Schlafes Bruder

© Jörg Singer

Leben und Lieben

Schlafes Bruder

Am 11. März 2009 tötete ein 17-Jähriger in Winnenden 15 Menschen, darunter neun Schüler, und sich selbst. Ein Schock für die Kleinstadt im Nordosten von Stuttgart. Damals wie heute helfen Tamara und Robert Vöth Menschen, Abschied zu nehmen. Sie sind Bestatter.

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Reporter

„Das ist genauso ein Ammenmärchen“, entfährt es Robert Vöth, der seine schwarz-weiß gestreifte Krawatte richtet und aus dem Fenster blickt auf die kleinen Häuschen, die sich links und rechts der Straße entlangziehen wie graue Zahnreihen. „Ältere Menschen sterben in der dunklen Jahreszeit – und dann haben die Bestatter am meisten zu tun. Das stimmt nicht und ist viel zu pauschal: Menschen sterben leider einfach und man kann nichts dagegen tun. Das hat auch mit dem Wetter nix zu tun …“

Robert betrachtet noch eine Weile Jörg, den Fotografen, der große Stative aus dem schwarzen Bus schleppt. Im Hintergrund legt sich die Sonne über den Bahnhof von Winnenden.

„Die Menschen kommen jeden Tag an unserem Schaufenster vorbei. Jeden Tag, sag ich dir. Auf dem Weg zur Arbeit, vom Einkaufen oder beim Spazierengehen, und niemand, wirklich niemand bleibt mal stehen, der nicht muss, und informiert sich. Menschen wollen sich nicht mit dem Tod beschäftigen, keiner geht freiwillig und zu Lebzeiten in ein Bestattungshaus. Gut, manche vielleicht. Aber so gut wie keiner.“

Wir hatten darüber gesprochen, dass ich denke, dass alle Menschen im Winter sterben und Bestatter für mich wie Gunther von Hagens aussehen.

„Gibt es noch andere Ammenmärchen über den Tod, Robert?“

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„Klar, ganz viele“, antwortet er, schnauft durch und setzt sich wieder an den dunklen, schweren Holztisch, hinter dem auf einer Schrankleiste Bücher über Abschied und Trauer stehen. „Willst du auch einen Kaffee?“, fragt er dann, und ich nicke schnell, bevor er den Raum verlassen kann. Über den Büchern hängt das große, gerahmte Zertifikat – das Abschlusszeugnis von Tamara, Roberts Frau. Ein Funeralmaster.


Ich blicke aus dem Fenster. Die Stadt hier hat viel erlebt. Viel zu viel. Und es tut ihr auch unheimlich weh, auch den Menschen, die kein Kind oder keinen Angehörigen beim Amoklauf in der Albertville-Realschule am Vormittag des 11. März 2009 verloren haben. Auf seiner Flucht vor der Polizei erschoss der 17 Jahre alte Täter einen Psychiatrie-Mitarbeiter sowie zwei Kunden eines Autohauses. Auch die, die es nur fassungslos mitansehen mussten, deren Familien keines der 15 Opfer zu beklagen hatten, auch die schaffen es kaum, über Trauer und Schmerz hinwegzukommen. Ewige Anteilnahme in Winnenden. Zeit heilt keine Wunden – nur die, die man sich auf dem Fußballplatz holt.

Damals hieß Tamara Vöth noch Tamara Förster, war 23 Jahre alt und gerade fertig mit ihrer Ausbildung im Familienbetrieb Duhm Bestattungen. Als an jenem Morgen das Telefon ging, war die Polizei dran. Die Bestatter des Ortes, allen voran Duhm, sollten sich „auf einen Amoklauf oder dergleichen einstellen“. Den ganzen Tag war Tamara im Einsatz, versorgte die Toten, tröstete die Angehörigen. Und das mit 23. Andere nehmen weit einfacher Abschied von einer unbeschwerten Jugend.

Robert sagt, das Problem in solchen Fällen – im Beamtendeutsch „Großschadenslagen“ – sei, dass die Polizei und die anderen Rettungskräfte zwar alles in ihren Übungen erproben. Aber die Bestatter, die sich um die Toten kümmern müssen, werden in der Regel nicht mit einbezogen. Warum nicht? Und wie geht es euch eigentlich mit all dem, will man sofort fragen – wie fühlt ihr euch, wenn die Glocken wieder läuten werden? Aber keiner redet gern darüber, und das kann man irgendwie auch verstehen.

Ich nehme das Diktiergerät vom Tisch, drücke auf den Pause-Knopf und die rote Lampe erlischt. Blicke den Gang hinunter. Nur das Klappern von Geschirr verrät, dass Robert in der Küche Kaffee macht. „Darfst dich gern umsehen“, hatte er gesagt. Ausgesprochen viel hat sich nicht verändert, seit ich das letzte Mal vor fast vier Jahren hier war.

„Ooooh, ein Baby“

Vorsichtig schiebe ich die Holztür zum Nebenraum auf, die einen Spalt breit offen steht. Dort steht ein Kinderbett. Bunte Punkte auf der Bettdecke, Plüschtiere und Spielzeug.

„Ist schon verrückt, oder“, sagt Robert, ohne, dass es eine Frage ist. Er steht plötzlich im Türrahmen und reicht mir eine Tasse. „Manchmal, wenn wir Hinterbliebene hier haben, dann reagieren die total auf das Kind. Ooooh, ein Baby!“ Er lächelt sanft und zufrieden und blickt zum leeren Babybett.

Kleiner, süßer Louis.

Keiner erwartet doch in einem Bestattungshaus ein Neugeborenes. Da muss doch alles grau und traurig sein.
Robert Vöth

Robert zuckt mit den Schultern. Er und Tamara sind in Bestatter-Familien groß geworden, haben als Kinder zwischen Särgen in Lagerhallen gespielt. Sie kannten sich damals noch nicht. „Du veränderst dann natürlich auch deinen Umgang mit dem Tod. Du wirst nicht Bestatter. Entweder, du bist es schon, oder du wirst es nie“, erzählt er. „Denn das ist kein klassischer Ausbildungsberuf, das ist Idealismus. Mann, das ist wirklich nichts zum Reichwerden, sag ich dir. Da musst du echt helfen wollen.“

Er macht eine kurze Pause und streicht sich über die Glatze. „Aber das mit dem Kind finde ich immer noch lustig: Als würden wir hier keine Kinder kriegen oder ein Privatleben haben“, sagt er. „Das Erstaunliche daran ist: Es tröstet die Menschen, die zu uns kommen, wenn sie das Babybett hier sehen. Vielleicht mehr als alle Worte.“

An Tod und Sterben, sagt Robert, sei leider nichts Schönes – wie man es dreht und wendet, es bleibt eine elende Angelegenheit. Für die Angehörigen und für den Sterbenden natürlich. „Der Tod ist die Erlösung, er ist schon fast das Beste daran“, sagt Robert und pustet über seinen Kaffee, während mich seine Augen genau mustern, ob ich seine Worte falsch verstehen könnte. „Sterben ist nicht schön. Es ist ganz und gar nicht schön. Es dauert lange, man kämpft dagegen an, es ist mühsam, und die Maschinen der Medizin sind heute längst in der Lage, den Tod immer wieder abzuwenden. Aber wem hilft das, frage ich dich? Den Ärzten vielleicht? Die sollen das Leben erhalten, aber nicht Schmerzen und Leid.“ Er zuckt mit den Schultern, als wäre es egal. „Ist ja nur meine Meinung“, brummt er dann.

Robert Vöth ist 48, Tamara ist 29. Allein deshalb sind die beiden, bei allen Gemeinsamkeiten, ein ungleiches Paar. Tamara ist im Bestatter-Betrieb für die Ästhetik zuständig. Robert, „alter Frankfurter Bestatter-Adel“, ist der Praktiker. Der hemdsärmelige Typ, der „auch mal sagt, was Sache ist“. Und sie sind auch keine typischen Bestatter, weil sie etwas ganz Besonderes können: Einen toten Menschen so aussehen lassen, als wäre er vor wenigen Sekunden sanft eingeschlafen, gerade erst gestorben und rübergetragen worden in das Reich von „Schlafes Bruder“.

„Die Thanatopraxie“, sagt Robert, „ist kein Hexenwerk oder etwas völlig Neues. Schon unsere Vorfahren wussten, wie man den menschlichen Körper nach seinem Tod erhält. Die Ägypter, die Skythen. Schrumpfköpfe und Mumien. Das ist das gleiche Prinzip – nur sind wir heute natürlich etwas fortschrittlicher in manchen Bereichen.“

Thanatos ist der Gott des Todes in der griechischen Mythologie. Abgebildet wird er oft mit Hypnos, seinem Bruder – dem Gott des Schlafes. Hypnos gilt als friedlich und barmherzig, sein Bruder als erbarmungslos, mit kaltem Herzen und eisernem Willen. Die Thanatopraxie bezeichnet laut Deutschem Institut für Thanatopraxie alle Tätigkeiten, „die notwendig sind, um sowohl ästhetisch als auch hygienisch eine einwandfreie Aufbahrung eines Verstorbenen vornehmen zu können“ – also die Rekonstruktion nach schweren Verletzungen oder das Konservieren des Körpers.

„Im Idealfall ermöglichen wir, einen Körper, selbst wenn er schwer verletzt, verfärbt, aufgeweicht oder von einer Operation geschunden ist, so wieder herzustellen, dass die Angehörigen am offenen Sarg Abschied nehmen können“, sagt Robert. „In ungefähr 80 Prozent der Fälle gelingt das auch.“

Vor einigen Jahren gelang es ihm, einen Wirkstoff in Wasserleichen zu injizieren, der die Aufschwemmungen fast vollständig rückgängig machte. Die Polizei war begeistert: Endlich war es ihr möglich, nach Verbrechen mit Leichen, die im Wasser aufgefunden wurden, brauchbare Fingerabdrücke zur Identifizierung zu nehmen. Seither gilt Robert Vöth als Koryphäe auf seinem Gebiet.


„Hallo ihr zwei“, sagt Tamara und führt den Hund herein, der sehr lieb aussieht, aber auch so eine Art Hund ist, dessen Gesicht unter so vielen Hautfalten verborgen ist, dass man nicht weiß, ob er einen gerade anguckt oder nicht. Und er ist ziemlich groß. Sie nimmt sich einen Kaffee und setzt sich dazu.

„Wenn ein Mensch stirbt, beginnt der Tod, den Körper zu zersetzen“, doziert Robert und zählt die Phasen an seiner Hand ab.

Erstens:

Am Anfang erscheinen als sicheres Todeszeichen die Leichenflecken – auch Livores genannt. 20 bis 30 Minuten nach Eintritt des Todes sammelt sich das Blut, weil es nicht länger durch den Körper gepumpt wird. Das Blut sackt – wie andere Körperflüssigkeiten auch – schwerkraftbedingt nach unten. Rotviolette oder graublaue Flecken entstehen.

Zweitens:

Als nächstes folgt die Totenstarre – im Lateinischen rigor mortis. Sie entsteht, weil das Adenosintriphosphat (ATP), ein universeller Energieträger und -lieferant, der Muskulatur fehlt. Dieser setzt sich aus Glukose – also Zucker – und Sauerstoff zusammen, der dem toten Körper jetzt fehlt. Folglich krampft die Muskulatur so stark, dass sie starr wird. Die Totenstarre beginnt an den Augenlidern ein bis zwei Stunden nach dem Eintritt des Todes, und wandert dann vom Kiefergelenk und den Glieder in den gesamten Körper. Sie löst sich nach 36 bis 48 Stunden mit Einsetzen der Autolyse.

Drittens:

Diese beginnt zunächst im unteren Abdominalbereich, färbt die Bauchdecke durch eine Schwefel-Ammoniak-Verbindung grün. Es folgen Hautablösungen, Gasbildung, Flüssigkeitsaustritt, Geruchsbildung sowie das Abzeichnen der Venen auf der Hautoberfläche. Dann färbt sich der Körper nach und nach von braun nach schwarz.


„Wir waren vorhin bei den Ammenmärchen, Entschuldigung, das hatte ich ganz vergessen“, sagt Robert und haut seine flache Hand senkrecht wie ein Fallbeil auf den Tisch. „Die Zersetzungserscheinungen haben den Menschen früher, als man noch nicht genau wusste, was da passiert, vermutlich Angst gemacht. Und im Mittelalter führte das auch zu wilden Spekulationen; zum Beispiel, dass es Untote gibt. Weil man die Menschen damals in Kämmerchen neben der Kirche oder in Leichenhäusern auf dem Friedhof bis zur Bestattung lagerte und es keine Kühlmöglichkeiten gab, konnte man den Zersetzungsprozess nicht aufhalten. Dazu kam, dass die Menschen auch in begehbaren Gruften beerdigt wurden. Das Problem: Ich sehe einen Menschen zum letzten Mal direkt nach dem Tod, und wenn ich in die Gruft hinabsteige – oder zum Beispiel ein Grab geöffnet werden musste – finde ich einen vollkommen veränderten Körper vor. Die Hautablösung zeigte die untere Hautschicht, die feucht und glänzend ist. Das Gesicht ist durch Verfärbungen wieder rosig, Flüssigkeit tritt aus Mund und Nase aus. Die Menschen dachten verstört, die Haut bilde sich neu, der Mensch sei gar nicht tot, schlafe nur und trinke nachts Blut. Untote und Vampire eben. Und wir versuchen quasi, diese Prozesse aufzuhalten.“

Auch die Haare und Fingernägel wachsen nicht. Durch den Wasserverlust reduziert sich nur das Gewebe, und die Haut zieht sich zurück. Daher sieht es aus, als ob die Bartstoppeln und Fingernägel wachsen – sie treten aber nur hervor. „Und das ist der Grund, warum wir den Leuten verstehbar machen müssen, was der Tod bedeutet“, sagt Tamara. „Und das Abschiednehmen ist wichtigster Bestandteil der Trauerarbeit, die jeder für sich leisten muss. Der Tote wird von uns so vorbereitet, dass er seinen engsten Angehörigen gezeigt werden kann. Ja, man soll ihn sogar anfassen können, ohne Angst. Um sich ein letztes Mal zu verabschieden.“

Robert nickt: „Die Menschen müssen verstehen: Dieser Mensch schläft nicht. Er ist gestorben, und das ist nie mehr rückgängig zu machen. Viele haben Probleme damit, sich das einzugestehen. Daher der offene Abschied am Sarg. Er ist aber, unserer Meinung nach, psychologisch elementar wichtig.“

Thanatopraxie und Schminken mit Airbrush

Die Thanatopraxie ist dabei wie ein Zusatzservice – man wird nicht reich damit, wie beide betonen. Aber es gehe auch mehr darum, den Menschen etwas zu bieten, um ihnen bei der Trauer zu helfen. Die Arbeit teilen sich die beiden.

Zunächst übernimmt Robert den Verstorbenen, er injiziert eine Konservierungsflüssigkeit, die den Zersetzungsprozess stoppt. „Ein Verstorbener kann so ohne Probleme acht Tage überstehen, ohne Zerfallserscheinungen zu zeigen“, meint der Thanatopraktiker. Bei Toten, die beispielsweise durch schwere Gewalteinwirkungen oder Schusswunden ums Leben gekommen sind, ist es Robert zudem möglich, selbst zerstörte Schädelknochen Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. „Und wenn etwas wirklich nicht geht“, sagt er, „und das ist wirklich die Ausnahme, dann decken wir es so ab, so dass es nicht auffällt.“

Ist der Tote vorbereitet, übernimmt Tamara. Sie hat eine spezielle Ausbildung und schminkt mit Airbrush – „das ist siebenmal feiner als Kosmetik“. Sie gibt dem Toten „seine Farbe zurück“. Die Bilder zeigen ein erstaunliches Ergebnis. „Wir machen nur unseren Job“, sagt die 29-Jährige und wirkt doch ein kleines bisschen stolz.

Es geht fast alles. Und die Menschen sollen das auch wissen. Das Bild des Bestatters ist sicher in der Bevölkerung das eines Totengräbers. Aber das stimmt heute nicht mehr.
Tamara Vöth

Sie zeigt mir den Raum, in dem der Tote für seine engsten Angehörigen aufgebahrt wird. Ein stilles Zimmer, ein Zimmer mit Kerzen und einem Bild, auf dem Blätter vom Wind davongetragen werden. „Wie die Seele, die den Körper verlasst“, sagt Robert merklich nachdenklicher. „Hier nehmen die Trauernden Abschied“, ergänzt er und blickt rüber zu seiner Frau, die den Raum mustert, als wolle sie schauen, ob er ihr noch gefällt oder ob etwas umgestellt werden muss. „Warum denn eigentlich unbedingt am offenen Sarg?“, frage ich – und mein Unbehagen kann ich kaum verbergen. Ich denke an meine Familie und Freunde.

Ein stilles Zimmer

Ein stilles Zimmer Foto: Jörg Singer

„Ich sage es dir mit einem Beispiel“, beginnt Tamara. „Du hast ein Kind, das morgens das Haus verlässt und abends nicht wiederkommt. Du bist in Sorge, und dann ruft die Polizei an und sagt, dein Kind ist tot. Die erste Reaktion ist: Das kann nicht sein!“, erklärt sie und fährt fort. „Und du kennst sicher das Phänomen, dass man Menschen in Trauer sagt, sie sollen den Verstorbenen in Erinnerung behalten, wie er war, oder?“

Pause.

„Ja.“

„Das kann zu einer sogenannten psychologischen Mumifizierung führen. Eltern beginnen, das Zimmer ihres Kinders nicht mehr anzufassen, es so zu belassen, wie es ist. Die Erinnerung wird praktisch konserviert und eingekapselt, und du wirst sie dann auch nicht mehr los. Das wirst du vermutlich nie, weil dein Verlust nicht zu ersetzen ist, aber du findest für dich auch keinen Umgang, keinen Ausweg mehr aus den Schmerz.“

„Durch das Abschiednehmen, das Anfassen, das Sehen“, sagt Robert, „verstehst du, dass Verlust und Schmerz zwar bleibt, aber das Leben weitergehen wird. Dass du Erinnern kannst, ohne völlige Selbstaufgabe. Dass du das vielleicht sogar musst. Abschiednehmen. Menschen trauern ja ganz unterschiedlich. Einer macht Späße, der andere ist stumm.“

„Und was passiert, wenn der Tod hier anwesend ist, in diesem Zimmer, meine ich?“ Ich starre auf den Aufbahrungstisch, stelle mir vor, wie sich die Stuhlreihen langsam füllen, der Sarg in Licht getaucht in der Mitte steht. „Menschen sterben meist alleine“, sagt Robert. „Und sie sterben zu einem Termin. Das heißt, wenn der Angehörige es den Weg bis zum Sterbenden ins Krankenhaus schafft, kann der Sterbende loslassen und gehen. Manche sterben erst, wenn jemand den Raum verlassen hat. Oder zu Weihnachten, weil ihnen das immer etwas bedeutet hat.“ Tamara nickt und ergänzt: „Und die Menschen sprechen leise, wenn sie hierher kommen. Wir dämpfen unsere Stimmen im Angesicht des Todes. Das hat etwas sehr Bedeutendes, finde ich. Etwas Großes und Respektvolles.“

Bestatter Rolf Ulmer

Bestatter Rolf Ulmer Foto: Jörg Singer

„Das macht mich traurig“

Robert zündet sich vor der Tür eine Zigarette an. „Manchmal denke ich, wir haben als Gesellschaft völlig verlernt, würdevoll und ausreichend zu trauern. Vielleicht haben wir keine Zeit mehr dazu, aber wir trauern oft so, wie wir auch leben: Stichwort Wegwerfkultur. Tote gehören entsorgt, der Tod passt nicht ins Bild. Menschen sind zudem weit weg von ihren Familien, haben einen super Job, Eltern, Großeltern und Kinder sind durch Flugstunden getrennt und erfahren es dann ganz plötzlich. Schieben das auf, dass das eines Tages einfach passieren wird. Heute rufen Menschen an und sagen: Bitte leiten sie alles für meine Mutter ein. Ich kann leider nicht kommen, hole die Urne dann aber ab.“ Robert schüttelt den Kopf. „Das macht mich traurig, damit muss sogar ich irgendwie fertigwerden.“

„Merkt ihr eigentlich, wann Trauer und Abschied abgeschlossen sind?“, frage ich und blicke zu Robert, der stockt mit der Zigarette in der Hand und blickt zu Tamara.

„Eigentlich nicht“, sagt er dann und betrachtet die Glut. „Eigentlich nicht, nein. Für uns öffnet sich für diese Woche, in der wir die Bestattung organisieren, ein Fenster. Ein Fenster zum Innersten und Privaten eines Menschen, einer Familie. Und dann, wenn die Beerdigung vorbei ist, grüßen sie dich zwar in der Stadt freundlich, aber irgendwie schon distanziert. Das Fenster hat sich wieder geschlossen, verstehst du?“ Sein Blick gleitet über die Aufbahrungshalle, die Blumen und das Licht. „Ob und wie Abschied und Trauer enden, kriegen wir nicht mehr mit. Der Mensch ist wieder ein normaler Passant, der an dir vorbeigeht, und ich glaube, es ist wie in so einem Film, den du dir immer wieder von neuem ansiehst, es aber nie bis zum Ende schaffst.“

Tamara blickt auf die Uhr. „Robert, wir müssen Louis abholen“, sagt sie dann. „Richtig“, antwortet er und reicht mir die Hand. „Hat mich sehr gefreut!“ Ich betrachte das Auto, wie es von der Hofeinfahrt rollt. „Wollen wir auch los?“, fragt Jörg und schiebt seine Kameratasche in den Bus. „Ja“, sage ich und steige auf der Beifahrerseite ein. “Sag mal, macht das eigentlich gar nichts mit dir, das ganze Thema, der Tod?“

„Nö“, sagt er nur, lässt den Motor an und blickt über die Schulter zum Ausparken. „Ich lag schon so gut wie tot nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus, Alex, auf Morphin, mein Körper zerstört. Und, auch wenn du es mir vielleicht nicht glaubst: Ich habe mich selbst dabei von oben gesehen und auf das Krankenbett hinabgeschaut.“


Aufmacher-Foto: Jörg Singer

Den Beitrag anhören:

https://soundcloud.com/krautreporter/alexander-krutzfeld-schlafes-bruder/s-3OhR5

Der Text wurde gesprochen von Alexander Hertel von detektor.fm