Das Handy leuchtet auf. Eine Absage. Wegen Kopfweh, wegen Übelkeit, wegen irgendwas halt, erzählt KR-Mitglied Grit. Es ist nicht das erste Mal, dass Freunde ihrem Sohn im Teenageralter spontan absagen. „Junge Leute jagen immer der besseren Gelegenheit nach und sagen öfter kurzfristig ab“, sagt sie am Telefon. Und klar, es kann sein, dass dem Freund tatsächlich der Kopf schmerzt, der Bauch drückt. Doch: Ist das wirklich der Grund, weshalb das Treffen abgesagt wird?
Zweifel zerstört Freundschaften. Das weiß auch Grit. Immer wieder will sie sich mit einer langjährigen Freundin treffen. Diese sagt aber ständig ab: Ihrem Mann gehe es nicht gut, sie selbst sei krank. Alles valide Gründe, ein Treffen abzusagen. Während man sich in Verständnis übt und gleichzeitig enttäuscht ist, macht es sich der Zweifel gemütlich: Was ist, wenn die Person einfach keine Lust auf mich hat und statt einer unangenehmen Konfrontation solche Gründe vorschiebt? Wer fragt schon: Bist du wirklich krank, oder hast du nur keinen Bock?
Ähnliche Probleme können in der Arbeitswelt auftauchen. Ein Kollege ist spontan krank, nun muss man selbst die Präsentation halten. Egal ob man befreundet oder nur bekannt ist, Zweifel können überall auftauchen. Sie anzusprechen, kann schwer sein.
Ich selbst kenne solche Situationen – und solche Gedanken. Ich fühle mich dann schlecht, schließlich will ich niemandem unterstellen, eine Krankheit vorzuschieben. Aber ich bin auch enttäuscht, ich habe mich ja auf ein Treffen gefreut. Mir fällt es sehr schwer, das anzusprechen. Meistens wünsche ich nur gute Besserung und frage, was die Person braucht. Alles andere erscheint mir gemein. Mich mit meinen Bedürfnissen zeigen? Doch nicht jetzt!
Ich habe die KR-Community nach ihren Erfahrungen gefragt und wollte wissen, was sie dabei empfinden und welche Ratschläge sie haben. 80 KR-Leser:innen haben berichtet. Viele sind traurig, frustriert, überfordert. Jenny schreibt, dass sie genervt ist, weil Krankheiten als Absagegrund immer ein Totschlagargument sind. Wie soll man da ein Gespräch starten? Andere sind verständnisvoll und sogar stolz, dass es die Person schafft, auf sich zu achten.
Wie spricht man seine Zweifel empathisch und nicht vorwurfsvoll an? Und wie kommuniziere man in so einer Situation die eigenen Bedürfnisse? Um diese Fragen zu beantworten, habe ich mit KR-Leser:innen und einem Psychotherapeuten gesprochen.
Das sagt der Therapeut
Alexander Noyon, 55, ist Verhaltenstherapeut und Professor an der Hochschule Mannheim. Er sagt: Wenn wir vermuten, dass jemand die Krankheit nur vorschiebt, vermuten wir etwas, das sekundärer Krankheitsgewinn genannt wird. Der besagt, dass man kurzfristig einen Vorteil durch seine Erkrankung hat, etwa indem man geschont wird oder besondere Aufmerksamkeit bekommt. Dabei ist es egal, um welche Krankheit es sich handelt. Auch der, der sich ein Bein gebrochen hat, hat einen sekundären Krankheitsgewinn, wenn er in der Heilungsphase nicht abspülen, einkaufen und auch sonst nicht im Haushalt helfen muss.
„Häufig wird der sekundäre Krankheitsgewinn als eine Art Vorwurf verwendet“, sagt Noyon. Der erkrankten Person wird unterstellt, dass sie simuliert oder dass sie die Krankheit vorschiebt, um einer unangenehmen Situation zu entgehen – dem Abspülen, einer nervigen Aufgabe im Büro, einer möglichen Konfrontation.
Ob man einer Person tatsächlich Absicht unterstellt, hänge von der bisherigen gemeinsamen Erfahrung und den eigenen Bedürfnissen ab, sagt Noyon. Sagt ein Freund die fünfte Verabredung in Folge ab, weil er Kopfschmerzen hat, aber sonst nie von Kopfweh oder Migräne erzählt, werde man misstrauisch. Und: „Sind meine Bedürfnisse nicht bedroht, kann ich entspannt sein.“ Passt einem also der Termin selbst nicht, ist alles fein. Hat man aber vielleicht zum Essen eingeladen, ein Menü aufgestellt und eingekauft, ist man natürlich enttäuscht.
Sein Rat: Auf die Bedürfnisse achten, die eigenen und die der anderen Person. Dadurch komme es zu weniger Konflikten. Ruhe zu wollen, sei ebenso ein normales Bedürfnis, wie unter Leuten sein zu wollen, sagt er. „Solche Bedürfnisse sind kerngesund und die teilt jeder. Nur die Strategie kann man verwerflich finden“, sagt er.
Moment. Wenn also ein Fußballer die Schwalbe macht, sich vor Schmerz am Boden krümmt und auf einen Elfmeter hofft, soll ich das verstehen?
„Na, sein Bedürfnis ist ja nachvollziehbar: Er will gewinnen“, sagt Noyon.
Und weiter?
„Die Strategie, die er dafür wählt, ist die Schwalbe – das Simulieren“, sagt er. Das könne man verurteilen.
Die eigenen Fans finden es vermutlich super, schließlich könnten sie einen Vorteil erlangen. Die anderen hingegen ärgerlich. Aber was die Gegner verstehen und teilen, sei das Bedürfnis zu gewinnen.
Daher solle man sich die Strategie ansehen und auf der Strategieebene kommunizieren. „Ich kann mir bewusst machen, dass die gewählte Strategie aus einem Konflikt heraus entsteht und mehr eine verzweifelte Antwort ist als bösartiges und absichtsvolles Handeln“, sagt Noyon. Vielleicht hat ein Kollege Angst zu sagen, dass er sich bei Präsentationen unwohl fühlt. Statt das anzusprechen und sich womöglich Hilfe durch eine Weiterbildung zu holen, sagt er also immer spontan wegen Krankheit ab. Das Bedürfnis, sich nicht in eine beängstigende Situation zu begeben, versteht jeder. Aber unter der Strategie leiden andere. Jemanden in seinen Bedürfnissen zu sehen, kann man üben, indem man sich fragt: Was liegt dahinter? Was will die Person damit erreichen? „Und noch was“, sagt Noyon, „selten ist eine Krankheit wirklich vorgeschoben.“ Simulieren würden vielleicht weniger als ein Prozent der Menschen, schätzt er.
Als ich auflege, verstehe ich besser, warum ich auf manche Absagen enttäuscht reagiere und es bei anderen locker sehe. Nach einer stressigen Woche macht es mir nichts aus, wenn eine Verabredung doch nicht klappt. Und andersrum bin ich traurig, wenn ich mich auf ein Treffen eingestellt habe. Mir hilft auch die Unterscheidung von Bedürfnis und Strategie. Sie macht mich aber auch traurig: Warum können wir nicht direkt sagen, was wir wollen? Wie ermögliche ich so ein Gespräch?
Das sagen die Leser:innen
Die meisten der 80 KR-Leser:innen, die sich an meiner Umfrage beteiligt haben, erleben solche wiederholten Absagen im Freundeskreis. Und einige empfinden wie Grit die Gründe als vorgeschoben. „Ich fühle mich oft nicht gesehen und beachtet“, antwortet ein KR-Mitglied. Andere haben entschieden, dass sie mit manchen Menschen gar nichts mehr ausmachen wollen. Viele sagen aber auch, dass es bestimmt einen guten Grund für Absagen gäbe, dass es keine böse Absicht sei.
Das sagt auch KR-Leserin Saskia: „Gesunden Menschen fällt es extrem schwer, sich in Kranke hineinzuversetzen.“ Oder wer hätte gedacht, dass der Weihnachtsmarkt, die scheinbar liebste Winterbeschäftigung, für viele die Hölle auf Erden sein kann. Für Menschen mit Essstörungen? Horror, es gibt nur ungesundes Essen. Für Menschen mit Alkoholproblemen? Die reine Versuchung. Für Menschen, die sensibel auf Geräusche reagieren? Überall rauscht, klingelt und lärmt es. Klar könnten sie sagen: Ich habe Probleme mit dem Essen, mit Alkohol, mir ist es zu laut. Aber, sagt Saskia, das sei vielen nun mal unangenehm. Also nennen manche lieber andere Gründe, die vorgeschoben wirken können. Wird ein Treffen immer wieder spontan abgesagt, rät sie, einfach mal zu fragen: „Unter welchen Bedingungen ist ein Treffen schön für dich?“ Dass man trotzdem verletzt ist, verstehe sie.
Wenn man verletzt ist, fällt es schwer, eine Situation zu schaffen, in der man sich wieder verständigen kann. „Indem man sich in die Situation der anderen versetzt, kann man ein offenes Ohr für die Probleme der anderen entwickeln“, sagt KR-Mitglied Caroline, die selbst Psychologin und Coachin ist. Wer das in dem Moment nicht schafft, sollte sich erst mal ablenken und sich selbst was Gutes tun. Aggression wird meist mit Gegenaggression beantwortet. Wer also Vorwürfe macht, wird auf Verschlossenheit oder gar einen Gegenangriff stoßen. Stattdessen solle man das Gespräch suchen, sobald man weniger emotional ist.
Für das Gespräch empfiehlt Caroline Ich-Botschaften und gewaltfreie Kommunikation. Hilfreich sind drei Schritte: Die eigene Wahrnehmung, die Gefühle und die Wünsche aussprechen. Das kann so aussehen: „Ich nehme wahr, dass wir uns in letzter Zeit häufiger nicht treffen, weil es irgendwie immer dann nicht klappt. Ich fühle mich deshalb so und so, das macht mich traurig. Und: Ich würde mir wünschen, dass wir uns mal wieder sehen.“ Ob es nun Freund:innen, Bekannte oder Arbeitskolleg:innen sind, ist egal. Wenn man das Gefühl hat, dass da was nicht stimmt, sollte man das klären. Sonst gewinnt der Zweifel.
Herzlichen Dank an alle KR-Leser:innen, die sich beteiligt haben: Jean, Louisa, Meike, Gisela, Clara, Grit, Saskia, Remy, Peter, Stefanie, kirstin, Jenny, Doris, Michaela, ilona, Myriam, Bao, Sebastian, Reiner, Horst-Walter, Karin, Theresa, Michael, Katharina, Anna, Daniel, Julia, Rike, Tom, Robert, Kim, Susanne, Lily, Jens, Ulrike, Stefanie, Su, Lisa, Aldina, Jens, Maike, Susanne, Mindy, Caroline, Lilly, Kerstin, Svenja, Manon, Lydia, Maike, Ulrike, Henning, Uwe, Sascha, Lena, Sabrina, Ina, Stella, Mario, Volkmar, Katharina, Conny, Anna, Maja, Ines.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos