Martin fragt: „Darf ich Musik von Künstler:innen hören, die sich mal rassistisch, sexistisch oder sogar antisemitisch geäußert haben? So wie zum Beispiel der Rapper Kanye West, der auf Twitter ein Hakenkreuz in einem Davidstern gepostet hat?“
Gabriel antwortet: Schön, dass du fragst! Das Dürfen in deiner Frage legt nahe, dass es mittlerweile verboten sein könnte oder zumindest gesellschaftlich unmöglich. Dass man es nicht mehr macht. Du zweifelst und willst deine Playlist nicht einfach weiter durchnudeln wie bisher.
Vorab möchte ich eine grundlegende Frage abräumen: Ist jemand, der sich rassistisch/sexistisch/antisemitisch äußert, ein Rassist/Sexist/Antisemit?
Wir gehen für diesen Text davon aus, dass das so ist, zumal, wenn die Person sich wiederholt in diesem Sinne äußert. (Zur Erinnerung: Ein Antisemit ist jemand, der über einen jüdischen Menschen Urteile fällt, die nichts mit der Person zu tun haben, sondern nur auf deren Jüdischsein fußen.)
Was würde passieren, wenn du die Musik von Ye boykottierst?
Nehmen wir einmal an, es gäbe gute Gründe, künftig keine Musik mehr von Kanye West zu hören, der sich gerade übrigens Ye nennt, und du ziehst es durch: keine Konzerte mehr, aber auch kein Spotify. Und wenn ein Song von ihm im Radio läuft, schaltest du um. Was würde passieren?
Du würdest dich vielleicht besser fühlen, weil du deine Aufmerksamkeit nicht mehr jemandem zuwendest, der sie deiner Meinung nach nicht verdient hat. Du würdest nicht jedes Mal, wenn er zu hören ist, an das denken müssen, was er so von sich gibt. Du könntest auch noch einen Schritt weitergehen und bewusst Musik hören von Künstler:innen, die Ye in seinen Ausfällen anging. Du könntest deine Währung Aufmerksamkeit anders ausgeben. Ye würde es nicht bemerken, aber darauf käme es ja nicht an.
Oder doch?
Vielleicht willst du ja, dass er es bemerkt: Du erzählst deinen Freund:innen, dass du Ye boykottierst und erklärst die Gründe. Vielleicht hört die eine oder der andere dann auch auf, Ye zu hören. Machen viele mit, merkt er es vielleicht doch an einbrechenden Umsätzen. Dann würdest nicht nur du dich besser fühlen, sondern Ye sich bestraft. Das wäre theoretisch zumindest denkbar.
In der Klassik wimmelt es von Arschlöchern, die fantastische Musik geschrieben haben
Nehmen wir jetzt aber mal an, du hättest Yes Musik auf irgendeinem Datenträger abgespeichert, diese wäre damit längst bezahlt, Ye hätte also längst daran verdient. Wäre es moralisch in Ordnung, seine Musik anzuhören? Oder anders gefragt: Darf man, wenn Künstler:innen nicht noch mehr Geld durch deine Nutzung ihrer Songs scheffeln (weil du die Songs ja schon einmalig bezahlt hast), Musik von Arschlöchern hören? Ohne schlechtes Gewissen?
Werfen wir einen Blick in das Genre, in dem es nur so wimmelt vor – gelinde gesagt – problematischen Menschen mit gelinde gesagt problematischen Ansichten: der klassischen Musik.
Daniel Barenboim setzte sich für einen antisemitischen Komponisten ein
Die Diskussion um die Trennung von Werk und Künstler:in wird in der Welt der Klassik prototypisch an Richard Wagner geführt – der streng genommen gar keine klassische, sondern romantische Musik komponiert hat, aber das ist eine andere Geschichte. Wagner war glühender Antisemit, daran besteht kein Zweifel. Erst im Jahr 2001 wurde Wagners Musik erstmals in Israel öffentlich aufgeführt, über hundert Jahre nach seinem Tod und über fünfzig Jahre nach der Staatsgründung Israels. Bis dahin galt es als undenkbar, die Musik des Feindes der Juden im Staat der Juden zu spielen.
Der Dirigent, der das Tabu brach, bekam dann auch entsprechenden Ärger. Daniel Barenboim dirigierte damals die Berliner Staatskapelle in Jerusalem. Er ließ als Zugabe das eine Stück von Wagner spielen, das als Wendepunkt in der europäischen Musikgeschichte gilt: das Vorspiel der Oper „Tristan und Isolde“.
Barenboim machte sich für die Musik des Mannes stark, von dem der Autor Ludwig Marcuse schrieb, das Nazi-Regime habe „keinen größeren Ahnen und keinen vollendeteren Repräsentanten seiner Ideologie“ gehabt als ihn. Der Jerusalemer Bürgermeister kritisierte die Aufführung, das Simon-Wiesenthal-Zentrum verlangte einen Boykott Barenboims, der Leiter warf ihm „kulturelle Vergewaltigung“ vor. Der Dirigent aber jubelte Wagner dem Jerusalemer Publikum nicht einfach unter, sondern fragte, ob es das berühmte Stück Musik hören wolle. Es gab großen Applaus, aber auch vereinzelte Buhrufe. Barenboim entschied sich für die Empfindung der (gefühlten) Mehrheit – und nahm den erwartbaren Eklat in Kauf.
Wer interpretiert ein Werk und warum?
In der Frage, warum Barenboim das gemacht hat, kulminiert das Problem der Trennung von Künstler:in und Werk. Die Frage lässt sich unterschiedlich betonen, und das ist wichtig: Warum hat Barenboim das gemacht? Aber eben auch: Warum hat Barenboim das gemacht?
Heute betrachten wir eben nicht mehr nur das Werk selbst, sondern auch die Person, die es hervorgebracht hat – und die, die es interpretiert. Wir erinnern uns an das Gedicht „The Hill We Climb“, das die Autorin Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris vortrug. Die Diskussion darum, ob weiße Männer oder weiße Frauen das Werk einer Schwarzen US-Amerikanerin in andere Sprachen übersetzen könnten – oder auch: dürften – war hitzig und lang. Inhalt und Sprechende nicht mehr voneinander zu trennen, ist eine der großen ästhetischen, politischen, ethischen Wertverschiebungen der letzten Jahre. Denn man kann nun nicht nur dafür kritisiert werden, wie man sich äußert, sondern auch, worüber man sich zu äußern anmaßt. Das sind weiße Menschen nicht gewohnt, und die meisten Männer schon gar nicht. Deshalb gibt es Ärger.
Es macht einen Unterschied, wer etwas sagt oder spielt oder aufführt
Wir lernen bis hierhin: Die gleiche Sache, ausgesprochen von zwei verschiedenen Menschen, ist nicht in jedem Fall die gleiche Sache. Schwule dürfen sich gegenseitig „Schwuchteln“ nennen, Heterosexuelle dürfen Schwule nicht so nennen, wenn ihnen etwas am Anstand gelegen ist. Ein kritischer Umgang mit dem Problem kultureller Aneignung, ein Verzicht auf Praktiken wie das Blackfacing und die Vermeidung rassistischen Vokabulars sind nicht nur Beispiele für angemessene Umgangsformen, sondern auch für die zunehmende Berücksichtigung dessen, was man den „Sprechort“ nennt (eine bestimmte Musik aufzuführen, wäre in diesem Sinne auch ein „Sprechen“).
Mit dem Begriff „Sprechort“ soll verdeutlicht werden, dass es einen Wahrnehmungsraum gibt, in dem sich Sprecher:in und Zuhörer:in aufhalten und dass sich beide in diesem Raum nicht am gleichen Ort aufhalten. Die sprechende Person kann einen anderen Hintergrund haben, eine andere Herkunft, kann unter anderen Umständen sprechen und darf daher vielleicht auch andere Dinge sagen. Diese Überlegungen führen dann zu dem Schluss, dass es eben nicht das Gleiche ist, wenn zwei verschiedene Menschen das Gleiche sagen.
Dies ist, grob gesagt, eine progressive Position. Die liberale Position lautet, ebenfalls grob gesagt, dass die Handlungen und Sprechakte ohne Rückgriff auf die Person zu betrachten seien, weil ja alle Menschen gleich sind und Ideen nicht an Personen haften. Man kann sich vorstellen, dass es zwischen diesen beiden Weltsichten ordentlich kracht.
2001 in Jerusalem führte eben nicht irgendwer Wagner auf, sondern Daniel Barenboim als argentinisch-israelischer Jude, als Gründer eines Orchesters mit zu gleichen Teilen arabischen und israelischen Musiker:innen, in seinem Heimatland. Er führte Wagner auch nicht bedingungslos auf, sondern nach Rücksprache mit dem Publikum. Er führte Wagner auch nicht einfach irgendwo auf, sondern eben im Land derer, die der Komponist für „den geborenen Feind der Menschheit und alles Edlen in ihr“ hielt. Und er führte nicht irgendein Stück von Wagner auf, sondern einen kurzen Ausschnitt aus der Oper, in der der eine Akkord vorkommt, der die Musikgeschichte verändern sollte: der Tristan-Akkord. Leider war sein Erfinder Antisemit.
Wagner gilt manchen als der Vorreiter des Kinos
Jetzt könnte man sagen, ja nun, ein Akkord, darauf kann man vielleicht verzichten. Aber auf Wagners Konto gehen noch ein paar weitere Erfindungen, auf die weit weniger Menschen zu verzichten bereit wären. Das Kino zum Beispiel.
Thierry Chervel schreibt, die Oper sei der eigentliche Vorläufer des Kinos – und ganz speziell die Opern Wagners. Die Spektakel-Ästhetik, bei der das Orchester in einem Graben versteckt wird und das Publikum eng beisammen sitzt, im Dunkeln und mit dem Blick auf die Bühne gerichtet, all dies sind Erfindungen Wagners. Frühere Konzertsäle dienten viel stärker dem Repräsentationsbedürfnis des Publikums, das genauso gut ausgeleuchtet war wie die Musizierenden. Damit machte Wagner Schluss: Es ging um die Show auf der Bühne, seine Show. Mit seiner Musik und seinen Texten.
Wagners Innovationskraft wird ihm sogar von seinen ärgsten Kritiker:innen zugestanden. Und das ist sicher auch ein Grund, warum die ästhetisch-ethische Güterabwägung immer wieder zu seinen Gunsten ausfällt. Wagner wird aufgeführt, aber eben kritisch. Und dabei sind die Inszenierungen, die Wagners Figuren mit Hakenkreuzbinden auftreten lassen, noch die schlichteren Auseinandersetzungen. Adrian Daub schreibt: „Wagner ist seit Langem, und ganz zu Recht, gecancelt. Und ist als Gecancelter ungleich produktiver denn als Säulenheiliger.“
Das ist es eben: Kunstschaffende können sich an Wagner abarbeiten. Ob es lohnenswert ist, sich an Ye abzuarbeiten, kann ich nicht beurteilen, weshalb ich mich einer Meinungsäußerung enthalte. Außerdem war das ja auch gar nicht deine Frage.
Beim Musikhören mit anderen ist Rücksichtnahme gefragt
Für dich persönlich, Martin, scheint es bei deinem Problem um eine ästhetisch-psychologische Frage zu gehen: Du kannst dir die Musik problematischer Menschen privat anhören, wenn du es denn noch kannst. Denn tatsächlich ist es beim privaten Zuhören weniger eine Frage des Dürfens als eine des Könnens. Kannst du Ye noch hören, ohne an das Hakenkreuz zu denken, das er gepostet hat? Und an den Tweet, in dem er „death con 3 against JEWISH PEOPLE“ verspricht? (Was immer diese Verballhornung des US-Verteidigungszustands DEFCON genau zu bedeuten hat, aber etwas Nettes ist es sicher nicht.)
Denn man kann ja nicht hinter das zurück, was man nun mal weiß. Die Situation verändert sich, wenn das Anhören in der Öffentlichkeit stattfindet, wenn es also genau genommen ein Vorführen oder Aufführen ist. Dann sind wir wieder in der Situation mit den Sprechorten.
Stell dir vor, du hast jüdische Freund:innen zu Gast. Würdest du Ye spielen? Wenn du ein halbwegs sensibler Gastgeber bist, würdest du es in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen wohl sein lassen. (Kompliziert wird es, wenn du selber Jude bist, aber so ist das mit der Sprechort-Metaphysik.) Man kann guten Gewissens sagen, dass das Nichtaufführen von Ye (oder Wagner!) eine Frage der Etikette ist: Es gehört jetzt zum Kanon des guten Benehmens, dass wir niemanden einfach so mit der Musik von Antisemiten behelligen. (Es kann angemessene Aufführungen geben, aber man muss sich entscheiden dürfen, sie zu besuchen. Sie werden einem nicht – wie Musik, die im Hintergrund läuft – aufgezwungen.)
Lieber Martin, du hattest gefragt: „Darf ich Musik von Künstler:innen hören, die sich mal rassistisch, sexistisch oder sogar antisemitisch geäußert haben?“ Die besseren Fragen lauten: „Will ich diese Musik noch hören? Und wie steht es um die Menschen, die mithören?“ Denn beim Musikhören in Anwesenheit anderer ist Rücksichtnahme gefragt. Und im Wissen um die mittlerweile sehr bekannte Vorgeschichte eines problematischen Künstlers umso mehr.
Ein Teil dieses Textes ist bereits in Gabriels Newsletter Schleichwege zur Klassik erschienen.
Redaktion: Julia Kopatzki, Esther Göbel, Illustration: Karina Tungari, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger