„Eine Brücke zu bauen, ist wie ein Krieg“
Leben und Lieben

„Eine Brücke zu bauen, ist wie ein Krieg“

Alle zwei Wochen lassen wir interessante Persönlichkeiten von ihren Lieblingsreportagen erzählen. Diesmal: Autorin Jana Simon von der „Zeit“.

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„The Bridge“ von Gay Talese (1964) ist ein Klassiker über den Bau der Verrazano Narrows Bridge, die Brooklyn mit Staten Island verbindet. Das könnte ungeheuer langweilig sein, ist es aber nicht. Denn: „Eine Brücke zu bauen, ist wie ein Krieg“, schreibt Talese. Das Grandiose an dieser Geschichte ist die Art und Weise, wie Talese sie erzählt: als Jahre andauernden Kraftakt und aus allen möglichen Perspektiven - der des Konstrukteurs, des Immobilienmaklers, der Anwohner, der Punks und Pusher (Lehrlinge und Vorarbeiter) und der Eisenmonteure, die zum Teil ihr Leben für die Brücke lassen. Es ist eine moderne Heldengeschichte mit sehr viel Mühe und Zeit recherchiert, was sich meistens lohnt. (Eine deutsche Übersetzung ist in „Reportagen“ erschienen.)


„USA, 20.56 Uhr“ (SZ-Magazin 2012), das große Porträt der Band Rammstein. Alexander Gorkow begleitet sie auf einer Tour durch die Vereinigten Staaten, und das Land kommt darin kaum vor. Stattdessen unterhalten sich die Musiker über ihre Sehnsucht nach ihren Frauen und ihren Häusern in Mecklenburg, sie bekommen kluge SMS von ihren intellektuellen Vätern und erzählen Anekdoten aus einem untergegangen Land - eine meiner Liebsten ist die des Keyboarders Flake: „Ich wohnte mal auf der Fehrbelliner Straße 7.“ Und? „Nu halt dich fest: Im selben Haus wohnten Frau Fett und Herr Fleischfresser.“ Gorkows Geschichte erzählt mehr über den Osten als alle Leitartikel der vergangenen Jahre. Ich war bis zu diesem Text kein großer Fan von Rammstein, nun überlege ich es mir noch mal.


George Packer ist für mich einer der besten Porträtschreiber im Augenblick. Er schafft es, wie sonst vielleicht nur die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch, mit Biografien Gesellschaftspanoramen zu entwerfen. Dieser Text, „The Holder of Secrets” (New Yorker 2014) über die Dokumentarfilmerin Laura Poitras und ihren Film über Edward Snowden ist exzellent, weil er ein politisch relevantes Thema sehr elegant mit der Beschreibung einer Frau verwebt. Fast nebenbei zeichnet Packer auch ein Bild der Berliner Whistleblower-Szene in ihrer Zerrissenheit zwischen Kreativität, Mut und Paranoia. Herrlich sind die Szenen, in denen Packer mit dem Internetaktivisten Jacob Appelbaum redet, der ihn aus konspirativen Gründen nur in einer Sauna treffen will. Packers Reportage ist aber auch formal höchst spannend. Packer beschreibt die Entstehung eines Films als künstlerischen Prozess, als Ringen um die richtige Form. Am Ende geht es um die Frage: Wie erzählt man eine Geschichte?


Jana Simon, 1972 in Potsdam geboren, ist Autorin der „Zeit“; ihre Reportagen wurden unter anderem mit dem Axel-Springer-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Simon ist die Enkelin der Schriftstellerin Christa Wolf, einige Gespräche mit ihrer Großmutter veröffentlichte sie in dem Buch „Sei dennoch unverzagt“. Zuletzt erschien der Reportagenband „Das explodierte Ich“.


Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm

Illustration: Veronika Neubauer