Der Wind pfeift durch den U-Bahnhof Sternschanze in Hamburg, draußen schneit es, drinnen rennen Menschen durcheinander. In einer Ecke der Bahnstation steht ein Fotoautomat, eine kleine Kabine. Darin sitzt eine Frau auf einem Hocker, ihr Oberkörper hängt auf ihren Oberschenkeln, die Hände auf dem dreckigen Boden. Auf einmal bewegt sie sich und wankt gebückt aus der Kabine. Einige Passanten schauen schnell weg, andere starren sie an, alle laufen einen weiten Bogen um sie.
Sie heißt Skanda. „Wie Skandal, nur ohne l“, erklärt sie mir. „Wo schläfst du?“, frage ich sie. In der öffentlichen Toilette vor der U-Bahnstation, erklärt mir Skanda. Ohne Schlafsachen, der nackte Boden muss reichen. Das Einzige, was sie noch besitzt: eine rosa Mütze und ein Buch „Marzahn mon amour – Geschichten einer Fußpflegerin“.
Wie kann es sein, dass Menschen in Deutschland so leben?
Es gibt diesen Spruch: „In Deutschland muss niemand obdachlos sein.“ Aber stimmt er auch? Schon oft habe ich mich das gefragt. Wenn der Spruch zutrifft, wieso schläft Skanda dann auf den kalten Fliesen in der öffentlichen Toilette? Es muss doch einen anderen Weg geben?!
Nachdem ich Skanda getroffen hatte, beschloss ich, der Sache nachzugehen. Mit der Hilfe von KR-Mitgliedern, Betroffenen und Expert:innen wollte ich außerdem wissen: Was tut die Bundesregierung, um ihr eigenes, hehres Ziel zu erreichen, bis 2030 Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu überwinden?
Das Erste, was ich in meiner Recherche lernte: Es gibt ein ganzes Set an Hilfsangeboten für Obdachlose: Bürger- und Wohngeld, soziale Wohnprojekte und Obdachloseneinrichtungen. Und die sind auch nötig, denn in Deutschland leben laut einer Studie der Bundesregierung aus dem vergangenen Dezember 263.000 Menschen ohne eigenen, festen Wohnsitz. Das sind mehr Menschen als Mönchengladbach Einwohner:innen zählt. Nicht alle von diesen wohnungslosen Personen gelten wie Skanda auch als obdachlos; „nur“ rund 40.000 Menschen leben wie sie auf der Straße. Die meisten Wohnungslosen sind in Einrichtungen untergebracht, knapp 50.000 schlafen bei Freund:innen oder Verwandten und gelten damit als „verdeckt wohnungslos“.
Wenn das Sozialsystem versagt
Menschen landen nicht urplötzlich auf der Straße. Obdachlos wird man oft schleichend. Skanda hatte einmal ein ganz normales Leben: Vor 30 Jahren sei sie aus Polen nach Deutschland gekommen, erzählte sie mir. Zuletzt arbeitete sie in einem Hotel an der Rezeption, hatte eine Wohnung, einen Mann. Vor zwei Jahren dann der große Bruch: Nach einem Streit mit ihrer Chefin wurde sie gekündigt, so erzählt sie es. Wenige Wochen später trennte sich auch noch ihr Mann. Sie musste aus der Wohnung raus. Zwar bekam sie Arbeitslosen- und Wohngeld, fand auf dem angespannten Wohnungsmarkt in Hamburg aber keine Wohnung, die sie sich mit der staatlichen Unterstützung hätte leisten können. So landete die heute 53-Jährige schließlich auf dem Toilettenboden. Einen Schlafsack und eine Isomatte hat sie nicht mehr; es war Skanda zu anstrengend, immer ihre ganzen Sachen mit sich herumzuschleppen.
Es gibt in Skandas Geschichte Parallelen zu der von KR-Mitglied Beatrice: Auch bei ihr fielen die berufliche Kündigung als Leiterin im Projektmanagement und die Scheidung von ihrem Mann zusammen. Jetzt ist sie wohnungslos. Denn Beatrice fällt durch das Raster des Sozialsystems: Weil ihr Arbeitslosengeld zu hoch für einen Anspruch auf Wohngeld oder einen Wohnberechtigungsschein ist, hat sie kein Anrecht auf eine Sozialwohnung. Und auf dem engen Berliner Mietmarkt findet die 37-Jährige als Arbeits- und Wohnungslose keine Bleibe. Gegen Mitbewerber:innen, die in ihren sicheren Jobs viel Geld bekommen, hat sie keine Chance.
Würden ihre Eltern in Thüringen sie nicht wieder aufnehmen, müsste Beatrice jetzt in eine Notunterkunft. In Thüringen wird sie sich nun erstmal auf verschiedene Jobs bewerben und hoffen, dann wieder eine Chance auf dem Berliner Wohnungsmarkt zu haben.
Diese Kraft, sich auf Wohnungs- und Jobsuche zu begeben, hatte KR-Leserin Stefanie, die eigentlich anders heißt, nicht. Als sie plötzlich psychisch schwer erkrankte, kam es zu einem Streit mit ihrer Mitbewohnerin, die schließlich Stefanies Untermietvertrag kündigte, so erzählt es mir Stefanie am Telefon. „Damals war ich kaum in der Lage, meinen eigenen Alltag zu bewältigen, geschweige denn, mich auf Wohnungssuche zu begeben“, erinnert sich die 40-Jährige. Also wurde sie wohnungslos. Hilfsangebote für sie habe es viele gegeben. „Aber die kommen einem nicht zugeflogen. Immer musste ich diese Unterstützung einfordern, Anträge stellen und zu Terminen erscheinen. Das konnte ich durch meine Erkrankung einfach nicht.“
Ein Einzelfall ist sie nicht. So wie Stefanie leidet jede:r vierte Obdachlose an einer psychischen Erkrankung. Solche Fälle zeigen exemplarisch: Wohnungslos kann in Deutschland jede:r werden. Es braucht nur einen Grund, um die Miete nicht mehr zahlen zu können, wie eine Kündigung im Job, ein Unfall oder eine Erkrankung. „Wer kein stabiles soziales Netz oder finanzielle Rücklagen hat, steht dann erstmal auf der Straße“, erklärt Tim Sonnenberg, der an der Fachhochschule Dortmund zum Thema „Diskriminierung von Obdachlosen“ promoviert.
Warum wohnen die Menschen nicht einfach in den Unterkünften
Ihren Weg auf die Straße skizziert Skanda so: Nachdem sie zunächst bei wechselnden Freund:innen auf deren Sofa übernachtet hatte, kam sie in einer Einrichtung für wohnungslose Frauen unter. Mit fünf fremden Frauen, zum Teil drogenabhängig, seit Jahrzehnten obdachlos und verwahrlost, schlief sie in einem Zimmer. Auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Irgendwann, nach einigen Monaten, wurde es Skanda zu viel. Sie entschied sich schließlich für die Straße.
Wie Skanda geht es vielen Obdachlosen in Deutschland. Die meisten von ihnen haben zwar schon einmal in einer Unterkunft für Wohnungslose gelebt, entscheiden sich dann aber doch lieber für die Straße, weil die Unterkünfte oft überfüllt oder zu schmutzig sind. In der Studie im Auftrag der Bundesregierung gaben 40 Prozent der Obdachlosen an, in Notunterkünften zu schlafen, sei ihnen zu gefährlich, sie hätten Angst beklaut zu werden. „Wenn einem etwa der Personalausweis gestohlen wird, hat man ein echtes Problem. Dann ist jeglicher Weg in das Sozialsystem erstmal blockiert“, sagt Tim Sonnenberg, der Soziale Arbeit studiert hat. „Ohne einen Personalausweis, die eigene Geburtsurkunde oder eine Sozialbescheinigung noch Hilfe von den Behörden zu bekommen, ist fast unmöglich. Die Unterbringung in Notunterkünften müssen die Betroffenen dann in einigen Städten, wie etwa in Dortmund, selbst zahlen.“
„In vielen Städten sind die Notunterkünfte in schlechtem Zustand und entsprechen nicht den Bedürfnissen der Betroffenen“, sagt Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W). In Berlin etwa gebe es kaum eine Unterkunft, in die man seinen Hund mitbringen dürfe. Wer aber bindet seinen Hund über Nacht einfach an einer Laterne an, allein? Eben. Auch Paare bleiben oft gemeinsam auf der Straße, weil die Unterbringung meist nach Geschlechtern erfolgt.
Niemand wird freiwillig obdachlos
Zum Teil werden in den Unterkünften aber auch die Ausweise kontrolliert. Wer als EU-Migrant:in in seinem Pass keine deutsche Adresse hat, wird in vielen Kommunen gar nicht erst aufgenommen. Werena Rosenke erklärt: „Das Argument der Kommunen lautet in solchen Fälle, dass die EU-Bürger:innen ja auch in ihren Heimatländern Schutz finden könnten.“ Sie gelten als „freiwillig obdachlos“.
In einigen Notunterkünften, wie etwa jenen des Hamburger Winternotprogramms, darf man dann nicht mehr schlafen. Stattdessen gibt es dort die Wärmestube. Hier finden Schutzsuchende keine Betten oder andere Schlafgelegenheiten. Sie übernachten sitzend an Tischen oder auf dem Fußboden. Dieser „nächtliche Aufenthalt“ wird ihnen angeboten, damit „niemand im Winter auf der Straße übernachten muss“, wie es auf der Webseite der Stadt heißt. Von ordnungsrechtlicher Unterbringung ist keine Rede.
Dabei hat jeder Mensch in Deutschland genau dieses Recht auf Unterbringung, das aus der Menschenwürde abgeleitet wird. Unabhängig von der eigenen Nationalität und dem Aufenthaltsstatus. „Wenn Kommunen die Aufnahme von Menschen so verweigern, ist es zwar ordnungsrechtlich nicht okay, es wird aber praktiziert, weil sich die Betroffenen in der Regel nicht dagegen wehren“, sagt Werena Rosenke. Wo kein Kläger, da kein Richter.
In der Wohnungslosigkeit überleben – ein riesiger Kraftakt
Und auf der Straße? Auch hier scheint kein Platz zu sein. Das Spektrum der Methoden, um die Obdachlosen loszuwerden, ist breit, schreibt Tim Sonnenberg in einem Aufsatz: Egal, ob bewusst aufgestellte Bauzäune unter Brücken, Stahlstreben auf Parkbänken oder extra eingerichtete Weckdienste, die Obdachlose „pünktlich“ am Morgen auffordern, Einkaufsstraßen zu verlassen. Die ordnungsrechtlich legitimierte Vertreibung reiche bis zur Zerstörung selbstgewählter Schutz- und Rückzugsräume, so Sonnenberg. Dabei ist er überzeugt: „Wenn wir Obdachlosen ständig vermitteln, dass sie nicht zur Gesellschaft gehören, geben sie irgendwann die Hoffnung auf eine Wohnung auf. Das ist keine freiwillige Obdachlosigkeit, wie es oft umgedeutet wird. Sie passen sich nur zwangsweise dem an, was die Gesellschaft ihnen als ‚angemessenen Platz‘ vermittelt.“
KR-Leserin Kate war als junge Erwachsene über viele Jahre wohnungslos, ab und zu schlief sie auf der Straße. Auch sie machte die Erfahrung, immer wieder abgewiesen zu werden, wenn sie ihre letzte Kraft zusammenkratzte, um sich Hilfe zu suchen. „Das alltägliche Leben in der Wohnungslosigkeit war so anstrengend. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, mir immer wieder Hilfe bei den Behörden oder freien Trägern zu suchen“, erinnert sich die 48-Jährige heute. „Dann geht es irgendwann nur noch darum zu überleben.“
Darum kämpft auch Skanda jeden Tag. Manche Menschen kaufen ihr etwas zu essen, darüber freut sie sich immer. Ihre Klamotten holt sie sich aus einer Tauschbox im Viertel. So kommt sie gerade so über die Runden. Fragt man Skanda, was sie sich wünscht, muss sie bei ihrer Antwort nicht lange überlegen: eine eigene Wohnung.
Wie Finnland versucht, Obdachlosen zu helfen
Ein Modell, das unter anderem von EU-Politiker:innen als Patentlösung gegen Obdachlosigkeit diskutiert wird, ist das sogenannte „Housing First“, wie es zum Beispiel Finnland umsetzt. Dort bekommt jede:r Obdachlose mit Anspruch auf Sozialleistungen bedingungslos eine Wohnung. Dadurch müssen Wohnungslose nicht erst in einer langen Bewährungszeit beweisen, dass sie keine Drogen nehmen und einem geregelten Alltag nachgehen können. Sie dürfen schnell in eine der Wohnungen einziehen, die der Staat oder Stiftungen wie die „Y-Foundation“ und das „Blaue Kreuz“ bauen oder kaufen. Die Miete bezahlt der Staat. Außerdem werden medizinische und psychologische Betreuung sowie Unterstützung bei Behördengängen angeboten.
In den ersten zehn Jahren bis 2018 kosteten die „Housing First“-Wohnungen den finnischen Staat 270 Millionen Euro. Im Vergleich zu den Kosten, die zuvor im Umgang mit obdachlosen Menschen anfielen, etwa bei der medizinischen Notversorgung und den Sozialdiensten, spart Finnland mit „Housing First“ jährlich 15.000 Euro pro ehemals Wohnungslosem. Damit gilt Finnland als Vorzeigeland in Europa: Immerhin hat sich die Zahl der Obdachlosen dort seit der Einführung von „Housing First“ im Jahr 2008 mehr als halbiert.
Doch ein genauerer Blick auf die Statistik zeigt: Bei den Zahlen der Obdachlosen tauchen die EU-Migrant:innen gar nicht auf. Dabei fallen gerade sie oft durch das finnische System. Denn wer als Staatsbürger:in eines anderen EU-Landes nicht in Finnland arbeitet, hat keinen Anspruch auf „Housing First“.
Neben den Zahlen aus Finnland gibt es zahlreiche Studien aus Pilotprojekten, die zeigen, dass „Housing First“ als Modell vielen Obdachlosen wirklich hilft. Bislang erfassen die wenigsten Studien allerdings auch die langfristigen Auswirkungen. Eine Untersuchung stammt von dem Ökonomen Daniel Kühnle von der Universität Duisburg-Essen, der mit seinen Kolleg:innen über sechs Jahre ein „Housing First“-Projekt in Melbourne untersucht hat und positive wie negative Effekte nachweisen konnte: 50 Langzeitobdachlosen wurde eine Wohnung gestellt, sie wurden in den ersten drei Jahren auch durch Sozialarbeitende unterstützt, die mit ihnen an Sucht- und psychischen Problemen arbeiteten und ihnen bei der Jobsuche halfen. Nach drei Jahren lebten 40 von ihnen in einer eigenen Wohnung und damit 37 Prozent mehr als in der Kontrollgruppe. Nach weiteren drei Jahren ging es ihnen allerdings weder psychisch besser als den Obdachlosen der Kontrollgruppe, noch hatte sich ihr Drogen- und Alkoholkonsum verbessert. Ein Teil der Probanden landete sogar wieder auf der Straße.
Auf den zweiten Blick zeigt sich also: Es ist nicht einfach, die Leute langfristig von der Straße wegzuholen.
In Deutschland wäre „Housing First“ als flächendeckendes Projekt derzeit sowieso nicht machbar. Zwar gibt es Pilotprojekte, doch auch diese scheitern immer wieder an ein- und demselben Problem: bezahlbarem Wohnraum. Denn der fehlt schlichtweg. Ganz zu schweigen von sozialem Wohnraum.
Wie die Bundesregierung Wohnungslosigkeit bis 2030 abschaffen will
Eigentlich hat die Bundesregierung das Ziel, jährlich 100.000 Sozialwohnungen zu bauen, doch „in den letzten Jahren sind jeweils nur ungefähr 25.000 Sozialwohnungen gebaut worden. Das gleicht nicht einmal die Zahl der Wohnungen aus, die aus der Sozialbindung fallen“, sagt Werena Rosenke. Auf die kommenden Jahre blickt auch Stefan Kunz von der Caritas nicht hoffnungsvoll: „Angesichts der steigenden Bodenpreise, Materialknappheit und dem Fachkräftemangel wird es nicht leichter in diesen Zeiten, Sozialwohnungen zu bauen.“ Doch schon jetzt müsste es ein Kontingent an Sozialwohnungen für Wohnungslose geben, fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. „Und die geförderten Wohnungen müssen dauerhaft sozial gebunden sein“, sagt Rosenke. Nur so könne Wohnungslosigkeit auch langfristig verhindert werden.
Genau das ist das selbst gesteckte Ziel der Bundesregierung: Bis 2030 soll unfreiwillige Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland überwunden sein. So steht es zumindest im Koalitionsvertrag. Einen Plan, wie das Vorhaben gelingen soll, gibt es bislang jedoch nicht. Immerhin soll im Herbst dieses Jahres ein Nationaler Aktionsplan erarbeitet werden. Im kommenden Winter wird Skanda aber wohl trotzdem wieder auf dem Toilettenboden schlafen.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert