Mit sechs Jahren gab mir mein Vater Bier. Es war nur das verdünnte Bier mit Geschmack. Es blieb nicht bei einem Mal. Später brachte er mir bei, wie man Tequila-Shots richtig trinkt, woran man guten Wodka erkennt und welche Tabletten gegen den Kater helfen. Als Jugendliche und junge Erwachsene habe ich unter Einfluss von Alkohol problematische Dinge getan und erlebt. Ich hielt das für normal.
Mittlerweile trinke ich viel seltener, trotzdem fällt es mir noch immer schwer, Maß zu halten. Ich wollte wissen, wie ich mein Trinkverhalten regulieren kann – und ab wann es problematisch wird. Dafür habe ich die KR-Leser:innen in einer Umfrage um Tipps gebeten, mit einer Wissenschaftlerin gesprochen und einen Suchtberater interviewt.
In der KR-Community geht es vielen ähnlich. Karen hatte sich angewöhnt, abends ein oder zwei Gläser Wein zu trinken. „Als ich mich dann einer Freundin gegenüber im Ton vergriffen habe, habe ich einen Schlussstrich gezogen und trinke seither keinen Alkohol mehr.“ An meiner Umfrage haben fast 300 Menschen teilgenommen, mehr als die Hälfte von ihnen würde gern weniger trinken.
Mit diesem Wunsch bin ich also nicht allein. Und auch nicht mit dem frühen Alkohol-Erstkontakt. Eine KR-Leser:in hat bereits mit vier Jahren zum ersten Mal getrunken. Eine andere mit 48. Im Schnitt fingen die Leser:innen mit 14 an, Alkohol zu konsumieren. KR-Mitglied Katja schreibt: „Als ich ungefähr zwölf war, musste ich mich vehement verbal gegen meinen Großvater wehren, dass ich nicht mittrinken musste.“
Das sagt die Psychologin
Deutschland ist ein Land der Trinker:innen. Im internationalen Vergleich stehen wir regelmäßig weit vorn beim Pro-Kopf-Alkoholkonsum. Laut dem Umfrageportal Statista wurden in Deutschland im Jahr 2019 pro Kopf 12,8 Liter puren Alkohols getrunken. Damit übertraf der Alkoholkonsum in der Bundesrepublik den weltweiten Durchschnittswert von 5,8 Litern pro Kopf um mehr als das Zweifache. Irmgard Vogt ist Psychologin, Soziologin und eine der wichtigsten Suchtforscherinnen Deutschlands. Sie sagt: Das als normal empfundene Maß an Alkohol ist stark kulturell geprägt.
Im Vergleich zu anderen Süchten, Antidepressiva oder Pornographie, wisse man aber beim Alkohol ziemlich genau, wann man zu viel getrunken habe, sagt Vogt. Dann nämlich, wenn man einen Rausch hatte. Nicht jeder Rausch ist notwendigerweise nur schlecht, es komme auf die Konsequenzen und die persönliche Einschätzung an. Wer selbst das Gefühl hat, zu viel zu trinken, liege in der Regel richtig.
Um herauszufinden, wie problematisch der eigene Umgang mit Alkohol ist, könne man sich einige Fragen stellen. „Habe ich mich schon mal berauscht? Mache ich das öfter? Wo wird es kritisch? Was mache ich, wenn ich berauscht bin? Lasse ich mich da auf irgendwas ein? Werde ich aggressiv? Fange ich an, mich auf sexuelle Abenteuer einzulassen, die ich am nächsten Tag tief bereue?“
Ob der Rausch gut oder schlecht verläuft, hängt auch vom Kontext und der Motivation zum Trinken ab. Ein gewonnenes Fußballspiel ist ein durchweg positiv besetzter Anlass. Alkohol an Weihnachten hat nicht immer nur feierliche Gründe: Die einen trinken, weil sie allein sind, die anderen, um die Familie zu ertragen oder weil es zu Fest und Familie dazugehört. Weil Alkohol, wie Rauchen, u.a. eine soziale Sucht ist, ist der soziale Druck oft hoch, dass alle mittrinken. Es kann schwer sein, Alkohol abzulehnen.
Auch deshalb ist es in unserer Kultur oft schwierig, den Überblick über sein Trinkverhalten zu behalten. Was hilft? Selbstkontrolltechniken, sagt Vogt. Beispielsweise könne man sich selbst eine allgemeingültige Regel überlegen: Nur zwei Bier am Abend, nur zweimal pro Woche Alkohol oder ein Glas Wasser nach jedem Glas Wein.
Zu diesen Regeln gehöre auch Kontrolle, zum Beispiel in einem Trinktagebuch. Neben der Menge an Alkohol könne man darin auch notieren, wann und in welcher Situation und Gesellschaft man trinke. Bricht man die eigenen Regeln, wird auch das notiert. Scheitert man immer wieder, kann man nachvollziehen, welche Situationen oder Auslöser einen zurückhalten.
Ähnlich beschreibt es auch KR-Mitglied Ana: „Wenn man das Gefühl bekommt, man müsste weniger trinken, kann das darauf hindeuten, dass Alkohol irgendetwas ersetzt, was im Alltag vielleicht zu kurz kommt.“ Das könne Entspannung sein oder das Gefühl, frei zu sein. Herauszufinden, was einen trinken lasse, könne mühselig und emotional schmerzhaft sein, schreibt Ana.
Zwei Tipps gibt Suchtforscherin Vogt mir noch mit: Erst gar keinen Alkohol im Haus zu haben, um weniger in Versuchung zu kommen. Und auf Mocktails ausweichen: schicke Getränke, die keinen Alkohol enthalten. So kann man das Gefühl eines besonderen Abends genießen, ohne dabei betrunken zu werden.
Das sagt der Suchtberater
Viele Mitglieder haben mir geschrieben, dass sie nichts von solchen Tricks halten. Nur ganz aufhören, helfe. Ich will aber gar nicht auf einen Wein ab und zu verzichten, nur besser damit umgehen. Thomas Knuf ist KR-Mitglied und Suchtberater. Er ist Leiter der Suchthilfe Pankow und berät seit über 20 Jahren, die weniger trinken wollen. Knuf beruhigt mich: Nicht alles sei schwarz oder weiß.
Die Menschen, die zur Suchtberatung kommen, hätten oft unrealistische Bilder im Kopf, sagt Thomas. Sie glauben, jeglichen Konsum aufgeben zu müssen. Das schrecke viele ab. Den eigenen Konsum reduzieren zu wollen, sei ebenso legitim wie das Ziel der Abstinenz.
Zwischen Abstinenz und Abhängigkeit gibt es unterschiedliche Stufen des Konsums. Oft gehe es darum, mit sehr kleinen Schritten Einfluss zu nehmen: Später am Tag das erste Glas zu trinken, keinen Alkohol auf Vorrat zu kaufen, nicht mehr alleine zu trinken. Dafür helfe es, erreichbare Ziele zu formulieren: „Das ist immer wieder mein Credo, Frustrationserlebnisse zu vermeiden.“
Jeden Dienstag treffen sich in Thomas Knufs Beratungsstelle Menschen zur Trinkreduktionsgruppe. Mit Therapeut:innen besprechen sie ergebnisoffen, wie sie Alkohol reduzieren können, wie es ihnen damit geht und was die Schwierigkeiten sind. Besonders Menschen sind dabei, die ihren Konsum zwar kritisch sehen, aber sich nicht mit dem Label „Sucht” identifizieren oder Angst haben, ganz zum Aufhören gezwungen zu werden.
Bei Alkoholiker:innen ist der Kontrollverlust nicht so einfach in den Griff zu bekommen. Nach einigen Drinks steht die Fähigkeit aufzuhören einfach nicht mehr zur Verfügung. Da helfe dann auch ein starker Wille nicht mehr, sagt Thomas.
Mit dem Trinken von jetzt auf gleich komplett aufzuhören, birgt in diesen Fällen große Risiken. Krampfanfälle können auftreten, die Gehirnzellen zerstören und einen Sturz mit Kopfverletzung nach sich ziehen können. Hier ist ein „Runtertrinken“ auf jeden Fall vorzuziehen oder eine stationäre Entgiftung im Krankenhaus, sagt Thomas.
Auch in anderen Fällen empfehlen Expert:innen, nicht einfach aufzuhören mit dem Trinken. Bei Depressionen, Angst- und Panikattacken oder auch traumatischen Erfahrungen ist Alkoholkonsum oft Selbstmedikation.
Das sagt die Community
Viele KR-Mitglieder würden gern weniger trinken, das haben die Antworten in meiner Umfrage ergeben. Die häufigsten Gründe waren Gesundheitsbedenken und Wohlbefinden, die Angst vor Sucht sowie die Überzeugung, dass Alkohol im Grunde ein Nervengift ist. Einige Teilnehmer:innen würden gerne abnehmen, ihre Fertilität steigern, besser schlafen oder schlicht den Kater am nächsten Morgen vermeiden.
Einige Tipps der Expert:innen tauchten in den Community-Antworten wieder auf. Aber es kamen auch neue dazu. Viele Mitglieder raten zu einem bewussten Verzicht wie zum Beispiel dem „Dry January”. KR-Mitglied Jean Pierre schreibt: „Einen Monat bewusst komplett darauf verzichten, daraus sind dann von alleine zwei Monate geworden. In der Zeit habe ich mich durch alkoholfreie Alternativen durchprobiert.” Reicht ein Monat? KR-Mitglied Susanne findet sogar, man sollte so lange verzichten, bis „einen Monat lang kein drängender Wunsch nach Alkohol mehr auftaucht.“
Für Marie hat sich das soziale Leben mit dem Verzicht verändert. „Mit steigendem Alter habe ich das Interesse an den typischen Feiern verloren, an denen Alkohol im Zentrum steht.“ Stattdessen verbringe sie Zeit mit Freund:innen jetzt mit Bewegung oder Kreativität. “Das lenkt den Fokus ganz automatisch weg von dieser in Deutschland so krassen Saufkultur.“ KR-Mitglied Helge rät, sich Leidensgenossen zu suchen, die mit einem gemeinsam nicht mehr trinken.
Eine weitere Strategie: Bei der Familienfeier groß und laut verkünden, dass man nicht trinkt, um so die soziale Kontrolle für sich zu nutzen. KR-Mitglied Katja weiß, dass das auch schwierig sein kann. „Den Sekt zu besonderen Anlässen auszuschlagen ohne triftigen Grund, brachte mir mindestens komische Blicke ein.“ Eine Zeit lang erzählte Katja sogar, dass sie Medikamente nehme, nur um eine Ausrede zu haben.
Damit man gut vorbereitet ist, am besten selbst ein Softgetränk mitbringen oder immer ein Glas Wasser in der Hand haben. KR-Mitglied Noemi hat sogar die passenden Getränke zu verschiedenen Anlässen: Orangensaft beim Sektempfang, Fenchel-Schwarztee beim Raclette, leckere Sekt-Alternativen zum Anstoßen. Herbe Cocktails könne man gut durch Drinks mit Ingwer und Aperitifessig ersetzen, schreibt sie.
Einige Mitglieder empfehlen den Podcast „Ohne Alkohol mit Nathalie“, die auch ein Buch über ihr schwieriges Verhältnis zum Alkohol geschrieben hat (einen Auszug aus dem Buch könnt ihr hier lesen.
Und falls jemand noch eine Runde Motivation braucht, hier noch ein Tipp von KR-Mitglied Frederic: „Den Start nicht aufschieben, sondern gleich anfangen.“
Vielen Dank an alle KR-Leser:innen, die sich beteiligt haben:
Stephanie, Chris, Liz, Carsten, Julia, Reiner, Orlando, Anna, Lisa, Cynthia, Martina, Nina, Conny, Kai, Katharina, Cxx, Hans-Werner, Jehn, Luise, Seb, Marie, Barbara, Marek, Werner, Annika, Karin, Anna, Uta, Else, Olivia, Anne, André, Jean Pierre, Sarah, Lena, Katharina K, Fay, Susie, Rita, Fred, Alexandra, Olga, Lisa, Helene, Tini, Carmen, Etzi, Ruby, Sascha, toni, Paul K., furia rossa, Jan Logo, Manuel, Olaf, Kim, Anna, Jana, Marie, Sarah, Christian, Elisa, Philipp, Marit, Kerstin, Gilbert, Isarbel, Eva, Lydia, Stéphanie, Anja, Silke, Horst, Brit, Kolja, Carolina, Markus, Steff, Doria, Susana, Jolinda, Mia, Sven, Thomas, Silke, Ana, Barbara, Horst Dieter, Carsten, Inge, Ina, Oliver, Susanne, Christoph, Nina, Ruby, Karen, Patrick, Sarah, Tom, Barbara, Jan Wagner, Gieselher, Julia, Simone, Katharina, Wolfgang, Klaus, Petra, Volker, Anne, Carolin G., Harald, Wolliballa, dieterjosef, C., Heiko, Angela, Uschi, Robert K., Lisa, Sophie, Stefan, Martin, Daniel, Max, Hannah, Mona, Sdefam, Lara, Jan, Torsten, Yasmina, Helge, Julia, Sally, Angelika, Gesine, Anne, Matias Falk, Lisa G., Dominik, Sabrina, Angelika, Kristina, Maria, Florian, Constanze, Orso, Andrea, Sofia, Mitch, Jochen Haarnetz, Markus Hws, Lara L. Karlo (Alias), Roland Christian, Magdalena, Noemi, Paula, Marthas Madman, Marlon, Michael, Josefine, Adelheid, Armin, Claus, Chris, Frederic, Michael, Friedrich, Carina, Anonym, Maria, Clara, Christiane, Ralf, Holli, Svenja, Katharina, Dodo, Jürgen, Tina, Julia, Anja, Tobi, Katinka, Monika, Jonas, Marc, Benjamin, Isi, Juliane, Lena, Meike, Mirko, Katja, Alex, Steffen, Janne, Thomas, Conrad, Heiko, Mia Paulsen, Philipp, Joanna, Silke, Jenny, anna, Wolfgang, Markus Barthel, Thomas R., Philipp, Martin, Jan, Chris, Susanne, Conny, Aenne, Anja, Simone, Selma, Alex, Christoph U., Johanna, Cona, Susanne, Norberta, Axel Brandauer, Micha, Adele, Fritzi, Daniel, Jara, Toran, Sandy, Gerd, Ingo, Jan, Sanna, Debora, Werner, Frederike, Lena, Alex, Mel, Nina, Tante Emma, Rich, Moritz, Annie, Ilka, Günter, Jule, Fabio, Miriam, Christine N., andreas bilan, Deborah, Anne, Jakob, Günter Schütz, Simone und Francesco. Danke auch an alle, die anonym bleiben wollten aber trotzdem mitgemacht haben.
Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Christian Melchert