein Kind reinsetzen.“ Das war ihr schon mit Ende 20 klar. „Mit 38 bin ich dann geschieden worden. Da habe ich zu mir gesagt: Du versuchst, mit dir zurechtzukommen, du hast eine Selbstverantwortung, es passt kein Kind in dein Leben.“

Mit ihrem zweiten Mann ist sie noch verheiratet, „aber ehrlich gesagt vergesse ich das manchmal“, sagt Frau Graf und lacht. Vor drei Jahren hat sie ihm eine kleine Wohnung in der Nachbarschaft gesucht. Sie wollte, dass er auszieht. Seitdem lebt sie allein mit ihrer Katze Joy. Das findet Frau Graf besser so. Eigenständigkeit sei ihr als Frau immer schon wichtig gewesen, sagt sie.

Wie viele Babys sie im Krankenhaus schon stellvertretend für die Eltern gekuschelt hat, seit sie im April 2022 mit dem Besuchsdienst bei den Neugeborenen begonnen hat, weiß sie nicht genau. Dafür weiß sie, was zu tun ist, wenn das Baby auf dem Arm sich nicht beruhigen will. Sie kennt alle Tricks: Die Füßchen an den Fersen sachte Richtung Körper schieben. Immer wieder leicht auf den Schnuller oder die Schulter des Kindes tippen. Den Bauch in kreisenden Bewegungen massieren. Mit dem Mittelfinger zärtlich über die Wange oder die Stirn streichen. Hin und her wiegen, etwas vorsingen, zum Baby sprechen. Und, natürlich: nie die Ruhe verlieren.

„Ich therapiere die Babys – und die therapieren mich“, sagt sie. Mirco ist mittlerweile eingeschlafen, sein Puls: 112. Durch die körperliche Nähe entspannt aber nicht nur er, sondern auch Frau Graf. „So ein Baby im Arm verändert einen“, sagt sie, der Ton ganz zärtlich, ohne den Blick von Mirco abzuwenden. „Man nimmt sich selbst nicht mehr so ernst.“

Ob Mama, Papa oder jemand anderes: Die ersten sechs Monate ist das egal

Dass der Puls des Babys sich während des Kuschelns senkt, weil sein Bedürfnis nach Kontakt gestillt wird, ist nur der unmittelbarste Effekt. Viel bedeutsamer sind jedoch die Langzeitwirkungen. Wenn ein Baby auf die Welt kommt, möchte es zunächst zweierlei: Wärme und Nahrung. Beides bekommt ein Neugeborenes im Idealfall von der Mutter, wenn es gestillt wird. Doch bald entwickelt ein Säugling auch Hunger nach sozialer Interaktion, nach Nähe und Zuwendung.

Ob dieser Hunger durch die Mutter gestillt wird, den Vater oder durch andere erwachsene Personen, ist in den ersten sechs Monaten noch egal. „Hauptsache, jemand ist da“, sagt Christoph Bührer, Professor und Direktor der Klinik für Neonatologie der Berliner Charité. Deswegen kann im Rahmen des Kinderbesuchsdienstes ein Baby auch von verschiedenen Ehrenamtlichen gekuschelt werden. Erst im Alter von sechs bis acht Monaten beginnt ein Kind zu unterscheiden: Wer ist vertraut? Und wer fremd? Der Hunger nach Nähe wird spezifisch, das Kind beginnt zu fremdeln.

Babys, die in den ersten Lebensmonaten keine körperliche Intimität und Zuwendung erfahren, sondern nur versorgt werden, verkümmern. „Soziale Deprivation“, so nennen Expert:innen das Phänomen. Die führt nicht gleich zum Tod des Kindes. Aber zu seelischer Verstümmelung. Der Wunsch des Menschen nach Nähe ist so basal, dass er, wenn er chronisch unerfüllt bleibt, schwerwiegende Schäden bis ins Erwachsenenalter nach sich ziehen kann. Geisteskrankheiten etwa, aber auch schwere Störungen im Bindungsmuster. „In den ersten Lebensmonaten entsteht etwas, das wir Urvertrauen nennen“, sagt Christoph Bührer, „wenn das nicht ausgebildet wird, ist es für den erwachsenen Menschen später total schwierig, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen.“

Mittlerweile schläft Mirco seit einer Stunde auf Frau Grafs Arm. So fest, dass sein Mund offensteht und sein Puls sich auf 108 eingependelt hat. Frau Graf hätte jetzt gern ein Stillkissen. Für unter den linken Arm. Denn umlegen auf den rechten kann sie Mirco nicht, wegen all der Kabel, die seine Körperfunktionen genau überwachen. „Da braucht man jetzt ein bisschen Ausdauer, sehen Sie?“, sagt Frau Graf.

Nicht jede:r darf Babys kuscheln – es gibt strenge Regeln

Zum Glück hat sie schon Erfahrung. Bevor sie auf Station 24i loslegte, war sie Patin bei einem Frühchen gewesen. Drei Jahre lang. Davor versuchte sie sich als Sterbebegleiterin. „Aber da gehts ans Eingemachte. Das ging auch an meine eigene Psyche“, sagt sie. Also hörte sie wieder auf. Irgendwann sah sie im Fernsehen eine Dokumentation aus den USA, wo das Babykuscheln viel verbreiteter ist als in Deutschland. Sie sei sofort fasziniert gewesen, erzählt sie.

Aber nicht jede und jeder kann Babykuschler:in werden. Mindestens 18 Jahre alt, das polizeiliche Führungszeugnis makellos und eine Masernimpfung oder -immunität, so lauten die Grundvoraussetzungen. Frau Graf musste außerdem einen Infoabend und einen zwölfstündigen Einführungskurs besuchen. Dort hat sie alles gelernt, was sie über den Umgang mit ihren vulnerablen Schützlingen wissen muss. Zum Beispiel: Was mögen Neugeborene, was eher nicht? Welche hygienischen Regeln gelten im Krankenhaus? Wie grenze ich mich gut genug ab?

Den ausgeprägten Sinn zur Fürsorge, „das Soziale“, wie Frau Graf es nennt, hat sie schon als Kind gelernt. „Das hat meine Mutter mir und meinen vier Geschwistern so mitgegeben“, erzählt sie. „Meine Mutter hat immer gesagt: ‚Kinder, wenn es euch gut geht, sollte es auch den anderen gut gehen.“ Natürlich schickte die Mutter kein Kind, das zum Spielen zu Besuch kam, zum Mittagessen nach Hause. „Dann haben wir aus dem Vanillepudding eben Vanillesuppe gemacht“, erinnert sich Frau Graf, „so dass es für alle reichte.“ Die Welt ist ein unfreundlicher Ort. Warum ihn nicht ein bisschen freundlicher machen, denkt Frau Graf sich oft.

Jetzt kommt Schwester Conny und schaut auf die Uhr. Kurz vor elf. „So, ist gleich so weit“, sagt sie und beginnt schon mal, Mircos „Gepäck“ zusammenzusuchen: die kleinen Pampers, Söckchen, den Schnulli, seine Medikamente. Sie räumt alle neuen Kuscheltiere, die Frau Graf mitgebracht hat, aus Mircos Bettchen wieder heraus. Nur eins darf drinbleiben und mitkommen, wenn Mirco gleich um 11 Uhr innerhalb der Charité umzieht. Zur Voruntersuchung. Eine zweite OP steht für ihn an.

Seine Mutter ist über den Umzug informiert. Aber ob sie kommen wird? Niemand auf der Station weiß es ganz sicher. Schwester Conny kann sich schon darüber aufregen. Doch ihren Unmut lässt sie sich nicht anmerken. Dafür ist sie zu sehr Profi. Berufsehre. Sie macht den Job schließlich seit 36 Jahren. Aber auf die Frage, ob sie wütend sei auf jene, die nicht da sind, antwortet sie wortkarg, so als sei es ihr selbst unangenehm: „Ja, immer.“

Manchmal fühlen sich die Mütter schuldig

Frau Graf sagt, nach den Müttern gefragt: „Man weiß nie, was bei denen los ist. Den Müttern geht es selbst nicht gut, sie schaffen es nicht. Sonst wären die ja hier.“

Dem Klischee nach ist die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind sofort nach der Geburt einfach da. Liebe auf den ersten Blick, quasi. Aber nicht immer gelingt das reibungslose Bonding zwischen Mutter und Baby. „Manche Mamas haben Angst, vor allem, wenn das Baby zu früh auf die Welt gekommen ist“, weiß Frau Graf. „Die fühlen sich dann noch nicht bereit. Oder sogar schuldig.“

Mirco ist jetzt wieder wach. Frau Graf steht langsam von ihrem Stuhl auf, achtet genau auf die feinen Kabel, die in und aus seinem Körper ragen und von denen immer eines im Weg ist beim Kuscheln. Sachte legt sie ihn zurück in sein Bettchen. Der diensthabende Arzt kommt herein und steckt sich sein Stethoskop in die Ohren, um Mirco noch einmal abzuhören. Als er die oberen Knöpfe des Babystramplers öffnet, wird eine zentimeterlange, feine Narbe sichtbar. Längs verläuft sie über Mircos Brust. „Sieht super aus, die Narbe“, sagt der Arzt mit fachmännischem Blick. Sie stammt von der ersten Herz-OP. „Hört sich auch alles super an“, resümiert er nach dem Abhören. Gleich kann es losgehen.

Mirco ist jetzt so aktiv wie den ganzen Morgen noch nicht, lächelt, schaut in jedes Gesicht, das ihn anblickt, reckt die Ärmchen, greift jeden Finger, den man ihm hinhält. Als wolle er sich von niemandem verabschieden. Mittlerweile zeigt die Wanduhr in seinem Zimmer zwanzig Minuten nach elf. Seine Mutter? Immer noch nicht da.

Wer aber wieder da sein wird, am nächsten Sonntag nämlich: Frau Graf. So viel ist sicher. Sie wird sich um 6.30 Uhr aus ihrem Bett schälen, egal, wie anstrengend der Samstag im Geschäft wieder gewesen sein wird. Sie wird sich die Wimpern tuschen, den blonden Bob in Form kämmen, ein bisschen Rouge auflegen, eine kleine Tasse Kaffee trinken. Und dann 50 Minuten mit der U-Bahn von Charlottenburg bis in den Wedding ins Virchow-Krankenhaus fahren, um Mirco zu sehen. Und später noch einmal 50 Minuten zurück. Weil es darum geht, da zu sein. Das ist Frau Graf das Wichtigste im Leben, neben dem Humor.

Jetzt beugt sie sich noch einmal zu Mirco hinunter, während der ihren Zeigefinger hält und sie anblickt. „Tschüss, mein Kleiner“, sagt sie zu ihm. Dann tritt sie einen Schritt zurück. Schwester Conny schiebt das Gitter des Bettchens hoch, kontrolliert ein letztes Mal, ob Mirco richtig zugedeckt ist. Eine Kollegin kommt ins Zimmer, gemeinsam schieben sie Mirco hinaus. Als liege er auf einer kleinen Insel, ganz allein, so sieht es aus, als die Schwestern ihn in seinem Krankenhausbettchen über den Flur fahren.


Mircos Namen haben wir aus Gründen des Datenschutzes geändert.

Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger, Bildredaktion: Philipp Sipos

Warum manche Babys Kuscheltermine brauchen

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