Neulich ging ich abends durch die Hamburger Mönckebergstraße und sah zwei Menschen vor einem Schaufenster sitzen. Die Frau wühlte in ihrem Schlafsack und zückte schließlich eine Spritze, die sie dem Mann in die Armbeuge gab. Vor ihnen standen ein zerfledderter Pappbecher und ein Schild: „Bitte gib uns Geld, wir haben Hunger.“
Ich griff in meine Jackentasche und fand ein paar Euro. Aber was, dachte ich, wenn sie sich von dem Geld noch mehr Drogen kaufen? Vielleicht sollte ich ihnen ein Brötchen vom Bäcker holen. Und wenn sie keine Brötchen mögen? Ich ließ die Münzen zurück in die Tasche fallen und ging weiter, ohne einen Blick oder ein Wort mit den beiden gewechselt zu haben.
In meinem letzten Text habe ich recherchiert, was es mit dem Satz „In Deutschland muss niemand auf der Straße leben” auf sich hat. Seither frage ich mich: Wie kann ich Menschen würdevoll helfen, die durchs soziale Netz gerutscht sind?
Ich habe mir Ratschläge von der KR-Community geholt, wie sie mit bettelnden Menschen auf der Straße umgeht, einen Integrationsexperten, eine Sozialarbeiterin und bettelnde Menschen selbst gefragt.
Darf es auch ein Käsebrötchen sein? Das sagt der Integrationsexperte
Tim Westerholt leitet den Bereich Integration und Beratung der Caritas in Köln. Ihm erzähle ich von dem Paar in der Hamburger Innenstadt und meiner Überforderung. „Situationen wie diese betrachten viele Passant:innen als Dilemma“, sagt er. Wenn sie eine Suchterkrankung vermuten, entscheiden sich viele dagegen, Geld zu geben. Man wolle die Drogensucht bloß nicht noch unterstützen.
KR-Mitglied Manfred ist da anders. Er gibt regelmäßig einer bettelnden Frau Geld, obwohl er weiß, dass sie sich davon Zigaretten kauft: „Soll sie doch, ist ja ihre Entscheidung.“ Westerholt sieht das genauso. „Wer Geld spendet, muss den Umstand akzeptieren, nicht zu entscheiden, was damit passiert. Denn das Geld gehört nun der anderen Person. Sie kann und soll frei darüber verfügen.“ Westerholt sagt, Sachspenden sollten nur nach Ansprache erfolgen: „Wenn man die Person nicht vorher fragt, sondern ihr einfach irgendein Brötchen vorsetzt, ist das bevormundend.“
Und bei Suchtkranken? Von meinem Argument, die beiden Menschen in Hamburg nicht in ihrer Sucht unterstützen zu wollen, hält Westerholt wenig. Ich solle lieber überlegen, was passiert, wenn ich das Geld nicht in den Becher werfe. „Dadurch werden die beiden nicht weniger heroinsüchtig“, sagt er. Wer suchtkrank ist, brauche die Drogen nun einmal zum Überleben. Und auf der Straße ohne medizinische Begleitung einen Entzug zu machen, sei lebensgefährlich. Jeder Euro, der einer suchtkranken Person also nicht gegeben wird, vergrößere im Zweifel nur ihre Not.
Westerholt empfiehlt deshalb, bettelnden Menschen, sofern es einem möglich ist, immer Geld zu geben. Nur bei Kindern macht er persönlich eine Ausnahme: „Dass Kinder auf der Straße betteln, möchte ich nicht unterstützen.“ Das erkläre er ihnen auch.
Wer auch Erwachsenen partout kein Geld geben möchte, sollte sie lieber fragen: „Kann ich Ihnen etwas einkaufen?“ Das sei auch eine gute Möglichkeit zu helfen, wenn man vermeiden will, dass eine organisierte Bande das Geld am Ende des Tages einsammelt. Westerholt warnt aber davor, organisiertes Betteln mit Einwanderung zu verwechseln: „Auf unseren Straßen betteln viele Menschen, die aus anderen EU-Ländern kommen. Sie gehören deshalb nicht gleich zu einer Betrugsmafia – auch nicht, wenn sie untereinander vernetzt sind.“ Wer in einem fremden Land ist, nicht arbeitet, keine Unterbringung hat und wenig Deutsch spricht, tut sich mit seinen Landsleuten zusammen – etwa um aufeinander aufzupassen. „Auf der Straße kann das überlebenswichtig sein.“
Kerzen und Cents: Das wünschen sich bettelnde Menschen
Das berichtet mir auch Andrea aus Rumänien, die eigentlich anders heißt. Tagsüber bettelt sie im Altonaer Bahnhof, nachts schläft sie auf einem Matratzenlager in der Nähe des Hauptbahnhofs, gemeinsam mit ihren Verwandten: „Sonst hätte ich Angst vor Übergriffen“, sagt sie. Immer wieder muss sie sich von Passant:innen anhören, sie gehöre zu kriminellen Bettlerbanden. Dabei braucht Andrea dringend Geld. „Egal, wie wenig, jedes bisschen Kleingeld hilft mir.“
Auch Lena, 84, freut sich über jeden Cent. Davon kauft sie sich Lebensmittel und Kerzen, denn den Strom in ihrer Wohnung hat sie im vergangenen Winter abgestellt. Die Rente reichte dafür einfach nicht. Eine warme Mahlzeit hat Lena nur, wenn Passant:innen ihr eine kaufen. „Das passiert nur alle paar Wochen, weil mich fast niemand fragt, was ich brauche.“
Lena vermisst es auch, mit Menschen zu sprechen. „Die meisten gehen an mir vorbei, ohne mich auch nur anzugucken“, sagt sie. Sollte ich mich als Passantin verpflichtet fühlen, bettelnde Menschen anzusehen und das Gespräch zu suchen? Fragt man Tim Westerholt, ist die Antwort eindeutig: Ja. „Wir tragen Verantwortung dafür, dass respektvoll mit bettelnden Menschen umgegangen wird.“ Ich solle mir sagen: „Mir gegenüber sitzt ein Mensch mit einer Geschichte, mit Lebensplänen – genau wie ich.“
Wie frage ich bettelnde Menschen, was sie brauchen? Das rät die Sozialarbeiterin
KR-Leserin Anna, die in einer Einrichtung für wohnungslose Frauen arbeitet, sieht das ein bisschen anders. „Als Berlinerin weiß ich, dass es nicht möglich ist, jede bettelnde Person freundlich anzugucken und ihr ein Gespräch anzubieten.“
Wenn ich aber doch Lust auf eine Unterhaltung habe, wie spreche ich mein Gegenüber am besten an? „So wie du das mit allen anderen fremden Menschen auch tust“, sagt Anna. Fragen könnten sein: Wie geht es Ihnen? Kann ich Ihnen helfen? Was brauchen Sie? Auch von Hilfsangeboten in der Gegend zu erzählen, wie einer Suppenküche oder Tagesaufenthaltsstätte, kann der bettelnden Person helfen.
„Es ist okay, wenn es Überwindung kostet, ein Gespräch zu beginnen.“ Ein bisschen gelte aber dasselbe wie in der Ersten Hilfe: Versuchen ist immer besser als es direkt sein zu lassen.
„Fragen verpflichtet aber nicht, weder den Fragenden noch den Befragten“, betont Anna. Es sei okay, sich während eines Gesprächs dagegen zu entscheiden, Geld zu spenden. Und auch die bettelnde Person hat ein Anrecht darauf, nicht von ihrer Situation zu erzählen – oder überhaupt keine Lust auf ein Gespräch zu haben.
Es sollte sich niemand verpflichtet fühlen, immer Geld zu geben, sagt Anna. „Wir alle zahlen schon so viele Steuern, mit denen zahlreiche Hilfsprojekte und Sozialarbeit finanziert werden.“ Wer aber darüber hinaus noch helfen möchte, sollte Bargeld geben oder die bettelnden Menschen fragen, was sie brauchen. Da stimmt Anna dem Integrationsexperten Westerholt zu.
Und darf ich dabei nach Sympathie gehen? „Ja, man kann sich durchaus fragen, bei wem man ein gutes Gefühl mit der Spende hat“, erklärt Anna. „Auch etwa ein untalentierter U-Bahn-Gitarrist ist manchmal sehr sympathisch.“
Wenn ich nicht direkt in Kontakt treten möchte, könnte ich Hilfseinrichtungen ehrenamtlich unterstützen oder Geld an sie spenden. „Unsere Bewohnerinnen freuen sich auch über Gutscheine, etwa für Drogeriemärkte“, sagt Anna.
Wem gebe ich wie viel Geld? Das sagt die KR-Community
Die KR-Leser:innen, die mir geschrieben haben, sind sich einig: Sie wollen bettelnden Menschen direkt helfen, am liebsten mit Geld. Elisabeth steckt sich jeden Morgen ein paar Münzen Kleingeld in die Manteltasche. Den ersten bettelnden Personen gibt sie dann ausnahmslos einen Euro, so lange bis sie kein Kleingeld mehr hat. „So muss ich nicht jedes Mal neu abwägen.“ Sie gibt bettelnden Menschen aber nicht nur Geld, sondern grüßt sie und schaut ihnen in die Augen. „Damit jede Begegnung eine in Würde ist.“
Milena gibt der ersten bettelnden Person des Tages einen Euro. „Unabhängig davon, ob sie mir sympathisch ist oder nicht.“ Jan dachte immer, man könne ja nicht allen helfen. Irgendwann stellte er fest, dass das für ihn nicht stimmt: Er kann es sich leisten, immer ein bisschen Geld zu geben, zumindest 50 Cent. „Wichtig ist mir aber auch, dass ich die Leute wahrnehme, grüße und sie nicht wie Luft behandle.“
Ich selbst habe jetzt immer ein paar Euro in der Jackentasche und gebe jeder bettelnden Person einen Euro, grüße sie und frage, wenn ich die Zeit habe, wie es ihr geht. Die ersten Male musste ich mich dazu überwinden, lernte aber: Es ist gar nicht unangenehm. Nicht zu vergleichen mit dem Gefühl, das ich hatte, wenn ich früher weitergegangen bin.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert