Herr Domian, würden Sie bei sich in der Sendung anrufen?
Ich gehöre zu den Luxusgeschöpfen, die ihr ganzes Leben lang immer mindestens einen Menschen hatten, mit dem sie über alles reden konnten. So dass ich wegen persönlicher Anliegen nicht anrufen würde, durchaus aber zu gesellschaftlichen oder politischen Themen.
Worum geht es heute?
Heute geht es zum Beispiel um Einsamkeit. Mir ist erst durch die Sendung klar geworden, wie viele Menschen aus den verschiedensten Bildungs- und Altersspektren einsam sind und sich nicht mit anderen Menschen austauschen können. Sie greifen dann zu einem Format wie Domian, weil ich vielen durch die langjährige TV- und Radio-Präsenz zu so etwas wie einem guten Bekannten, wenn nicht Freund geworden bin. Ich erinnere mich an einen sehr gravierenden Fall, da war ein Kind sexuell missbraucht, entführt und ermordet worden, und dieses Trauma hat die Familie intern völlig verstummen lassen, so dass kein Austausch untereinander mehr möglich war. Da hat sich dann die Frau in ihrer Not an uns gewandt, und ich habe über eine halbe Stunde mit ihr über ihr ungeheuerliches Unglück gesprochen.
Sie sind eine moralische Instanz.
Naja, als wir damals mit der Sendung angefangen haben, hat mir der damalige Intendant Fritz Pleitgen gesagt, ich solle alles vergessen, was ich als öffentlich-rechtlicher Moderator gelernt habe. Also neutral zu sein, sich selbst zurückzunehmen, eben sachlich zu moderieren. Stattdessen sollte ich auf der Basis der WDR-Richtlinien und der allgemeinen Gesetze so authentisch wie möglich sein. „Zeigen Sie Kante“, hat er damals zu mir gesagt. Das war der richtige Rat. Ich will privat ja auch nicht, dass mir jemand nur zuhört und dann den albernen Satz sagt: Ja, das muss ja jeder für sich selbst entscheiden. Ich will von anderen einen Standpunkt hören, auch ein Urteil. Und dann setze ich mich damit auseinander, ich reibe mich daran oder lasse mich von den Argumenten meines Gesprächspartners überzeugen. Genauso läuft das in der Sendung ab. Wäre ich neutral, das Format wäre schon nach einem halben Jahr abgesetzt worden.
Sie sind wie ein Seelsorger.
In bestimmten Situation, ja! Wenn wir allerdings über das Dschungelcamp reden oder über den Ukraine-Konflikt, dann eher weniger.
Sie haben mal gesagt, Sie würden die Leute, mit denen Sie reden, gerne sehen. Wieso wollen Sie sich das antun?
Weil es viel interessanter und unter Umständen effektiver ist, wenn man sein Gegenüber auch sieht und nicht nur hört. Wie schaut er mich an? Welche Körperhaltung hat er? Wie ist er angezogen? Hält er meinem Blick stand? Zittert er? Und so weiter. All das vermittelt mir Informationen über einen Interviewpartner. Deshalb wäre es für mich ausgesprochen reizvoll, nach zwanzig Jahren Talk-Erfahrung, eine Show zu moderieren, in der ich meine Gesprächspartner auch sehen kann.
Wobei Sie da Gefahr laufen würden, in Richtung Kuriositätenkabinett zu gehen. Wenn jemand vor aller Augen erzählt, dass er die Katze seiner Frau in der Mikrowelle vergessen hat, während er gerade mit der besten Freundin der Frau schlief.
Aber diese Geschichten bewegen sich ja im Promillebereich, allerdings behält man sie eher in Erinnerung. Die große Masse der Geschichten sind Themen aus dem Menschlichen, Allzumenschlichen, die wir alle mal erleben: Krankheit, Tod, Liebe, Gewalt, Verlust, Sehnsucht. Über all diese Themen lässt es sich sehr gut vor einer Kamera talken. Sogar über extreme Sexualität. Man muss es nur verantwortungsbewusst machen. Es gibt seltsamerweise keine seriöse No-Name-Talkshow im deutschen Fernsehen, nur solche mit Prominenten. Dabei sehen gerade wir in unserer Nachtsendung, welch hochinteressanten Geschichten die sogenannten normalen Menschen zu erzählen haben.
Wieso gibt es diese No-Name-Talkshows nicht?
Ich weiß es auch nicht.
Vielleicht will das Publikum seinesgleichen lieber nicht in einer Talkshow sehen.
Das sagen Sie, ich glaube das nicht. Im Fernsehen funktioniert jeder Gast, wenn er eine berührende oder spannende Geschichte zu erzählen hat, egal, ob er prominent ist oder eben nicht. Außerdem suchen die Menschen nach Identifizierungsflächen. Was wir in unserer Nachtsendung machen, widerspricht ja auch jeder Medienforschung. Da sitzt ein Typ vor einer Kamera und telefoniert, und manchmal dauern die Gespräche fünfzehn Minuten oder sogar länger. Wenn man das damals, als wir angefangen haben, einem Medienwissenschaftler gesagt hätte, mit Sicherheit wäre seine Antwort gewesen: Vergessen Sie es, das schaut sich kein Mensch an! Millionen haben es dann doch getan.
Manche werfen Ihnen vor, zu verständnisvoll zu sein.
Das kann ich nicht nachvollziehen, weil es immer und immer wieder Fälle gibt, wo ich klare Position gegen den Anrufer beziehe. Ich bin ja nicht der Alles-versteh-Onkel. Wie viele Anrufer habe ich schon rausgeschmissen oder mich heftig mit ihnen gestritten! Mit uneinsichtigen Pädophilen, mit unbelehrbaren Neonazis, mit notorischen Fremdgehern oder mit einem ehemaligen Mauerschützen, der zwei Menschen erschossen hatte und sich darüber beklagte, dass er deswegen heute geächtet wird. Nein, wer Everybody’s Darling sein will, ist irgendwann auch Everybody’s Esel.
Das würde im Fernsehen doch nicht funktionieren, welcher Pädophile, Nazi oder Mauerschütze würde schon sein Gesicht vor der Kamera zeigen?
Zugegeben, ein Pädophiler würde sich damit schwer tun. Der Mauerschütze allerdings hätte sich mit Sicherheit in ein TV-Studio gesetzt, weil er sich absolut im Recht fühlte. Zudem hätte er bestimmt auf die Solidarität so mancher Anhänger der Partei Die Linke gesetzt.
Da hätten Sie dann natürlich eine gute Einschaltquote.
Eben, deswegen verstehe ich nicht, dass keine TV-Anstalt so ein Format ins Programm nimmt.
Sie müssen das immer wieder vorschlagen. Wie heißt denn der aktuelle Intendant beim WDR?
Tom Buhrow.
Den müssen Sie immer wieder anrufen.
Das ist kein guter Stil, sich direkt an den obersten Chef zu wenden. So etwas wird in den Anstalten auf Abteilungsleiterebene und dann in den Direktionen entschieden. Ich bin im Gespräch. In den letzten Jahren allerdings bestand kein Bedarf an einer solchen Talkshow.
Das muss deprimierend für Sie sein.
So ist halt das Geschäft. Allerdings habe ich noch ein Format in der Tasche, mit dem man große Aufmerksamkeit erzielen würde, weil es eine derartige Sendung noch nie im deutschen Fernsehen gegeben hat. Wir nennen es „Walk Talk“. In meiner jetzigen Sendung sage ich den Leuten: Egal zu welchem Thema, ruft an – und dann reden wird. Bei „Walk Talk“ würde ich sagen: Egal zu welchem Thema, kommt jetzt und spontan zu mir ins Studio – und dann reden wir. Vor vielen Jahren haben wir in Köln eine Pilotsendung „Walk Talk“ produziert und direkt live ausgestrahlt. Der Erfolg war überwältigend. Mitten in der Nacht standen vor meinem kleinen, auf einem zentralen Platz aufgebauten TV-Studio über tausend Menschen und wollten in die Show.
Wie wimmelt man einen sterbenslangweiligen Anrufer elegant ab?
Mit restriktiver Freundlichkeit. Allerdings ist das ein Drahtseilakt. Wenn ich den Anrufer zu hart angehe und unterbreche, sagen die Leute: Mensch, der Domian ist ja unfreundlich und er lässt den Anrufer gar nicht ausreden. Gebe ich dem Anrufer aber zu viel Freiraum, dann heißt es: Öhh, der Domian lässt sich wieder zuquatschen.
Frank Plasberg haut einfach mit der Hand auf den Tisch.
Sehen Sie, das kann man machen, wenn der andere anwesend ist. Am Telefon muss man elegant drüberquatschen.
Gut, ich bin jetzt der Anrufer und erzähle Ihnen mal was und Sie müssen mich irgendwie elegant abwürgen.
Ok.
Hallo Du, Domian, das war gestern so, da bin ich über die rote Ampel gegangen, aber die war diesmal ganz lange rot…
Hm.
…also viel länger als sonst, verstehst Du?
Hm, ja.
Das hat mich bisschen verwirrt, oder nein nicht verwirrt…
Hm.
…es hat mich eher traurig gemacht, Domian.
Äh..
Und dann hab ich mir gedacht, dass ich doch eigentlich zum Bäcker gehen könnte…
Ich verstehe, was Du meinst.
Ja, aber ich hab ja gar kein Geld dabei gehabt, Domian, verstehst Du?
Ja.
Und dann dacht ich mir, wenn ich jetzt aber wieder heimgehe und Geld hole, muss ich ja wieder über die rote Ampel, erkennste das Problem?
Ja, ich hab verstanden. Also, da sehen Sie die Schwierigkeit. Ich muss immer dem Anrufer gerecht, aber ebenso dem Publikum. Ich muss ein Gespür dafür entwickeln, wann die Zuschauer genervt ist. Und dann muss ich handeln…
Aber ich hätte ja jetzt immer weiter erzählen können, wie ein fröhlicher Wasserfall.
Auf keinen Fall! Ich hätte gleich gesagt: Jetzt komm mal zu Potte, um was geht’s denn eigentlich? Und unter Umständen wäre das Gespräch sehr schnell zu Ende gewesen. Dann muss man mal als Moderator intervenieren. Ich habe auch schon mal gesagt: Du, ich glaube, wir kriegen das nicht gemeinsam hin, es tut mir leid, aber wir lassen es besser.
Drücken Sie doch einfach auf den Aus-Knopf und sagen: Oh, die Leitung ist defekt.
Das wäre schon sehr unhöflich und eben gelogen.
Das weiß doch niemand.
Ne, ne das wäre doof.
Man würde Ihnen vielleicht auf die Schliche kommen.
Ja.
Dann würde es heißen: Domian ist in Wahrheit ein mieser, eiskalter Abservierer.
Ja, genau.
Dieses Image können Sie sich nicht wünschen.
Nein, genau so ist es. Und ich sehe mich auch nicht so.
Stimmt es eigentlich, dass sie einmal im Jahr alleine nach Lappland fahren und schweigen?
Das stimmt, ich miete mir eine Hütte in den Wäldern und schweige.
Fernseher, Radio, Internet?
Nichts davon, ich wandere den ganzen Tag.
Jürgen Domian sitzt alleine in einer Hütte in Lappland und steht wann auf?
Gegen acht.
Dann gibt es ein ruhiges Frühstück und dann raus in die lappischen Wälder.
Dann packe ich meinen Rucksack mit Proviant und gehe einfach los.
Und denken sich: Ohne Reden ist das Leben gar nicht schlecht.
Ja, wir reden ohnehin alle viel zu viel. Die Zeit in Lappland ist für mich wie Exerzitien halten, eine Reinigung und Beruhigung der Seele.
(Schweigen)
Nur kann man damit halt kein Geld verdienen.
Es sei denn, man betreibt ein Schweigekloster.
Eine Geschäftsidee: Exerzitien in Lappland mit Jürgen Domian.
Das ist ja genau das, was ich nicht will, ich will in Lappland eben alleine sein.
Es gibt übrigens die Idee einer Domian-App. Die Leute schildern irgendein Problem, und die Domian-App sagt, was Domian dazu sagen würde.
Echt?
Ja.
Das ist ja lustig.
Sehr lustig sogar, Sie könnten damit reich werden.
Kannte ich nicht, woher wissen Sie das?
Gerade erfunden, aber es wäre eine gute Idee.
(lacht) Ja, aber die Frage ist, wie man diese App dann programmiert.
Das müssten Sie am Ende selbst machen.
Ich denke darüber nach.
Was machen Sie eigentlich nachts, nachdem Sie in Ihrer Sendung die ganzen traurigen Geschichten der Menschen gehört haben?
Es ist so eine Mischung aus Fernsehen und Internet. Und wenn ich gerade an einem Buch arbeite, dann lese ich nachts noch Korrektur. Ganz zum Schluss, also kurz vor dem Einschlafen, gucke ich immer noch eine Folge Simpsons. Das ist ein festes Ritual.
Haben sich die Themen, über die die Menschen reden wollen, in den letzten Jahren geändert?
Die ersten Jahre gab es mehr Sex-Themen, weil kaum jemand im Internet unterwegs war. Viele Dinge, die wir heute aus dem Netz tausendfach kennen, waren da noch unbekannt. Ich erinnere mich, wie spektakulär es damals war, den ersten Windelfetischisten in der Leitung zu haben oder einen 24 Stunden-Sklaven oder eine Domina. Heute kennen die meisten all das nur zu gut aus dem Netz, und es ist nichts Besonderes mehr.
Heute gehört es zum guten Ton, und irgendwann ist eben alles erzählt.
Wobei es mich beim Thema Sexualität schon wundert, dass trotz der vielen Gespräche immer wieder neue Sachen auftauchen, die auch ich noch nicht gehört habe.
Was denn?
Neulich erzählte eine Frau, dass ihr Mann, ein Motorradfan, sich regelmäßig in seine Lederklamotten schmeißt, ein paar Kilometer aus dem Ort rausfährt und sich mit den Klamotten im Schlamm wälzt. Das mach den geil, er kommt dann völlig verschlammt nach Hause, zieht sich aus und will dann mit seiner Frau schlafen. Das ging ihr mittlerweile sehr auf die Nerven.
Dabei zieht er sich immerhin vorher aus.
Das stimmt, ja (lacht).
Das wäre wieder ein Argument für eine Fernsehshow, der Mann im Schlamm neben seiner Frau.
Man müsste schon vorsichtig sein, dass es kein Kuriositätenkabinett würde. Allerdings könnte ich mir einen eloquenten 24-Stunden-Sklaven durchaus als guten Talkgast vorstellen. Viele, mit denen ich gesprochen habe, waren äußerst seriöse Menschen, manche sogar mit hohem Bildungsstand.
Mögen Sie die Menschen eigentlich?
Mein Menschenbild hat sich im Laufe der Jahre schon verschlechtert. Ich habe mit so vielen Gewaltopfern und eben auch mit Tätern gesprochen. Ich hätte mir früher niemals ausmalen können, zu was der Mensch alles fähig ist. Da gibt es sehr viele Abgründe, in die ich geschaut habe. Aber das finde ich nicht weiter dramatisch. Denn auf der anderen Seite weiß ich dadurch noch mehr wertzuschätzen, dass es so viele tolle, tapfere und mutige Menschen gibt, die ihr Schicksal auf eine Art und Weise meistern, wie ich es nie hinkriegen würde. Eben diese Leute sind auch oft meine Interviewpartner. Wir waren übrigens auch die erste Sendung in Deutschland, in der ganz offen über sexuellen Missbrauch gesprochen wurde. Das hat damals eine riesige Feedback-Welle ausgelöst. Es erreichten uns Briefe über Briefe, in denen sich die Betroffenen bedankten, dass sie endlich sprechen durften und dass wir sie ernst genommen haben. Das sind für uns tolle Erfolgserlebnisse, die weit mehr wiegen, als eine gute TV-Quote.
Was würden Sie heute beruflich machen, wenn Sie nicht Journalist geworden wären.
Wissen Sie, ich stand ganz kurz vor einem Theologiestudium und habe dann kurz bevor es losgehen sollte eine so elementare Glaubenskrise bekommen, dass mein kompletter Glauben zusammengebrochen ist. Gott sei Dank war das vor Beginn des Studiums, wenn man das während des Studiums oder danach erlebt, ist das ja hochdramatisch. Das Vorhaben hat sich dann innerhalb weniger Monate in Luft aufgelöst. Daraus resultierte eine meiner schwersten Lebenskrisen. Nicht, weil ich nun nicht mehr Theologie studieren konnte, sondern, weil ich meinen Glauben verloren hatte.
Wie kam es dazu?
Es klingt beinahe wie ein Klischee, wenn ich das so erzähle. Ich war wirklich fast schon ein fanatischer Christ und hatte mitbekommen, dass Nietzsche und Feuerbach große Kritiker des Christentums sind. Ich dachte mir dann, dass ich mich mit denen mal beschäftigen sollte, weil man seine Gegner ja kennen muss, und ich bin dann ganz hochnäsig an die Sache ran gegangen, weil ich ja dachte, dass die meinen Glauben nicht erschüttern könnten. Aber das haben sie dann doch, und je mehr ich mich in ihre Schriften vertiefte, desto mehr bekam mein Glauben Risse. Ich konnte ihnen nichts mehr entgegenhalten, mein Glaube brach zusammen.
Sie haben doch sicher mit anderen Gläubigen gesprochen, konnten die dem nichts entgegensetzen?
Ja, ich habe mit meinem Pastor gesprochen und heftig diskutiert. Aber was sollte der arme Mann mir Schlüssiges antworten, wenn ich ihn fragte: Warum soll gerade der christliche Gott der richtige Gott sein? Und grundsätzlich: Warum soll es nur einen Gott geben? Und wo ist die Realität Gottes?
Was sagte der Pastor?
Ach, er hat herumgeredet und herumgeschwallert. Letztendlich glaubt man an all das – oder eben nicht. Jeder Versuch, einen anderen überzeugen zu wollen, ist albern. Auch kapitulierte er vor der Frage, warum dieser angeblich so liebende Gott so viel Leid auf der Welt zulässt. Warum wird ein Kind behindert geboren? Warum stirbt eine junge Mutter? Warum werden bei Naturkatastrophen hunderttausend Menschen getötet? Hier zieht dann auch nicht mehr das unter Theologen beliebte Argument: Der Mensch verursacht das Leid auf der Welt. Das stimmt eben nur bedingt. Für mich war der christliche Gott zudem viel zu menschlich, zu fordernd, zu rachsüchtig, zu egozentrisch. Mich hätte ein Gott interessiert, der sagt: Ich liebe dich! Aber was geht es dich an ?
Woran glauben Sie dann jetzt?
Nach meinem Glaubensverlust, wurde ich überzeugter Atheist. Bis ich dann kapierte, dass dies auch eine Form von Glauben war. Vorher hatte ich fest daran geglaubt, dass es Gott gibt. Nun glaubte ich fest daran, dass es ihn nicht gibt. Das war sehr unbefriedigend, und es folgte eine lange Phase des Suchens. Bis ich vor etwa zehn Jahren mit dem Zen-Buddhismus in Kontakt kam. Nun bin ich zwar kein Zen-Buddhist geworden, allerdings interessiert und beeindruckt mich diese fernöstliche Lebensphilosophie sehr.
Wie lässt sich diese Lebensphilosophie zusammenfassen?
Das ist sehr schwer zu sagen. Es gibt in der Zen-Literatur eine kleine Geschichte, in der ein Schüler seinen Meister fragt, was denn Zen lehre und der Meister antwortet: Nichts. Mir gefällt, dass es im Zen keine Dogmen gibt, keine Hierarchien, keine Gottesvorstellungen und keine Aussagen darüber, ob der Mensch eine Seele hat oder ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Zen ist radial und hat mit Ratio und Vernunft nichts zu tun. Allerdings kann man sagen, dass diese Philosophie auf zwei Grundpfeilern ruht, nämlich dem Mitgefühl und der unbedingten Achtung vor allen Geschöpfen und der Natur. Zudem weist Zen in allen seinen Aussagen darauf hin, dass wir nur eine Realität haben, nämlich die Gegenwart. Die Vergangenheit ist bereits im Besitz des Todes, die Zukunft nichts weiter als eine Illusion.
Kann Zen die Menschen angesichts des Todes trösten?
(überlegt) Ja, denn wenn man in die Zen-Welt eingetaucht ist, akzeptiert man alle unveränderbaren Gegebenheiten des Lebens. Und der Tod ist Teil unseres Lebens. Tod und Leben sind wie die beiden Seiten einer Münze.
Und das gelingt Ihnen?
Zunehmend ja. Früher hatte ich große Angst vor dem Tod. Diese Angst ist weitgehend verschwunden. Zen bewirkt, dass man sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt. Das tut sehr gut. Ich bin wie ein Tropfen, der irgendwann im Meer verschwinden wird, und somit wieder Teil eines Großen und Ganzen wird. Das finde ich tröstlich. Mein personales Ich ist nicht von Bedeutung. Das empfinde ich auch immer, wenn ich lange in Lappland war und geschwiegen habe. Mein Alltags-Ich verschwimmt, bekommt Risse, tritt in den Hintergrund. Die Welt hinter dem Ich lässt sich nicht beschreiben, sie liegt jenseits der Worte.
Sind Sie gerne Jürgen Domian?
Das ist eine gute Zen-Frage! Ich bin nicht gerne Jürgen Domian, ich bin Jürgen Domian, weil es so ist. Das ist nicht schön, aber auch nicht schlecht. Wenn ich lieber Justin Bieber oder Prince Charles wäre, würde mich das ins Unglück ziehen, weil diese Menschen nicht meinem Leben entsprechen. Ich würde einer Illusion nachjagen und mich selbst darüber vergessen und verlieren.