Bald ist Weihnachten, eigentlich eine Zeit des Friedens. In vielen Familien geht der Streit aber schon Monate zuvor los. Am Telefon oder im Familienchat: Warum müssen wir für dich immer vegane Gans kochen? Was, du kommst schon wieder allein, ohne Partner:in? Und du kommst erst am 24. an? Spätestens Heiligabend geht es dann an die harten Themen: Lebensentscheidungen, politische Differenzen – und der Streit vom vergangenen Jahr wird natürlich auch nochmal aufgerollt.
Warum ist es oft schwierig, sich als Erwachsene mit seinen Geschwistern und seiner Familie gut zu verstehen, fragt sich ein KR-Mitglied, das seinen Namen bei diesem heiklen Thema lieber nicht verraten will. Unsere Leserin ist aber nicht allein mit ihrem Problem; den Frieden an den Feiertagen zu bewahren, ist keine einfache Sache. Das schreibt auch Conny aus der KR-Community: „Meine einzige Strategie für Weihnachten ist einfach nur durchhalten, möglichst wenig mit irgendjemanden in Konflikt gehen.“
Für euch – und ehrlich gesagt auch für mich – habe ich mich also der Frage gewidmet: Wie übersteht man die Feiertage, ohne sich mit der Familie zu streiten?
Als die Kollegin aus der KR-Redaktion mir dieses Thema vorschlug, habe ich gelacht. Mein erster Gedanke war, dass die Lösung des Problems doch ganz einfach ist: Alkohol! Andererseits wissen wir: In der richtigen Menge kann Alkohol helfen. Aber ab einem gewissen Pegel kann er Streit eher begünstigen, als verhindern. Gin Tonic übrigens eher als Bier, behauptet eine Studie.
Ein paar Gläser Rotwein machen die Familie erträglich, könnte man also sagen. Da ich beruflich aber Artikel schreibe und keine Sprüche für Glückskekse, recherchierte ich weiter. Ich habe mit einer Mediatorin und einem Psychologen gesprochen und Erfahrungen aus der KR-Community gesammelt. In diesem Text erfahrt ihr, warum die Weihnachtszeit so herausfordernd sein kann und welche Strategien die Leber nicht gefährden.
Warum ausgerechnet an Weihnachten? Das sagt der Psychologe
Schon als Kinder sind wir mit dem Narrativ aufgewachsen, dass Weihnachten das Fest der Familie ist: Drei Tage, an denen wir uns gegenseitig liebhaben. Und damit fangen die Probleme schon an, meint der Psychologe Siegfried Preiser, Rektor der Psychologischen Hochschule Berlin.
Preiser sagt, die hohen Erwartungen an den Feiertagen schaffen einen hoch aufgeladenen emotionalen Zustand, der ein fruchtbarer Boden für Streit ist. Vor allem wenn diese Erwartungen unbefriedigt bleiben. Und das bleiben sie immer, denn sie zielen an sich auf eine unrealistische Perfektion. „Dann reicht es schon, dass der oder die Partner:in die falsche Sauce fürs Abendessen eingekauft hat, um die perfekte Vorstellung zu zerstören und einen Streit auszulösen“, sagt Preiser.
Dazu kommt der Jahresendstress. Persönliche Bilanzen und berufliche Fristen fallen zusammen. Man ist müde, hat in den vergangenen Wochen viel gekämpft und möchte sich einfach gerne in die Arme der Liebsten fallen lassen, sagt Preiser. Nun besteht dieser Kreis, in dem man sich so gerne geborgen fühlen möchte, aber oft aus Menschen, die man sonst das ganze Jahr kaum sieht. Mit denen teilt man einen gemeinsamen Nenner, den Familiennamen, der aber nichts zu tun hat mit Interessen, Lebensentscheidungen und politischen Ansichten.
Ist also alles verloren? Nein, sagt Preiser. Er feiert gern mit seiner Familie und hat mir drei Tipps dafür verraten.
1. Mit der Tradition brechen
Preiser empfiehlt, im Voraus den Ablauf der Feiertage mit den Familienmitgliedern zu besprechen. Das kann den Druck vermindern. Dabei hilft es, offen über eigene Vorstellungen zu reden und den alten Mustern nicht um jeden Preis folgen zu wollen: Mit einer gewissen Spontanität ins Gespräch zu gehen und sich von möglichen neuen Ritualen überzeugen zu lassen, sei wichtig, sagt Preiser.
Der Psychologe erzählt von einem Weihnachten, in dem seine Familie den Heiligabend gemeinsam beim Plätzchenbacken in der Küche verbracht hat. Das feierliche Essen wurde auf den Tag danach verschoben. „Mit diesem ungewöhnlichen Ablauf sind wir dem Stress entkommen, dass alles schon von Anfang an fertig und perfekt ist.“
Preiser rät, auch in die Gestaltung der Räume Neues einzubringen. Es reiche schon, die Sessel anders hinzustellen, so dass der Raum an sich die Situation verändert. Das ritualisierte Streitgespräch zwischen Sofa und Esstisch kann man damit vielleicht schon vermeiden.
2. Handy ausschalten, Käse schmelzen
Das Erbe, die heimliche Geliebte, die Pflege der Großeltern: Solche Tabus gibt es in jeder Familie. Preiser rät, sie einfach vor der Tür zu lassen, um eine erste Quelle für unangenehme Diskussionen auszutrocknen. Außerdem würden die Gespräche besser werden, wenn man einer einfachen Regel folge: Handy weg vom Esstisch. Wenn kein digitales Gerät dazwischen liegt, liegt die Aufmerksamkeit ganz bei den Gesprächspartner:innen, die sich damit wertgeschätzt fühlen, meint der Psychologe.
Aber was ist mit Teenager:innen, die oft wie festgetackert sind an ihr Handy? „Bei pubertären Kindern sollte man sich die Zeit nehmen, um das Prinzip zu erklären, und bereit sein zuzuhören und andere Wünsche entgegenzunehmen.“ Um die Situation dann aufzulockern, hilft es, wenn man trotzdem etwas mit den Händen zu tun hat. „Es gibt Essformen, die ganz gut passen, wie zum Beispiel Raclette oder Fondue“, sagt Preiser. „Da hat man eine minimale Beschäftigung, die mit Unterhaltung gut zusammenpasst, aber mit keinem zu ernsten Thema.“
3. Rückzug ermöglichen
Vom Esstisch direkt weiter zum gemeinsamen Kaffeetrinken und dann schnell Geschenke auspacken, bevor der Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ anfängt? Lieber nicht. Ein zu ambitionierter Plan für die Feiertage macht das Gruppengefühl eher angestrengt als entspannt. „Zu einer entspannten Atmosphäre gehört, dass man auch allein an die frische Luft gehen oder sich nach der Mühe der Küchenarbeit hinlegen kann“, sagt Preiser. Gleichzeitig rät der Psychologe, bei gemeinsamen Tätigkeiten aufzupassen, dass sich niemand dazu verpflichtet fühlt: „Man kann zum Beispiel ein Gesellschaftsspiel in einem separaten Raum einrichten, so dass sich die weniger spielfreudigen Menschen nicht davon gestört fühlen.“
Das „VW-Prinzip“ anwenden: Das sagt die Mediatorin
Schon vor den Feiertagen kann die Kommunikation mit der Familie herausfordernd sein. Manchmal reicht eine Frage, um Streit auszulösen – vor allem, wenn diese nach einem Vorwurf klingt. Also wenn Mama fragt: Warum fährst du schon am 25. wieder?
Eine perfekte Gelegenheit, um das „VW-Prinzip“ anzuwenden, findet die Mediatorin Zoe Schlär. Sie ist Leiterin der Fachgruppe für Familie im Bundesverband Mediation. „Hinter jedem Vorwurf steckt ein Wunsch, in diesem Fall: mehr Zeit zusammen verbringen“, sagt Schlär.
Sie empfiehlt, immer zu versuchen, den versteckten Wunsch zu verstehen: „Von einem Vorwurf geht man sofort in die Konfrontation, von einem Wunsch ins Gespräch.“ Am Ende des Gesprächs können Meinungen trotzdem unterschiedlich bleiben. Aber man könne trotzdem Verständnis für die andere Person äußern, sagt Schlär.
Dazu hat die Mediatorin drei Tipps:
1. Zusammen kochen
Glutenfrei, vegan, kohlenhydratarm, vegetarisch, laktosefrei, bio: Sich mit allen auf dasselbe Menü zu einigen, kann sehr kompliziert sein. Unnötiger Stress, sagt Schär. „Meine Mutter möchte ausschließlich Bio-Essen, mein Bruder isst nur Fleisch und mein Sohn ist vegan: Wir kochen alle gemeinsam und am Ende stehen ganz viele Töpfe auf dem Tisch.“ Das Vorbereiten des Weihnachtsessens wird so zum gemeinsamen Programmpunkt, bei dem einzelne Wünsche wahrgenommen werden. Durch die unterschiedlichen Aufgaben fühlen sich alle eingebunden. Am besten mit einer Weihnachtsplaylist im Hintergrund.
2. An die frische Luft
Geht mit Dauerregen nicht, aber ansonsten ist es ziemlich egal, was für ein Wetter herrscht: Ein gemeinsamer Spaziergang ist immer eine gute Idee, findet Zoe Schlär. Nach mehreren Stunden zusammen in denselben Räumen sorgen Bewegung und frische Luft für ein gutes Körpergefühl. Gleichzeitig hat die Familie eine verbindende Erfahrung: „Man unterhält sich in kleineren Gruppen und geht gemeinsam in dieselbe Richtung“, sagt Schlär. Zur Kirche, zum Weihnachtsmarkt oder durch den Wald spazieren, wohin, ist für Schlär unwichtig.
3. Der gute alte Wunschzettel
Niemand packt ein Geschenk ein, um jemand anderen unzufrieden zu machen. Trotzdem kann das vorkommen, wenn Erwartungen nicht vorher kommuniziert werden. „Der gute alte Wunschzettel hat schon Sinn“, sagt die Mediatorin.
Natürlich können die Erwachsenen sich auch darauf einigen, nur die Kleinen der Familie zu beschenken. „Am besten bespricht man das im Voraus und hält sich daran“, so Schlär. Die Tante, die dann doch ein paar Kleinigkeiten mitbringt, kann unabsichtlich Schuldgefühle in anderen erzeugen. Selbst das muss aber kein Grund für Streit sein. Schlär schlägt vor, einfach trotzdem Danke zu sagen.
Erfahrungen aus der Community: Das sagen KR-Mitglieder
KR-Mitglied Joey hat sich für eine radikale Lösung entschieden und feiert nicht mehr mit der Familie. Für KR-Mitglied Nils geht es vor allem um Timing: Er plant immer maximal drei Tage bei den Verwandten ein und setzt auf seine Meditationserfahrung, um sich von blöden Kommentaren nicht berühren zu lassen. KR-Mitglied Conny hofft auf Schnee. Sie mag es, aus der Küche direkt fliehen zu können und sich mit dem Bauen eines Schneemanns zu beschäftigen.
KR-Mitglied Gabriele hat dagegen vor einigen Jahren einen offenen Brief an ihre Söhne geschrieben und sich explizit gewünscht, mit den alten Mustern zu brechen und offen über die eigenen Wünsche zu sprechen. Das hat geklappt: Sie feiert seitdem glücklich in unterschiedlichen Konstellationen, mit Freund:innen und Familie.
Die Exitstrategie
Was aber tun, wenn es trotz aller Mühe doch zum Streit kommt? In diesem Fall sollte man sich physisch aus der Konfliktsituation entfernen. Darüber sind sich meine Gesprächspartner:innen einig. Als Erstes sollte man mit sogenannten „Ich-Aussagen“ sein eigenes Unwohl in der Situation kommunizieren, etwa: „Ich halte es hier nicht aus.“
Dann für einige Minute den Raum verlassen, am besten kurz draußen abkühlen. Danach kann man neu in die Situation gehen und die streitenden Gäste bitten, ihre Unstimmigkeiten ein anderes Mal zu klären. An den 364 Tagen zum Beispiel, die nicht Weihnachten sind.
Mit bestem Dank an alle KR-Mitglieder, die sich beteiligt haben: Nils, Joe, Gabriele und Conny.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger